Читать книгу Die Todesanzeige - Matthias F. Steinmann - Страница 8

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1. Vergangenheitsanzeige zum Frühstück

Vergessen und nicht erinnert? Oder verdrängt und dann vergessen? Oder verdrängt, vergessen und nicht mehr erinnert? Was auch immer: So jedenfalls drehte ich es in meinem Kopf hin und her. Das nämlich, was ich mir konstruierte; das, was ich vor allem den Mitmenschen gegenüber stets wiederholte, sei es in klacksigen Bruchstücken oder in eleganten Kurzwürfen über das grosse Ganze. Das also, was ich mein Leben nannte und womit ich mir Sicherheit schuf. Doch heute war mehr gefragt, und dieser Umstand löste in mir einen Prozess aus, der mich derart blockierte, dass ich am liebsten meinen Kopf an die Wand geschlagen hätte. Immer wieder: damit sie doch kommen würden, die Erinnerung, die Erleuchtung, Erklärung, Klarheit – und Wahrheit?

Ich glaubte es zu wissen, konnte es aber nicht mehr in Erinnerung rufen. Mich bedrängte das uns allen bekannte Gefühl, einen Namen nennen zu wollen, der einem auf der Zunge liegt, der aber einfach nicht über sie hinaus will. Es war zum Verzweifeln. Nur handelte es sich eben nicht um irgendeinen Namen, sondern um einen Teil meiner Vergangenheit, meiner Geschichte, ja, ich vermutete sogar um ein wichtiges, prägendes Erlebnis in meiner Jugend: vielleicht sogar um ein Schlüsselerlebnis! Doch eben – trotz aller Ahnungen war es nicht Teil meiner persönlich gehegten und gepflegten Geschichte geworden, sondern wurde irgendwann ausgespart, auf die Seite des Vergessens gelegt. Ende. Aus. So sehr ich mich bemühte: Es tat sich nichts … es kam nichts … jedenfalls nichts Wesentliches. Wie es dazu kam? Annette Winter, meine Freundin, hatte mir beim Frühstück mit vollem Mund und mit den Worten:

«Da, lies einmal, betrifft vielleicht sogar dich und deine so monströs mythologische Internatsvergangenheit»

ihre aufgeschlagene Zeitung – die NZZ von gestern natürlich, denn so früh wird bei uns auf dem Lande die Post nicht ausgetragen – zugeschoben, eine Doppelseite schwarzgerahmter Kästchen voller schwarzer Lettern, ein Grundbuchplan des Todes: alles Todesanzeigen. Auf meinen irritierten Blick die knappe Zugabe

«Auf der rechten Seite, links in der Mitte», worauf ich auf die folgenden Zeilen stiess:

Ich klage um

Johnny Hünger

vor drei Tagen verschieden und seit 25 Jahren tot

Darüber das Motto:

Vergangen, vergessen,

In Wahrheit nichts.

Die im Leben erinnern

Und daran sterben,

Warten auf Dich,

Oh, rächender Gott.

Als trauernde Hinterbliebene aufgeführt waren:

Maria Hünger

und seine sechs guten

Internatsfreunde.

Tatsächlich nicht nur eine seltsame Anzeige, sie berührte, ja betraf mich auch seltsam: Denn klar und deutlich eingemeisselt in meiner Erinnerung war der Name – Johnny Hünger, Johnny Hünger –, nicht zu vergessen, irgendwie einmalig. Ebenso eindeutig bleibt der Ort, der sich mit dieser Erinnerung verband: das Internat, und zwar das Berginternat. Auch der Ort der Abdankung, die Kirche San Gian in Celerina, löste einiges in mir aus. Aber mehr? Was er sicher nicht war: ein Klassenkamerad oder gar mein Freund. Nein, das war Johnny – haben wir ihn wirklich so genannt? Nein, Hünger … einfach Hünger, das ist der Erinnerungshaken – nein, das war Hünger sicher nicht. Auch hatte er nicht mit uns abgeschlossen, nein, ins Talinternat zog er nicht mit … vielmehr musste er irgendwie, irgendeinmal in früheren Jahren verschwunden sein. Achteinhalb Jahre Internat sind eine lange Zeit, und das Erinnerungsvermögen an die einzelnen Jahre ist sehr unterschiedlich.

Bei diesen Gedanken überfiel mich wie von hinterrücks dieses starke Ohnmachtsgefühl: Da war etwas, da war noch etwas … aber was? Und wann genau? Auch das nicht abrufbar: Hünger kam einmal und ging dann wieder, dann … so ungefähr zwischen dem dritten und dem fünften Jahr – im sechsten wechselten wir ins Talinternat – musste er mit uns gewesen sein. Aber mehr? Nichts, vergessen – wirklich nur vergessen? Aber da war etwas, zweifellos.

«Und?» bohrte Annette bereits, wie immer etwas zu früh und zu drängend. Doch ich, wohlerzogen und von einigen Frauen im Laufe der Jahre domestiziert, also gleich:

«Johnny Hünger … zweifellos mit mir im Internat … ein Zufall, dass du die Anzeige entdeckt hast, und deine Intuition hat dir einmal mehr recht gegeben … aber mehr weiss ich beim besten Willen nicht … und ich habe ihn … es kommt nicht … eben vergessen … oder was weiss ich», letzteres für mich, leiser.

Annette, stets etwas zu neugierig und wie immer leicht aufgeregt, wenn es um Neuigkeiten ging, warf ihren Kopf, besser ihren Schopf, reines Naturrot, trotzig zurück:

«Der Text … der Text, erinnert er dich an nichts?»

«Den Kaffee, bitte», und anders als sonst reichte sie ihn mir nicht, sondern schenkte mir gleich ein, er war bereits etwas lau, da sich unsere Frühstücke an Samstagen über die Zeit des dampfenden Kaffees hinausdehnen. Warum ihr offensichtliches Interesse?

Johnny Hünger … Hünger … «dr Hünger» … ja richtig: so nannten wir ihn, «dr Hünger».

«Wir nannten ihn «‹dr Hünger›, aber an mehr erinnere ich mich beim besten Willen nicht.»

«Noch nicht … den Text, bitte», unterbrach mich Annette erneut:

«Lies doch einmal diesen seltsamen Text, der muss dir etwas sagen … der besagt doch etwas, was euch betrifft.»

Natürlich hatte ich ihn gelesen, und seltsam war er schon:

Vergangen, vergessen,

In Wahrheit nichts.

Die im Leben erinnern

Und daran sterben,

Warten auf Dich,

Oh, rächender Gott.

«Bestimmt kein Bibelzitat, wahrscheinlich gar kein Zitat, eher ein persönlicher Sinnspruch, eine Mahnung zugleich …», gab ich zum Besten, denn etwas musste ich ihr ja antworten, artig wie ich war und bin.

Annette Winter lebt seit ungefähr drei Jahren (zwar nicht immer – sie unterhält zusammen mit einer Freundin eine gemeinsame Wohnung) während drei bis vier Tagen in der Woche in meinem Haus. «Lebt» ist natürlich übertrieben und «mein Haus» ebenso. Sie verbringt den Fernseh- oder Videoabend, ein bis zwei Stunden im Bad und eine Nacht in meinem übergrossen Bett und noch fünfzehn Minuten für ein rasches Frühstück vor der Arbeit bei mir. Und das Haus ist zwar mein Haus, aber ich empfinde es nicht so. Ich habe es von meinen früh verstorbenen Eltern (Tag- und Nachtärzte) geerbt. Es ist mehr als 270 Jahre alt, wurde von längst verstorbenen Menschen erbaut und während all der Jahre von so vielen verschiedenen Menschen bewohnt, teilweise auch wieder renoviert und neu gestaltet, so dass in mir ein Eigentumsgefühl oder gar Besitzerstolz erst gar nicht aufkommen kann: Ich habe mich hier für eine Zeitspanne eingekauft, die absehbar ist und die kaum an ihm etwas ändern wird, es sei denn das vorübergehende Dekor und einige mit der Zeit auch vergehende Renovationsbemühungen. Das Besondere dieses Hauses: es steht allein auf dem Lande, ist teilweise umgeben von einem einsamen Park mit altem Baumbestand und grenzt an der Rückseite an die Ökonomiegebäude des dazugehörenden Bauernhofes – er ist verpachtet und ohne Rendite. Das Haus gilt als ein klassizistisches Kleinod aus dem frühen 18. Jahrhundert und diente irgendwelchen Patriziern für den halbjährigen Urlaub von den Regierungsgeschäften im Sommer.

Sie selbst, Annette, stammte zwar nicht aus demselben Kanton, war jedoch weit mehr als ich in dieser hier berufenen historischen Schicht verwurzelt, fühlte sich ziemlich heimisch in dieser etwas kühlen – im Winter verständlicherweise und im Sommer, oh Wohltat, durchaus angenehmen – Landhausatmosphäre. Auch wenn sie hier zwar nicht eigentlich lebte, sondern, sozialpsychologisch ausgedrückt, mehr ihre «passive, rekreative» Zeit verbrachte, sind drei Jahre eine durchaus lange Zeit, die einen einander nicht nur näherbringt, sondern die Nähe auch spürbarer werden lässt. Und Nähe vergrössert, ja vergröbert auch, und zwar im Prinzip alles, wie wenn ich zum Beispiel mit der Lupe ein Textilgewebe beäuge – und alles ohne Wertung gleichmässig grösser, präsenter und klarer wird. Die Wirkung kann dann darin liegen oder besser daraus entstehen, dass die Geflechte, die einzelnen Fasern, die ich vielleicht vorher nur vage ahnte, nicht nur sichtbarer werden, sondern im Falle der Eigenschaften von Annette auch fühlbarer – und zum Prüfstein meiner Geduld.

Eine solche Eigenschaft von Annette, die mir erst durch unseren dreijährigen Näherungsprozess so richtig bewusst wurde, drückte sich in ihrem Interesse für diese seltsame Todesbotschaft aus. Eine Eigenschaft, die ich vielleicht früher nur als weiblich-charmant oder überhaupt nicht empfand, eben auch nicht verstand, die sich mir heute aber nicht nur als Wesensteil von Annette, sondern – wenn ich ehrlich bin – auch als mich eigentlich störende Charaktereigenschaft entpuppte.

Was mich störte, war ihre zunehmende Neigung zum Irrationalen, zum Mystischen nämlich: Gemeint waren nicht ihre anfänglich nur schalkhaften Versuche, sich in die «Kunst» – wie sie das nannte – des Pendelns und später des Tarot-Kartenlegens einführen zu lassen, sondern die Hexereien oder Wahrsagereien, die in der Zwischenzeit das Spielerische verloren hatten und zunehmend als Handlungsmaxime ihr Leben mitbestimmten. Allerdings förderte ich dies anfänglich etwas unter dem Einfluss meines Freundes Fe, Kunstmaler, Karate- und Yoseikanmeister, der mir neben einem mehr oder weniger regelmässigen Training in Tai Ji und Yoseikan, einer Art Kampfsport, ziemlich erfolglos östliche Denkweisen zu vermitteln suchte.

Wie auch immer. Mit der Zeit entwickelten sich bei mir aber trotz meiner Toleranz zunehmend ungute Gefühle, oder sagen wir es ehrlich, eine zunehmende Aggression gegen diese irrationalen und mystischen Schlaumeiereien. Sie wären ja letztlich auch leicht zu entlarven gewesen, hätten nicht einige Zufälligkeiten, wie hin und wieder sich selbst erfüllende Prophezeiungen, verbunden mit ihrem zunehmenden Glauben daran, allen meinen rationalen Versuchen entgegengestanden, sie wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückzubringen. Was ich also beklagte und noch beklage, war und ist ihr verlorener rationaler Zugang zu den Dingen und Vorgängen dieser Welt. Das einerseits und andererseits ihre so geringe Verwurzelung in der Tradition der Aufklärung, die trotz aller Auswüchse der Wirtschafts- und Umweltzerstörungsfreiheit für mich nach wie vor «der einzige Ausweg aus der selbstgewählten Unmündigkeit des Menschen ist und auch bleibt».

Vielleicht bin ich hoffnungslos von gestern, antiquiert und leider dem intellektuellen «Zeitgeist-brain-wash» der 68er und der folgenden fünfzehn Jahre entgangen. Alle Versuche in Richtung New Age und irrationalen, mystischen Erklärungen bleiben mir, trotz oft nach aussen geheuchelten Interesses, fremd. Sie übersteigen das Energieniveau einer aus Langeweile geübten Spielerei, d.h. sie gehen mir schlicht auf die Nerven.

Die Neigung von Annette, Karten zu legen, zu pendeln, gewissen Anzeichen mystisch gedeuteten Wert zu geben, kurz ihr Aberglaube, sträubte mir die geistigen Nackenhaare:

Wenn ich mich vorerst zu wenig durch den Sinn dieses Textes alarmieren liess, schwang da eben auch Protest mit, dahinter mehr zu sehen als irgendeinen Bibelspruch.

Doch auch rein vernünftig betrachtet, war da schon etwas mehr dahinter:

Ich klage um

Johnny Hünger

vor drei Tagen verschieden

und seit 25 Jahren tot.

«Du hast recht … der Sinnspruch … sei es Mahnung oder Fazit – da müsste man schon die Witwe fragen – mag noch angehen, aber der Rest, der ist aussergewöhnlich. Seit 25 Jahren tot.»

«Sag ich dir ja, und vor allem rechne doch einmal.»

Und auch da hatte Annette recht. Wie übrigens oft. Was ich zugeben muss. Sie ist – mit Verlaub – auch nicht dumm, im Gegenteil, trotz allem eine kluge und auch schnell denkende Frau, meine liebe Annette. Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit, und da ist auch viel geschehen, vieles, was ebenso vergessen bleibt, weil es nicht registriert ist, oder eben ausgespart und mit Grund vielleicht verdrängt – darauf wollte sie doch hinaus. Das war … das war mit sechzehn, sein angeblicher Tod, da war ich sechzehn, das heisst, es fiel in die Zeit des Wechsels vom Berg- zum Talinternat: ja, dies könnte zutreffen.

In diese Zeit fällt ja auch meine Ahnung von Hünger. Es war eine Zeit des Umbruchs und Aufbruchs: das Leben im neuen grossen Talinternat, alles irgendwie offener, breiter, näher am Leben, aber auch härter, kühler, unpersönlicher … so zumindest fühlte ich in den ersten Tagen. Und … da war doch diese Schlägerei … Falsch, ich schlug, ja ich, hart und mehrfach, mit voller Wucht in sein Gesicht … nicht in Hüngers, nein, in Fredys. In Fredy Oberers Gesicht, weil … ja, weil die meinten, wir seien neu, kennten die Tricks nicht, sie könnten uns in die Falle gehen lassen wie die Grünlinge. So zum Beispiel beim Essen, als wir am langen Tisch in den ersten drei Tagen zu kurz kamen, weil die alten «Täleler», also die eingesessenen Talinternatszöglinge, meinten, sie könnten uns «Bergler» benachteiligen …. Und Fredy Oberer mit vorlauter Anführerstimme im Zentrum, eine Art Platzhirsch in der neuen Klasse – aber Irrtum, meine Lieben, wir Bergler waren ebenso alte Internatler, vier Jahre und so. Eine kurze Blickverständigung zu Lento – ob er noch lebt? – und unserer Gefolgschaft, und die Sache war eigentlich schon geritzt.

Im Anschluss an das Mittagessen: «So kommt doch einmal mit uns, zum Reden und so, nicht hier, nein dort hinten, ja, um die Ecke bei der Friedhofmauer», dazu warme Mittagsstimmung mit Glasluft, Rattern von fernen Traktoren, leichter Wind und leise fallende Blätter. Und dann: «Was wollt ihr?» «Was wir wollen? Lento deck», und ich schlug wortlos zu, mit dem Ring am Finger, mehrfach die Linke in sein Gesicht und eine volle Rechte drauf, und er sank, bereits blutend, die Hände halb erhoben, wie betend, an der Friedhofmauer wie in Zeitlupe zu Boden. Der vorlaute, ach so vorlaute Fredy Oberer. Heute ist er Konzernleiter in der Textilbranche. Ob man die Narbe noch sieht? «Dr Hünger», nein, «dr Hünger» war da schon nicht mehr dabei, denn er hätte da dabei sein müssen, wie Lento und unsere kleine Gefolgschaft aus dem Berginternat. Ob Lento noch lebt? Warum ich das frage? Lento war nicht nur Internatsbergler, sondern richtiger Bergler, ein Externer aus dem Hochtal, mit einem drahtigen, struppigen Schopf, Bartstoppeln, gross und etwas bäurisch ungelenk, doch muskulös, ein Samstagabendsäufer und auch -schläger, aber vor allem eben Bergler mit einigen für uns beinahe wild-romantischen Zügen: Jäger, Kletterer und auch Schmuggler, hart, ruhig, ja wortkarg, aber auch leicht gefährdet. Ob Lento noch lebt? Ob er sich an Hünger erinnern könnte? Irgendwie war Lento für mich Schutz und ich sein Pilotfisch – allerdings eben nur zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Situationen. Zum Beispiel an der Maturafeier, stockbesoffen waren wir da … Ob er sich erinnern könnte?

«Und was meint die Witwe mit» – und ich sprach es laut – «was meint sie mit und seinen sechs guten Internatsfreunden, die hatte der doch nie!»

«Das müsstest schon eher du wissen. Aber wenn du willst, können wir auch pendeln.»

«Wenn es der Wahrheitsfindung dienen würde … Aber du weisst ja besser als ich, dass das vorerst das Stellen der richtigen Fragen bedingt, und diese fallen kümmerlich aus: Meine vorläufige Antwort zu Hünger lautet: er war ein oder zwei Jahre mit mir im Berginternat. Ins Talinternat hat er nicht gewechselt, das wüsste ich. Er ist irgendeinmal erschienen und irgendeinmal verschwunden. Auch kann ich ihn mir nur ungefähr vorstellen, aber ich habe keine Ahnung, in welcher Klasse er war, ob und welche Freunde er hatte, woher er kam, wohin er ging, was er tat und warum … weiss Gott, ich weiss es einfach nicht mehr, das heisst, es kommt mir nicht mehr in den Sinn. Und ich weiss überhaupt nicht, ob ich es wissen will, denn da hat dein verheissungshungriges Naturell schon in die richtige Wunde gestochen … etwas sitzt da tief drinnen, etwas beunruhigt, stört mich. ‹Dr Hünger›, ‹dr Hünger›, verflucht, was war denn mit diesem Hünger …»

Beinahe hätte ich hinzugefügt: «Diese Sau» – aber warum?

«Er ist tot», unterbrach mich Annette mit einem befremdeten, erstaunten Blick über meine so plötzliche Aggressivität. «Aber mir scheint, dass du gut daran tätest, dich zu erinnern – oder wenn du es nicht schaffst, dich zu erkundigen, denn», jetzt kam der gönnerhafte Ton, den ich schon aus unseren unzähligen pseudopsychotherapeutischen Gesprächen kannte, «denn ich glaube, die Blockade ist signifikanter Ausdruck für eine nicht verarbeitete ‹Jugend-Dingsbums›!»

Aha, sie wagt noch nicht den Terminus «Schuld», «Jugendschuld», meint es aber, meine Jung-, Freud- und Fromm-gebildete Gefährtin, dachte ich böse, auch wenn es nicht so gemeint war, ich es deshalb auch nicht gesagt hatte. Aber ein bisschen traf es schon zu. Annette interessierte sich brennend für alle psychologischen Erklärungen des Seins, in einer zwar etwas oberflächlichen, aber umso umfassenderen Art. Kein Bereich des Lebens, der nicht letztlich irgendwie durch psychologische Gesetzmässigkeiten zu erklären und eben einer Analyse zugänglich wäre.

Annette, in ihrer ersten Ahnung bestätigt, dass dieser Johnny Hünger etwas mit mir zu tun haben könnte, roch bereits das gestandene Seelenblut, das es da vielleicht – und dann noch bei ihrem Lieblingspatienten – aufzulecken gäbe. In ihren Augen leuchtete Appetit – oder vielleicht sah ich das nur so und war tatsächlich krank. Hier galt es aber, ein Zeichen zu setzen:

«Man kann sich auch an etwas nicht erinnern, das einen nicht oder nur wenig betrifft, zum Beispiel eine flüchtige Bekanntschaft oder ein Name. Darin gleich eine Blockade mit Tiefgang zu vermuten, finde ich typisch für dich.»

«Aber es passt besser: So lies die Anzeige doch einmal ganz: sie beklagt ihren Mann, der damals starb – wahrscheinlich seelisch, sie ruft einen rächenden Gott an und verweist auf sechs gute Freunde in deinem Internat … und wahrscheinlich bist auch du gemeint. Du willst dich nur nicht, kannst dich eben nicht erinnern. Wenn das nicht nach einer tragischen Jugendverstrickung klingt – die gibt es nämlich nicht nur in der Literatur.»

«Mag sein, dass das für dich so klingt … ja, selbst wenn du recht hättest … ich kann es dir beim besten Willen weder bestätigen noch verneinen, weil ich nichts mehr weiss.»

Aber recht hatte sie eben doch: Einfaches Vergessen ist nicht «Nicht-Erinnern-Können»! und schon gar nicht Verdrängen; und es kann eben sein, dass es sich hier um eine bedeutende Aussparung meiner persönlichen Geschichte handelt, die sich zwischenzeitlich zwar fugenlos geschlossen hatte, von der ich aber offensichtlich etwas ahnte. Ich spürte es ja, da war etwas mit Hünger, ganz eindeutig. Aber dies vor mir oder vor ihr einfach so zuzugeben, dazu bedurfte es konkreterer Anhaltspunkte.

«Ruf sie doch an!»

«Was soll ich?»

«Ja, ruf sie an, bezieh dich auf die Todesanzeige, auf die Abdankung am nächsten Montag und erkundige dich nicht als ehemaliger Freund, sondern nur als Kollege, wenn’s dir leichter fällt.» Und dann, dachte ich, bin ich involviert … und wahrscheinlich mehr als mir lieb ist … da gibt es noch einen anderen Weg – Lento zum Beispiel! Und ich erklärte ihr, dass Lento die ganzen acht Jahre mit mir im Internat verbracht hatte und sich wahrscheinlich erinnern würde. Darauf folgte ein längeres Palaver, wie das anzustellen sei, dass sie aber jetzt in die Stadt müsse, noch zu tun habe und so weiter, bis Annette ihre Sachen gepackt hatte und dann tatsächlich wegfuhr.

Mein Plan war – einmal zu Ende gedacht – zwar einfach, die Ausführung allerdings schwierig, da heute Samstag. Bei meinen Adresslisten und gesammelten Adresskärtchen in einer alten Zigarrenkiste lag auch die Adressliste unserer Abschlussklasse, und da war Lento unter Lento Oggier aufgeführt. Als Erstes konnte ich dort anrufen, denn gerade in den kleinen Bergdörfern verbleiben Familien über Generationen im gleichen Haus. Dort wiederum dürfte ich einen Hinweis bekommen, wo sich Lento zurzeit aufhielt.

Führte das nicht zum Erfolg, blieb mir die Gemeindekanzlei. In solch kleinen Gemeinden wissen sie in der Regel recht gut Bescheid über den Verbleib ihrer ausgewanderten Mitglieder, kamen letztere doch oft von Heimweh geplagt übers Wochenende nach Hause und gaben in der Wirtschaft eine Runde frei und sich zum besten. Sie bildeten so noch einige Zeit das Gesprächsthema im Dorf … vor allem, wenn dem Heimurlauber im Unterland – aus der Sicht der Bergler – auch Erfolg beschieden war. Ein erster Anruf bei der Telefonauskunft bestätigte mir, dass die Adresse immer noch gleich, nämlich auf den Namen des Vaters lautete, die Telefonnummer sich dagegen geändert hatte. Kommunikation ist mein Beruf, und regelmässig komme ich in die Situation, mir persönlich unbekannte Menschen anzurufen, um das Gespräch nach einigen entschuldigenden und motivierenden Phrasen in die von mir gewünschte Richtung zu lenken. Meistens mit dem handfesten Ziel, eine bestimmte Information zu erhalten oder einen bestimmten Wunsch erfüllt zu bekommen; aber eben in dem mir angestammten, zu überblickenden Berufsbereich.

Hier lag das anders, und es galt, sich etwas vorzubereiten. Womit musste ich rechnen? Mit der Mutter oder dem Vater, eventuell einem oder einer Verwandten, wenig kommunikationsfreudigen und auch nicht ausdrucksgewandten Berglern, vielleicht sogar langsam im Verstehen, aber sicher im Reagieren. Und insbesondere allem Unbekannten und meinem Stadtdialekt mit Misstrauen begegnend. Mehr noch, falls die Mutter oder der Vater ans Telefon kämen, musste ich mit Menschen im Alter von mindestens siebzig Jahren rechnen. Wie vorgehen? Sich vorstellen, als Internatsfreund, der kürzlich von Lento gehört habe – nein, zu gefährlich bei eventuellen Rückfragen –, besser, einfach Interesse an der Person Lentos äussern, den Wunsch, einen verlorenen Kontakt wieder aufzunehmen.

Gerade Letzteres wäre auch nicht ganz ohne realen Hintergrund: Vor einigen Jahren verbrachte ich im Dorf des Berginternates eine Woche Skiferien bei allerdings sehr spärlichen Schneeverhältnissen, und zwar so ziemlich allein. Auch wenn ich sonst durchaus gesellig bin, kann es dann mitunter vorkommen, dass ich praktisch eine Woche lang ausser mit dem Kellner im Speisesaal, dem Concierge und vielleicht noch dem Hoteldirektor, und auch da nur kurz, mit niemandem spreche, keinen Kontakt suche, ja eigentlich Hemmungen habe, mich jemand anderem persönlich zu nähern oder gar zu öffnen. In diesem Dorf mit «meinem» Internat und den vielen Erinnerungen wurde ich noch stummer und überlegte nur hin und wieder, ob ich versuchen sollte, meine ehemaligen Lehrer zu besuchen. Als ein erster Versuch scheiterte, weil die Klara Steffen, unsere zwar nicht geliebte, aber doch recht geachtete Englischlehrerin, wegen eines Herzanfalls kurzfristig hatte ins Spital eingeliefert werden müssen, gab ich das Vorhaben auf. Nicht ohne einen Kartengruss und ein Osterei – es war um Ostern – ins Spital zu schicken.

Offensichtlich noch immer unter dem Kommunikationsdefizit leidend, kam mir dann Lento in den Sinn, der einzige Externe, mit dem mich etwas mehr verband. Und so fuhr ich in sein Dorf, seinen Wohn- und Heimatort, wo ich selbstverständlich mit einer Vielzahl von Oggiers im Telefonbuch konfrontiert wurde, so dass sich das Anrufen kaum lohnte.

Doch ich gab nicht auf. Ich hatte ja Zeit, die einmal nur für mich da war und die ich mir irgendwie auch schuldete. So sass ich dann in der Dorfwirtschaft, wiederum allein, weil es noch zu früh am Nachmittag war. Auf meine Frage nach Lento Oggier, erhielt ich zwar verständlicherweise keine vernünftige Antwort von der italienischen Serviererin, aber auch nicht von der Wirtin, etwa mein Alter, Unterländer Dialekt, wahrscheinlich zugeheiratet, wenn auch, den Fältchen um Augen und Mundwinkel, den rau-roten Händen nach zu schliessen, nicht erst gestern, sondern vor zehn bis fünfzehn Jahren. Mit andern Worten: Sie kannte den wilden Lento Oggier, den berühmten Jäger, Schmuggler, Kletterer, den wortkargen Samstagssäufer und -schläger nicht, was eben hiess, dass er längst ausgezogen, irgendwo im Unterland oder vielleicht sogar im Ausland schwer erreichbar war. So beinahe systematisch vorbereitet, wählte ich die neue Nummer von Lentos Eltern an, wobei es mir nicht wohl zumute war.

«Oggier hier», meldete sich eine ältere, sehr brüchige Frauenstimme. Dann ich, betont langsam:

«Hier Fritz Wyl, entschuldigen Sie die Störung. Ich bin ein alter Internatsfreund von Lento, ihrem Sohn. Könnte ich ihn sprechen, oder können Sie mir seine Telefonnummer, seine Adresse geben, ich müsste etwas mit ihm bereden.»

Ich redete ohne Pause, wobei es auch nicht den Anschein machte, als ob sie mich unterbrechen wollte – denn als ich ausgeredet hatte, blieb es still, keine Reaktion, keine Antwort.

«Haben Sie mich verstanden, Frau Oggier … sind Sie noch da?» Da plötzlich:

«Was wollen Sie mit Lento besprechen?» flüsterte sie beinahe unhörbar.

Ich verstand sie kaum, erriet aber ihre Worte dem Sinne nach. Nun galt es zu improvisieren:

«Ein Klassentreffen, ich, wir, das heisst meine Kollegen, möchten ein Klassentreffen organisieren … es wäre schön, wenn Lento auch dabei sein könnte!» fügte ich langsam und deutlich hinzu. Wieder Stille, immer noch Stille. «Die Telefonnummer … wäre es Ihnen nicht möglich, mir diese …»

«Reden Sie mit seinem Bruder, mit Reto», unterbrach sie mich schroff und nun auch klarer verständlich.

«Und wo?» gab ich zurück, worauf sie antwortete:

«Dem Lehrer, im Internat, und jetzt lassen Sie uns, bitte», und mit einer recht deutlichen Betonung des letzten «bitte» war die Verbindung auch schon unterbrochen. Was blieb, war das kontinuierliche Summen an meinem Ohr. Nun, das war fürs Erste gar nicht schlecht, wenn mich auch die Reaktion etwas erstaunte: Sein Bruder, Reto Oggier, wusste sicher Bescheid, und er war offenbar Lehrer im Berginternat. Seine Adresse liess sich leicht ermitteln, durch Anrufen im Internat oder, falls er im Dorf wohnte, im Telefonbuch.

Das Telefon schrillte. Es war Annette:

«Mein Lieber», obwohl beinahe fünfzehn Jahre jünger, hatte sie bei mir ab und zu den Mutterton drauf: «Mein Lieber, ich weiss nicht, was du getan hast, aber ich habe etwas getan, und jetzt wirst du gleich staunen.»

«Wie oft, wenn ich in den Genuss komme, mit dir zu sprechen! Aber auch ich bin nicht gerade untätig gewesen, wer beginnt?» Und ihre Antwort musste der psychologischen Wahrscheinlichkeit nach auch lauten:

«Du natürlich.»

«Also: Lento habe ich nicht erreicht, jedoch seine Mutter, die mich an seinen Bruder verwies – einen Reto, Lehrer im Berginternat … was vielleicht auch sonst noch von Interesse sein könnte.» Ich beschrieb ihr noch kurz meinen Eindruck von der Mutter und gab ihr das Stichwort:

«Und du?»

«Du wirst staunen.»

«Sagtest du bereits, aber warum?»

«Ich bin im Presse-Café und habe, ohne besondere Absicht, noch die BZ und den Bund von gestern durchgesehen. Was sehe ich da? – Die gleiche Todesanzeige in beiden Blättern. Dann liess ich mir – sie hatten sie Gott sei Dank noch nicht weggeworfen – sämtliche greifbaren Zeitungen von gestern bringen, und nun kommt das Verwunderliche: In sämtlichen verfügbaren Lokalzeitungen, ob aus Winterthur, Biel, Olten, aber auch in der Tribune, in welchem Blatt auch immer, die gleiche seltsame Todesanzeige, die Stichprobe lässt auf eine beinahe vollständige Abdeckung in der Schweiz schliessen. Warte, denn nun kommt der Clou: Ich hab mir noch die heutigen Samstagsausgaben zu Gemüte geführt … und wieder in sämtlichen verfügbaren Blättern noch einmal die gleiche Todesbotschaft von Marie Hünger. Das dürfte sie doch Tausende, vielleicht sogar Zehntausende von Franken gekostet haben.»

Das folgende Gespräch drehte sich um die mutmassliche Absicht, welche die Witwe Hünger mit dieser eigentlichen Todesverkündungskampagne ihres Mannes hegen mochte; denn dies war nicht nur inhaltlich keine gewöhnliche Todesanzeige, äusserst seltsam war auch der deutliche Wille, im Inseratenraum der Schweiz – oder gar noch weiter herum – derart präsent zu sein, dass alle Leser, oder eben vielleicht – und das war natürlich sofort die Theorie von Annette – einer oder einige wenige Leser die Anzeige mit Sicherheit sahen und mit dieser besonderen Todesanzeige konfrontiert wurden. Annette sah das klar: «Selbstverständlich sind es nicht einer oder zwei, sondern eben eine bestimmte Anzahl Leser! Sie sagt es ja selbst. Ich glaube, sie will die sechs guten Internatsfreunde ihres Mannes aufspüren. Das liegt doch auf der Hand. Du solltest dich melden.»

«Erstens bin ich da nicht so sicher, und zweitens warten wir jetzt zuerst Lentos Reaktion ab», entgegnete ich, weil mir das ein eher seltsamer Weg zur Kontaktaufnahme mit Freunden schien. In der Regel kennt man doch die Adressen von Freunden oder kann sie eruieren, auch wenn es einige Zeit her ist, wie in Lentos Fall. Darüber hinaus, obwohl mir «dr Hünger» nach wie vor im Dunkeln blieb, konnte ich ihn nicht mit derart vielen Freunden in Verbindung bringen. Überhaupt sind für Internatsverhältnisse mehrere Freunde selten, und der Unterschied zwischen Freund und Kollege wird einem da sehr bald und sehr präzise bewusst. Und hätte es zumindest einen oder zwei meiner Freunde oder guten Kollegen darunter gehabt, dann hätte ich mich auch heute besser erinnern können – es sei denn, das Ganze war ganz anders, und Annette hatte mit ihrer Jugendschuldthese recht. Dann allerdings …

Wir beendeten das Telefongespräch in dieser Sache dann auch recht bald, dagegen nicht in der Frage, was heute Abend zu geschehen hätte. Ich war für einen Theaterbesuch und sie für gut essen gehen und so. Wir einigten uns im Sinne eines schweizerischen Kompromisses: etwas früher essen gehen und anschliessend ins Kleintheater zur Gruft, das sich mit einer neuen eigenen Inszenierung anbot.

Die Todesanzeige

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