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2. Patentjagd im Hochgebirge

Nach dem Gespräch mit Annette erfragte ich bei der Auskunft die Telefonnummer des Internates, wählte es an und hatte auch schon Glück. Das Sekretariat war besetzt, und meine allerdings nicht präzise Andeutung, es gehe um die Schulleistungen meines Neffen – schon wieder eine Halblüge, die mir beinahe gedankenlos über die Lippen kam –, hatte zur Folge, dass ich auch die Nummer von Reto Oggier, «unserem Zoologie- und Biologielehrer», problemlos erhielt. Die Sekretärin fügte ungefragt hinzu, dass er jeden zweiten Samstagvormittag frei habe, das heisst, heute im Prinzip auch erreichbar wäre, sie aber nicht wisse, ob dies heute möglich sei, da er monatlich einmal seine behinderte Tochter aus erster Ehe in einem Heim in Chur besuche. Aber vielleicht hätte ich ja Glück – und seine Frau sei um diese Zeit wahrscheinlich auch zuhause.

Ich fand das alles etwas geschwätzig, harrte aber aus Höflichkeit aus, bedankte mich dann und wollte ihn sogleich anrufen. Ich hielt jedoch inne, gebremst durch die Überlegung, dass dieser Reto Oggier besser nicht mit Halblügen abzuspeisen sei, denn zum einen sind Klassentreffen im Internat meist bekannt, und zum andern würde mein Anruf sicher zwischen Lento und ihm besprochen werden.

Jetzt war es elf Uhr und damit eine gute Zeit für einen Anruf, sofern er eben nicht ausser Haus war. Doch ich hatte auch diesmal Glück, er war gleich selbst am Apparat:

«Oggier hier.»

«Guten Tag. Hier Wyl, Fritz Wyl. Ich bin von Ihrer Frau Mutter an Sie verwiesen worden.»

«Sie hat mich bereits angerufen; Sie möchten mit Lento sprechen?»

«Ja, richtig, ich bin ein ehemaliger Internatsfreund Ihres Bruders, und mir fehlt seine Anschrift, seine Telefonnummer …» «Es gibt auch keine, Lento ist seit vielen, vielen Jahren tot.»

Peinliche Stille … Irgendwie hatte ich es ja geahnt, Lento war eben irgendwie gefährdet – etwas ichbezogen, dachte ich weiter –, ohne mich, seinen Pilotfisch, zu direkt und zu hart am Wind des Lebens, um sich alle Möglichkeiten von Risiken und Gefahren vorzustellen: Lento konnte meiner Meinung nach nur verunfallt sein.

«Das tut mir leid, sehr leid sogar. Wann war das? Ich nehme an, es war ein Unfall?»

«Es muss Ihnen nicht leid tun. Es ist lange her. Es war kurz nach seinem 21. Geburtstag, im Jahr 1962, auf einem Urlaub von der Rekrutenschule.»

Mit einundzwanzig erst in der Rekrutenschule? Ja richtig, Lento war ein Jahr älter, denn er musste eine Klasse wiederholen, ihm fielen die Sprachen, auch das Deutsch, ungeheuer schwer, wie er sich überhaupt besser mit anderen Mitteln als der Sprache ausdrücken konnte. So vermittelte er Wärme und Schutz, ja, eigentliche Geborgenheit – etwas sehr Seltenes im Internat und vielleicht der entscheidende Mangel dieser Erziehungsart –, derer ich wahrscheinlich noch mehr bedurfte, weil sie mir zu Hause vollständig fehlte. Nach der Scheidung durfte ich Vater nur einmal pro Woche sehen, und meine Mutter konnte sich in den ersten Jahren nach der Trennung kaum erholen und pflegte daher ohne Unterlass ihren Scheidungsschmerz. Für mehr als Geld- und Schulgespräche war da in ihrem Redefluss der Trümmer- oder Trauerarbeit, wie man heute sagen würde, wenig Platz. Lento … Lento … lieber Lento, ich vermisse dich, so wie du warst!

«Sind Sie noch da?»

Dies war Reto Oggier, der Lehrer, und ich wusste natürlich nicht, wie lange ich geistig abwesend war, denn tatsächlich hatte mich die Nachricht getroffen. Durch das Hünger-Inserat wurde eben einiges wieder wach.

«Ja, wissen Sie, Ihr Bruder hat mir seinerzeit viel bedeutet, obwohl er das vielleicht nicht einmal wusste. Wir waren nicht eigentlich befreundet im Sinne des Sorgen- und Freuden-Teilens. Auch waren wir nicht Budenkameraden im Talinternat. Aber in gewissen Momenten, damals wichtigen Momenten, konnte ich ganz auf ihn zählen. Wenn ich sage, dass es mir leid tut … ist das eher untertrieben … es tut mir weh!»

Ich wusste nicht, was mich zu dieser freimütigen Rede anheben liess. Aber irgendwie traf mich die Nachricht von Lentos Tod schon, und mochte es gut zwanzig Jahre her sein, für mich war es neu, und Tod konnte ich bisher mit meiner Internatsvergangenheit nicht verbinden. Heute aber musste ich es schon zum zweiten Mal.

«Es war, wie Sie sich denken können, ein Unfall, ein Jagdunfall … in den Bergen, und zwar in der Nähe des Piz d’Err. Erster Jagdtag, Sie wissen ja, was das im Engadin bedeutet. Ein Sonntag war’s. Doch liess Lento es sich nicht nehmen, noch am Samstagnachmittag in Uniform, gleich nach seiner Ankunft hochzusteigen – auf eine Gämse aus. Was erzähl ich da … Wissen Sie, der Unfall ist lange her und bis heute auch nicht ganz geklärt. Aber ich nehme an, Sie sind an Details kaum interessiert.»

Das war ich durchaus, konnte ihn aber aus Anstand nicht drängen.

«Natürlich. Allerdings hätte ich gerne mehr gewusst … es hilft einem schon.»

«Aber etwas spät, mit Verlaub. Wenn Sie sein Freund gewesen sind, hätten wir ja vielleicht früher etwas von Ihnen gehört. Was war es denn, was Sie mit ihm besprechen wollten?» Das klang jetzt schon beinahe aggressiv. So nicht. Besser gleich beenden:

«Ach, das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Vielen Dank für Ihre Auskunft. Wenn ich einmal in der Gegend bin, darf ich mich bei Ihnen melden? Ich würde trotz allem gerne noch einmal mit Ihnen über Lento sprechen.»

«Wenn Sie in der Gegend sind … gerne!»

«Danke, und auf Wiedersehen!»

«Auf Wiedersehen!»

Das war’s. Lento tot, seit mehr als zwanzig Jahren, verunfallt … verunfallt? Was hat er gesagt, ein Unfall, der bis heute nicht ganz geklärt ist. Nicht geklärt ist? Dies interessierte mich. Warum, wusste ich im Grunde auch nicht, aber, und dies wurde mir immer klarer, die Hünger-Geschichte begann etwas in mir zu verändern. Da war eine Schicht aufgebrochen, und längst Vergessenes, Abgelegtes, im heutigen Lebensalltag völlig Unbedeutendes – denn da gab es doch ganz andere Seelenstürme, die kürzer zurücklagen und deren Wogen noch nachbebten – drängte hoch und begann mich seit knapp zwei Stunden zu überschwemmen: Das hatte sie nun erreicht, die Maria Hünger, mit ihrer Todeskampagne im Schweizer Blätterwald.

Die zeitliche Distanz zu meiner Internatszeit löste sich auf, und der Tod Lentos, die mir nicht erinnerbare, aber hinter mir lauernde Geschichte um Hünger, dehnte und spreizte sich in meinem Kopf, als ob alles gestern gewesen und morgen von Bedeutung sein könnte. Allerdings, das zu meiner Entschuldigung, sofern ich gegenüber jemandem eine brauche, das von der zeitlichen Distanz ist letztlich auch nur ein Konstrukt. Natürlich sind so und so viele Jahre ins Land gegangen. Aber ich lebe in der Gegenwart, und alle meine persönlichen Vergangenheiten sind mir nicht mit einem numerischen Massstab in Zeiteinheiten gemessen, wie eine Kette aufgereiht, entfernt, sozusagen perspektivisch, das was am weitesten zurückliegt, ist auch am kleinsten.

Nein, Vergangenheit im Persönlichen existiert für mich nicht zeitlich, sondern in Bruchstücken der aktuellen Erinnerung von Ereignissen, die ich abgespeichert habe oder eben speichern wollte und die gleichzeitig und gleichwertig abrufbar sind, unabhängig von ihrem Datum und ihrer Chronologie. Vergangenheit in mir bedeutet für mich insoweit etwas, als sie auch erinnerbar ist, und wird sie abgerufen, dann ist sie wieder total im Jetzt, wenigstens in meinem geistigen Jetzt. Das mag konfus scheinen, ist es aber weit weniger, als man denkt, denn es lässt sich damit leben – wie mit andern Halbwahrheiten und Halblügen auch.

Wie dem auch sei, mich interessierte der ganze Hünger-Komplex nun derart, als ob es sich hier um eine wichtige Berufsfrage oder um eine dieser «psychischen Entscheidungssituationen» handelte, in die mich Annette zeitweise hineinmanipulierte. Nur deshalb beschloss ich etwas zu tun, das ich in meiner «Normalbefindlichkeit», gemeint ist das leicht einschränkende Bewusstsein des Status und Rollenlebens eines Arrivierten – Leiter und Inhaber einer PR-Agentur – und der damit verbundenen Distanz zur Jugendzeit, kaum getan hätte: Ich wollte sofort Klara Steffen, die Englischlehrerin, anrufen und sie über Lentos Tod und auch über Hünger ausfragen.

Dies war aus drei Gründen problematisch: Erstens war Klara Steffen schon zu meiner Internatszeit respektgebietend und über allen Klatsch erhaben, zweitens hatte sie einen messerscharfen Verstand und würde sicher auch Gegenfragen stellen, was wiederum zu Situationen führen könnte, die ich – mangels Erinnerung – nicht ohne weiteres meistern könnte; und drittens musste sie heute weit über siebzig Jahre alt sein – wenn sie überhaupt noch lebte. Allerdings war sie stets über alles bestens informiert und hatte zudem ein Gedächtnis wie ein Elefant. Wenn sie wollte, könnte sie mir sicher am besten Auskunft geben. Auch hatte ich mich ja bei ihr hin und wieder kurz gemeldet, wie vor einigen Jahren eben mit dem Osterei und dem Kartengruss. Sie wusste sicher noch, wer ich war, und ich hatte insofern ihr Vertrauen. Ihre Rufnummer war kein Problem, wohnte sie doch seit jeher im eigenen Haus. Ich wählte an, und schon – das Telefon ist die erstaunlichste Erfindung dieses Jahrhunderts – waren beinahe 25 Jahre überbrückt: Klar und deutlich in ihrer unverkennbar etwas schnarrigen Stimme meldete sie sich.

«Klara Steffen. Was wollen Sie?»

«Guten Tag, Frau Steffen, hier spricht Fritz Wyl, Ihr ehemaliger Schüler, erinnern Sie sich? Guten Tag, Frau Steffen, wie geht es Ihnen?»

«Und ob ich mich erinnere. Aber nicht nur an Gutes! Es geht, danke für das Schokoladen-Osterei. Du solltest jeweils die Absenderadresse vermerken, aber du bist offensichtlich immer noch gleich oberflächlich wie früher.»

Hoppla, das ging ja rasant in die Vergangenheit zurück: Ich, beinahe schüchtern, in respektvollem Ton, und sie, wie eh und je, respektgebietend und vor allem immer noch mit dem Lehrer-Schüler-Du. Letzteres könnte allerdings auch mit ihrem Alter zusammenhängen. Sofern sie teilweise in der Vergangenheit lebt, bin ich eben ein Teil der damaligen Zeit, und warum sollte sie auch diese Angewohnheit aufgeben?

«Was willst du?»

«Liebe Frau Steffen, ich habe zwei Anliegen, zwei Fragen, ehemalige Internatsschüler meines Jahrgangs betreffend, und da ich niemanden kenne oder erreichen kann, der so gut Bescheid weiss und immer so exakt in der Erinnerung ist, weder über-noch untertreibt wie Sie, eben Ihre genaue Art besitzt (ich brachte es sehr dick), habe ich an Sie gedacht, Frau Steffen.»

«Das ist schön von dir, dass du dich wenigstens in dieser Hinsicht meiner erinnerst, mit deinem Englisch wirst du wahrscheinlich weniger Grund haben.»

Sie war bereits wesentlich milder gestimmt, wobei sie aber wegen meines heutigen Englisch unrecht hatte: Tatsächlich war ich seinerzeit eher schwach, habe es aber durch meine internationalen beruflichen Kontakte inzwischen zu einem leidlichen Standard gebracht, allerdings nur mündlich.

«Also, die zwei Fragen, Fritz!»

«Lento Oggier, mögen Sie sich an ihn erinnern?»

«Und ob, wenn er nicht gestorben wäre, hätte ich noch einiges beizufügen. De mortuis nihil nisi bene!»

Das war mir klar: Obwohl beide Bergler waren, verstanden sie sich gar nicht, vor allem aber nicht auf Englisch. Und da Lento in Sprachen hoffnungslos untalentiert war und durch seine wilden Aktivitäten, die zwar nicht bei uns, aber bei den Lehrern als absolut suspekt galten, war er in ihren Augen ganz einfach faul – so ungefähr das Schlimmste, was man bei ihr nicht sein durfte –, wie mir die Erinnerung plötzlich wieder eingab.

«Was ist mit ihm?»

«Ja eben, sein Tod, der Jagdunfall, ich habe erst kürzlich davon gehört, nichts Genaues, und mich würde interessieren, wie es geschah. Immerhin war er so etwas wie mein Freund im Internat.»

«Dass du das fragst? Aber wenn es dir hilft …»

Wie meinte sie das? Warum ich?

«Das war vor dem ersten Jagdtag, an einem Samstag, einem klaren Herbsttag, mit wenig Wind und auch am Nachmittag noch recht warm. Übrigens, im Jahr nach eurem Abschluss während seiner und wahrscheinlich auch deiner Rekrutenschule. Du kanntest ja Lento, für ihn gab es kein schlimmeres Fieber als das Jagdfieber. Er zog sich nicht einmal um, holte zu Hause nur Rucksack und Gewehr und ging hinauf zum Piz d’Err. Wir sahen ihn alle, weil er noch in unser Dorf kam, um seine Mutter, seinen Vater und seinen Bruder zu grüssen, die an der Beerdigung einer nahen Verwandten teilnahmen, und die Hälfte sowohl des Dorfes hier wie des seinen war anwesend. Er fiel deshalb auf, weil ihn nichts zum Bleiben veranlassen konnte. Ehrlicherweise muss man aber zugeben, dass die andere Hälfte der beiden Dörfer – ich meine natürlich die Einheimischen – bereits zur Jagd aufgestiegen war. Aber wie gesagt, sie waren eng verwandt, und das Glück war dann auch nicht mit ihm. Es gelang nie, den Hergang des Unfalls ganz zu rekonstruieren, ja, es gibt wahrscheinlich deshalb auch eine andere, nicht offizielle Variante, die sich hartnäckig hält. Willst du es überhaupt so genau wissen?»

«Ja gerne, wenn es nicht zu viel für Sie ist, Frau Steffen.»

«Da hast du recht. Also machen wir’s kurz. Er stieg an diesem Tag noch bis in die Jenatschhütte, wo er mit einigen anderen übernachtete. Am nächsten Morgen, etwa um vier Uhr, zog er aber alleine los, nicht zum Piz d’Err, etwas mehr südlich, auf der anderen Seite, und dort fand man ihn auch am späten Vormittag, von einem Felsbändchen abgestürzt, das heisst etwa 150 Meter tiefer am Fuss der Felswand, im Geröll. Allerdings galt die Stelle nicht als schwierig – schon gar nicht für einen Lento Oggier. Er war tot, als man ihn fand, halt so ziemlich zerschmettert. Und nun kommt das Besondere: Einer der Jäger, die ihn fanden, behauptete später und noch heute, eine der Verletzungen am Bein sei keine Sturz-, sondern eine Schussverletzung gewesen. Warum man diesem Vorwurf nicht nachging, ist schwer zu sagen; vielleicht, weil er wenig wahrscheinlich schien oder Selbstunfälle – auch Schiessunfälle – gerade am ersten Tag der Jagd nicht selten sind; oder wegen der Eltern und seinem Bruder, der am Sonntag auch jagte und dann bei der Bergung der Leiche mithalf, oder der etwas provinziellen Polizei wegen und weil wir hier immer noch unter uns sind. Jedenfalls wurde nichts unternommen. Und als das Gerücht schliesslich zum Handeln gezwungen hätte, war es zum Nachweis bereits zu spät. Lento wurde nämlich kremiert, was hier eher selten, aber möglich ist.

So, jetzt weisst du’s. Was die Leute bewegte, war, ob es ein Unfall war, oder ob er sich selbst mit dem Gewehr verletzte, oder ob er gar von einem andern Jäger angeschossen und eben erst dann gefallen war, und wenn letzteres, warum und von wem. Es waren beinahe fünfzehn andere Jäger und dazu noch Wanderer in der Gegend – die Patentjagd wurde am 9. September wie üblich eröffnet, und es war ein schönes Herbstwochenende. Aber nun, lieber Fritz, das war etwas viel. Es reicht mir für heute.»

«Vielen Dank, Frau Steffen, aber noch kurz zu meinem zweiten Anliegen.»

«Gut, Fritz, aber bitte kurz.»

«Hünger, Johnny Hünger, ich erinnere mich nicht mehr, was war mit ihm?»

Stille … einfach Stille. Ich räusperte mich.

«Haben Sie mich verstanden?»

Und da fiel Klara Steffen, meine ehemalige Englischlehrerin, sozusagen durchs Telefon über mich her:

«Was willst du …, dass du es wagst, nach Hünger zu fragen, gerade du und gerade jetzt – nachdem wir diese Geschichte alle vergessen wollten. Schluss jetzt. Ich möchte von dir nichts mehr hören.»

Und aufgehängt, und wieder hörte ich nur noch das Summen am Ohr, wie heute bereits einmal.

Da sass ich nun mit meinen Gedanken in die bisherigen Geschehnisse dieses Morgens verkrallt. Sie drehten und wendeten sich im Grunde um zwei Fragen hin und her: Was war mit Hünger? Was war mit Lento? Die zweite Frage beschäftigte mich allerdings zunächst mehr: Lento, ein ehemaliger Freund von mir, ein Stück meiner Vergangenheit, war unmittelbar nach der Internatszeit zu Tode gekommen. Dieser Tod löste bei mir echte Trauer aus, und irgendwie kann ich Trauer nicht einfach so hinnehmen, sondern suche Erklärungen, die mich nun intensiv nachdenken liessen.

Die Hünger-Geschichte trat dabei etwas in den Hintergrund, umso mehr als alles in seinem Zusammenhang irgendwie störend, ja eigentlich unangenehm wirkte, wobei mir insbesondere die harsche, mir etwas unverständliche Reaktion Klara Steffens zu denken gab. Mag sein, dass ich da auch ganz bewusst weiterhin etwas unterdrückte, weil ich von der Aufklärung dieser Geschichte eben nichts Angenehmes erwartete und der Tod Lentos mir ganz einfach näher lag.

Ich begann aufgrund meines Wissensstandes um den Unfall und Lento zu tagträumen – wie es wohl gewesen sein könnte, wobei dieser Tagtraum mit der Zeit Ähnlichkeiten mit einem Heimatfilm entwickelte. Ich stellte mir vor, wie Lento an jenem Samstag verschwitzt in der Jenatsch-Hütte eintraf, seinen Rucksack und das Gewehr, seine Uniformjacke und Mütze niederlegte und vielleicht sogar ohne Rast und nur mit dem Feldstecher bewaffnet weiterschritt, sich nun leichter fühlend. Nicht weit von der Hütte entfernt, aber nicht beobachtbar, wird er sich an einen Felsen angelehnt haben, um dann ruhig nach irgendeinem, nur ihm bekannten System die umliegenden Berge, insbesondere die weniger steilen Felspartien, die mit Felsenbändchen oder gar eigentlichen Vegetationsflächen durchzogen waren, zu beobachten. Immer wieder und immer wieder … und irgendeinmal, noch vor der Dämmerung, musste er sie entdeckt haben, die Gämse seiner Wahl. Kann sein, dass er mehrere an unterschiedlichen Orten entdeckte, sich aber vor allem auf eine konzentrierte, die weniger leicht sichtbar und schwieriger zugänglich war, um sich nicht mit anderen Jägern absprechen und mit ihnen teilen zu müssen. Auch wusste er um seine Stärke, der beinahe waghalsigen Kletterei, die er gegenüber seinen Pirschkonkurrenten ohne Hemmungen einzusetzen wusste.

Kann sein, dass er dann in die Hütte ging, seinen Schlafplatz reservierte, seine Sachen deponierte, um dann einsilbig sein mitgebrachtes Trockenfleisch mit Brot und vielleicht noch ein Stück Bergkäse zu verzehren. Entgegen dem Brauch für sich alleine, etwas mürrisch, in sich gekehrt, bereits mit dem morgigen Jagdgang beschäftigt. Aus diesem Grunde wird ihm auch entgangen sein, dass einer der anwesenden Jäger ihn etwas länger als üblich beobachtete, wer weiss, vielleicht war es sogar ein alter Bekannter aus dem Dorf, den er vorher nur flüchtig gegrüsst hatte. Beim Einsetzen der Dunkelheit würde er sich dann mit einem hingeworfenen «Gute Nacht miteinander, ich will morgen sehr früh raus» verabschiedet haben, um sich hinzulegen und auch bald einzuschlafen, weil er von dem wenigen Schlaf in der Rekrutenschule sicher leidlich müde war. Allerdings nicht ohne vorher dem Hüttenwart mitzuteilen, ihn doch bitte mit den Bergsteigern um drei Uhr zu wecken: was dann wohl auch geschah.

Nach einem reichlichen Frühstück – wiederum Mitgebrachtes mit dem Kaffee des Hüttenwartes und mit mehr Gesprächsbereitschaft mit den Bergsteigern, die allerdings jetzt die Wortkargeren waren – verliess er dann kurz vor vier Uhr, noch bei Dunkelheit, die Hütte, um in Richtung Süden den Hang entlang hochzusteigen. Ob seiner Zielstrebigkeit, seinen Gesprächsversuchen mit den Bergsteigern war es ihm vielleicht entgangen, dass da noch einer aufstand und – vielleicht eben ohne Frühstück, ganz bewusst in aller Heimlichkeit, weil auch er ein bestimmtes Ziel im Sinne hatte – ihm folgte. Vielleicht sogar mit demselben Ziel, das heisst der gleichen Gämse oder Gruppe von Gämsen vor Augen, welche die Mehrheit der Jäger – oder zumindest glaubten sie das – noch nicht entdeckt hatten. Ich kann mir vorstellen, dass beide, ohne voneinander zu wissen, in die gleiche Richtung hochmarschiert sind, wobei sich der Abstand infolge der Kraft und Geschicklichkeit Lentos vergrösserte.

Lento war in der Zwischenzeit, nach gut zwei Stunden Aufstieg, bereits in die erste Felswand eingestiegen und kletterte in der heller werdenden Dämmerung trittsicher, aber zügig von einer Rinne zu einem Felsband hoch, als er bei einem Blick zurück seinen Verfolger noch auf der Geröllhalde zum ersten Mal sah. Und hier wird mein Tagtraum vollends zum Heimatfilm, der aber sehr wohl realen Charakter haben könnte: Ihm wurde nämlich sofort klar, dass dieser Jäger nach der gleichen Gämsgruppe aus sein musste, und er beschleunigte daher seine Kletterei, um die Distanz zu vergrössern. So konnte es ihm gelingen, einen Schuss – und zwar in Ruhe und ohne zu zittern – anzubringen, bevor sein Konkurrent selbst Schussdistanz erreichte, um die Gämsgruppe mit einem schlechteren Schuss in die schwerer zugängliche Wand zu vertreiben.

In der Zwischenzeit hatte Lento einen Bock und zwei Gämsen entdeckt, die immer noch in der mit Kiefern und Föhren bewachsenen Verbreiterung und Verflachung des Felsbändchens von gestern ästen. Es war offensichtlich ihr gegenwärtiger und sehr schlecht einsehbarer Lagerplatz. Mag sein, dass nun Lento, leicht gebückt, weniger auf Sicherung als auf Deckung achtend, sich den Gämsen auf dem Felsbändchen näherte, um dann etwa in 120 Meter Distanz – er galt als guter Schütze und traute sich wohl einen Blattschuss auf diese Entfernung zu – niederzuknien und, am Felsen angelehnt, anzulegen.

Ich stellte mir vor, dass in diesem Moment bereits die Sonne blutrot über der Krete erschien und Lento, zum Jägerdenkmal erstarrt, mit einem Schlag erleuchtete und dem Verfolger sofort klar wurde, dass jener gesiegt hatte, dass er wahrscheinlich nichts Jagdbares mehr vor seinen Lauf bekommen würde. Nun, vielleicht kam dazu, dass dieser Jäger ein Bekannter von ihm aus seinem Dorf war, den er – und es waren derer ja so viele – bei einer Samstagabendschlägerei in der Wirtschaft nicht nur zu hart angepackt, sondern vor den Mädchen lächerlich gemacht hatte, was ihm dieser bis heute nicht verzieh. Zum Beispiel mit dem Satz «So einfach geht das auch nicht, Lento» mochte dieser nun sein Gewehr vom Rücken nehmen und mit einem «So, nun jagen wir dir deine Gämsen weg und dir einen Schrecken ein» anlegen. Und dann, paff, und noch einmal paff, da auch Lento schiesst; doch lässt er sogleich das Gewehr fallen, greift sich an die Wade, will aufstehen, knickt ein und taumelt, will sich halten, greift neben den Stein, kann sich nicht festhalten, durch sein Schwanken verliert er das Gleichgewicht und stürzt zu Boden, auf dem steilen Felsband, rollt, eine Wendung nach unten, und schon fällt er ohne einen Schrei in die Tiefe und klatscht auf die zackigen Steintrümmer unter der Wand, die eben jetzt auch von der frühen Sonne beschienen werden. Das war’s.

Der Jäger, er hatte es ja nicht gewollt, nur wegen der Anstrengung zu zittrig geschossen und diesmal nicht, wie er wollte, daneben, sondern tatsächlich getroffen, mag sich – vielleicht nach einer kurzen Prüfung, ob Lento wirklich tot war, aber da war wirklich nichts mehr zu machen – abgewendet und rasch in den noch schattigen Teil des Hanges in Richtung Hütte entfernt haben.

Der Entschluss, niemandem etwas zu sagen, mag auf diesem Rückmarsch entstanden sein, als er feststellen musste, dass ihm niemand begegnete, ihn niemand bemerkte und damit die Möglichkeit bestand, sich unbemerkt in eine andere Richtung zu begeben. Die zwei Schüsse wurden auf Distanz, mit Echo und so, sicher als einer empfunden, der ja von Lento abgegeben wurde. Vielleicht im Sinne eines echten Jagdunfalls gar auf sich selbst. Ja, so könnte es gewesen sein. Ich nahm mir vor, bei der nächsten Gelegenheit im Engadin mit Reto Oggier diese Hypothese zu diskutieren.

Über meinen Überlegungen zu Lentos Tod hatte ich die Hünger-Geschichte vergessen, die mir wegen des mir noch in den Ohren summenden Satzes von Klara Steffen wieder einfiel: «Dass du es wagst, nach Hünger zu fragen; gerade du und gerade jetzt, nachdem wir diese Geschichte vergessen wollten. Schluss jetzt. Ich möchte von dir nichts mehr hören.»

In dem Moment klingelte erneut das Telefon. Ich nahm den Hörer ab; wieder war es Annette.

Die Todesanzeige

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