Читать книгу Der Zthronmische Krieg - Matthias Falke - Страница 3
Pater Bel I
ОглавлениеPater Pu Rhea Bel hatte die Nacht vom 4. auf den 5. Shalem der Periode 10-294 in Gebetshaltung vor seinem Meditationskaktus verbracht. Zwar war er am Abend zur gewöhnlichen Stunde zu Bett gegangen, aber kurz nach Mitternacht hatten ihn ferne Erschütterungen und Detonationen geweckt. Er hatte sich den Morgenmantel übergeworfen und war auf das Vordach seines Pueblos gestürzt, dessen weiß gekalkte polyedrische Flächen in der klaren sternenhellen Nacht bläulich geleuchtet hatten. Im Frost der Stunde leicht zitternd, hatte er zum Himmel aufgesehen, der von mächtigen Explosionen durchzuckt wurde. Eine Art Wetterleuchten pulste und blitzte naturwidrig am wolkenlosen Firmament. Aus den Feuerbällen lösten sich rußig rote Meteoriten, die langsam in parabelförmigen Bahnen nach Westen zogen und dort, tief in der Großen Ngév und weit jenseits des Horizontes, zerschellten. Von dort kam auch das ferne Rumpeln und Grollen, das ihn aus dem Schlaf geweckt hatte. Es vereinte das Unheimliche eines Erdbebens oder Vulkanausbruchs mit dem regelmäßig mahlenden Takt eines großen Walzwerkes. Die Meteore oder Asteroiden schlugen mehrere Tagesmärsche weit hinter den Westbergen in die Ebene, daran konnte kein Zweifel sein. Doch was flackerte und brannte da am Himmel? Pater Bel musste widerstreitende Assoziationen zurückdrängen. War es ein Stern von Betlehem – oder ein flammendes Zeichen der Apokalypse? Beide Erinnerungen waren blasphemisch; er musste sie in sich zum Schweigen bringen. Denn das Zeichen von Betlehem war nur einmal erschienen, es hatte nur einmal erscheinen können; auf eine Wiederkehr zu hoffen, war Gotteslästerung. Und kein kosmisches oder historisches Ereignis konnte den Jüngsten Tag evozieren, wenn der Herr und Heiland die Himmel aufrollen und Gericht halten würde.
Nach einer Weile kamen die lautlosen Explosionen in der hohen Atmosphäre zum Erliegen. Und auch das ferne Donnern aus den lebensfernen Weiten der Ngév verstummte beinahe; es ebbte zu einem fast unhörbaren Grummeln ab, wie wenn ein Gewitter vorbeigezogen war und sich jenseits der Gebirge austobte. Die Brände, die über den Einschlagkratern lohten, schienen anzuhalten. Der westliche Horizont war von einem tiefroten, wabernden Schein überwölbt, einer Art schmutzigen Zodiakallichtes. Niemand wusste, was sich dort in dieser Stunde zutrug, wie viel Blut in diese Feuersbrunst vermischt war.
Der Pater hätte es sich nicht durchgehen lassen, sich nach diesem Schauspiel wieder zu Bett zu begeben. Er kehrte in seine Wohnung zurück und schloss die Tür aus wärmedämmendem Elastil, die die Verbindung zum terrassenförmigen Vordach bildete. Aber er verweigerte sich für den Rest dieser Nacht den Schlaf. Vermutlich hatte es Tote gegeben. Menschliche oder andere Seelen irrten im Raum zwischen den Welten umher. Er musste für sie beten.
Er ließ sich auf dem hölzernen Bänkchen vor seinem Meditationskaktus nieder und versenkte sich in Trance. Dabei liefen die Gedanken auf unterschiedlichen Ebenen weiter. Wie die Satelliten einer Welt, die diese auf den verschiedensten Bahnen umkreisen und einander niemals berühren, kreisten seine Überlegungen um das nächtliche Phänomen, das seinerseits die unterschiedlichsten Deutungen und Interpretationen erlaubte. Er glaubte ausschließen zu können, dass es ein natürliches Ereignis gewesen war. Ein Asteroid, der an den hohen Atmosphäreschichten zerschellt wäre, hätte niemals ein solches lang anhaltendes Feuerwerk geboten. Und Kometentrümmer oder Meteore, die auf die Wüste eingehagelt wären, hätten nicht zu solchen Bränden geführt. Was sollte brennen, in der Stein- und Geröllwüste der Großen Ngév? Es mussten enorme Treibstoff- oder Munitionsmengen im Spiel sein. Eines oder mehrere Schiffe mussten aus einem Orbit abgestürzt sein. Vermutlich war dem ein Gefecht vorausgegangen. Ihm war von einer politischen Krise oder einer sonstigen Bedrohungslage nichts bekannt. Aber die Situation auf dem geteilten Planeten war in den letzten Tagen und Wochen immer noch prekärer geworden. Auch ein Kampf im Raum über der Lufthülle konnte da nicht ausgeschlossen werden.
Er wusste nichts. Und er verbat sich alle Spekulation. Er ahnte nur eines: Im großen schwarzen Buch der Geschichte wurde wieder einmal ein neues Kapitel aufgeschlagen. Er fürchtete, es werde auf dieser Welt spielen, auf dem so überaus reichen und kargen, umkämpften und verlassenen, schönen und erbarmungslosen, gesegneten und verfluchten Zthronmia.
Pater Pu Rhea Bel betete zu Gott, dass der Konflikt glimpflich ablaufen und dass sein Hunger nach menschlichen und anderen Seelen nicht unersättlich sein würde. Er erteilte allen, die in der Nacht womöglich den Tod gefunden hatten, die Absolution. Dann verharrte er in durchlässiger Trance bis zum Morgen.
Nachdem er das Morgengebet gesprochen und die rituelle Verneigung vor seinem Kaktus absolviert hatte, widmete er sich im ersten Frühlicht seinen Übungen. Man sollte dem Körper nicht zu viel an Aufmerksamkeit widmen; aber ihn zu vernachlässigen, war dennoch Sünde. Schließlich war er das Gefäß des Geistes. Nachdem er sich gewaschen und angekleidet hatte, nahm der Pater sein knappes Frühstück aus getrocknetem Fladenbrot und dünnem Synthetkaffee zu sich. Eines seiner wenigen Zugeständnisse an die Zeit künstlicher Genussmittel. Er hatte sich eben die weiße Toga aus handgewebtem Tuch umgeworfen, um sich zu seiner Gemeinde zu begeben, als die Sirenen ertönten. Das war zwar in den letzten Wochen zu einer beinahe täglich wiederkehrenden Prüfung geworden, dennoch durfte es – auch in der inneren Haltung, die man dazu einnahm – niemals Routine werden.
Er trat auf die Plattform seiner Pueblos hinaus und beschattete die Augen vor der Sonne, die in diesem Augenblick über den staubigen Horizont kam. Im Westen war ihm gerade noch ein dünner schwarzer Rauchfaden aufgefallen, dessen Wurzel tief in der Großen Ngév stehen musste und der sich im Morgenwind zusehends zerfaserte. Doch jetzt loderte im Osten ein neuer Morgen. Es bestand kein Zweifel, dass es ein blutiger sein würde. Denn aus dem Strahlenfächer der aufgehenden platinfarbenen Sonne brach ein Geschwader Scyther hervor, das in weit auseinandergezogener Formation im Tiefflug auf den Kibbuz zuhielt. Wie es ihrer gewöhnlichen Taktik entsprach, bildeten die Scyther ein asymmetrisches Delta, dessen einer Balken aus drei, der andere jedoch aus mindestens einem halben Dutzend Maschinen bestand. So pflegten sie in geringer Höhe auf ihr Zielgebiet zuzuhalten und es dann in rollenden Angriffen ins Visier zu nehmen.
Der Pater konnte sehen, wie die Menschen überall den Schutz der Bunker und festen Unterstände aufsuchten. Er selbst blieb an seinem Platz, auf dem weit vorspringenden Terrassendach seines Pueblos. Die Angriffe der Zthronmic galten für gewöhnlich der Unterstadt, wo ihre Bomben im Gewirr der engen Gassen wie auch auf den weiten volkreichen Plätzen, Märkten und Foren mehr Schaden anrichten konnten als bei den vereinzelt stehenden Häusern der Oberstadt, die sich an den Hang des Hügels lehnte. Er fühlte sich einigermaßen sicher. Zugleich schämte er sich dieses Gefühls, das einen Beigeschmack von Überheblichkeit barg. Weidete er sich an der Illusion seiner Unversehrbarkeit – und am Anblick der Katastrophe wenige Steinwürfe unter seinen Füßen?
Der Pater beschloss, es diesmal nicht bei der Rolle des Zuschauers zu belassen. Während unten die ersten Einschläge krachten, hangelte er sich an der Außenleiter seiner Pueblos nach unten und tauchte in die kühle Gasse ein, die zu dieser frühen Stunde noch im Schatten lag. Dann begann er, die verwinkelten Treppen und Wege hinunterzueilen, die zur bevölkerungsreichen Unterstadt führten. Detonationen ließen die Gebäude erbeben. Scheiben aus Elastalglas gingen zu Bruch. Explosionen, Sirenen, Schreie ertönten und vermischten sich zu einem panischen Durcheinander. Das Gellen der Verwundeten wurde von den ohnmächtigen Rufen der Mütter durchdrungen, die ihre Kinder sterben sahen. Dazwischen schollen die Kommandos der Rettungskräfte und die anklagenden Laute der unfreiwilligen Zeugen, die mit ansehen mussten, wie der Kibbuz ein weiteres Mal angegriffen wurde, ohne sich zur Wehr zu setzen.
Je weiter er im kegelförmigen Bau der verschachtelten Siedlung nach unten kam, umso voller waren die Straßen von hin und her eilenden Menschen. Und immer noch krachten Einschläge. An der Ecke zum großen Markt kam ihm ein Mann der Schutztruppe entgegen, warf sich über ihn und zog ihn zu Boden. Während der Pater noch verwirrt um Atem rang, von der schweren Gestalt des Mannes fast erdrückt, bebte die Erde unter ihm und der Himmel verwandelte sich in flüssiges Blut. Eine Pilzwolke aus rotem Feuer blühte über ihnen auf, während der Boden wankte und der Explosionsdruck den Staub in seltsam ästhetischen Mustern um die Kanten der Gebäude tanzen ließ.
Brennende Schwaden troffen auf sie herab. Die Luft war geschwängert vom widrigen Dunst explodierten Treibstoffs und verkohlten menschlichen Fleisches. War eines der Depots getroffen worden?
Während sie sich mühsam erhoben und überall Leute dabei waren, die vom Himmel regnenden flüssigen Brände zu löschen, starrte der Pater den Mann an, der ihm das Leben gerettet hatte. Zwei Schritte weiter, aus dem Schutz des steinernen Gebäudes heraus, und der feurige Atem der Katastrophe würde ihn in Asche verwandelt haben.
»Was war das?«, stammelte er und erschrak darüber, wie heiser seine Stimme klang.
Der bullige Schutzmann, der nicht das traditionelle weiße Gewand der Amish trug, sondern eine Uniform aus Hitze abweisendem Elastil, lugte vorsichtig um die Ecke und auf den getroffenen Markt hinaus.
»Eine Aerosolbombe«, hustete er, sich Staub und Ruß aus dem Anzug klopfend.
Pater Bel schob ihn aus dem Weg und trat auf den Platz hinaus. Er erstarrte. Ein Bild des Grauens bot sich ihm, das die schrecklichen Szenen der vergangenen Wochen verblassen ließ. Der Sprengsatz von der Stärke einer thermischen Granate war in das Schulgebäude gefallen, das den südlichen Abschluss der großen Freifläche bildete. Mehrere Dutzend Kinder waren verbrannt. Auch auf dem Vorplatz wälzten sich zahllose Verletzte und Sterbende. Manchen hing die Haut in verkochten Fetzen vom entkleideten Leib. Andere verröchelten mit geplatzten Lungen. Wenige Schritte vor ihm starb ein zehnjähriges Mädchen. Der Explosionsdruck musste sie quer über den riesigen Platz geschleudert haben. Ihr Rücken war aufgerissen und verbrannt. Man sah die rohen Lungenflügel zwischen den zerschmetterten Schulterblättern arbeiten. Ihr Haar war abgesengt. Ihre Beine bildeten zerknickte Muster wie die Gliedmaßen einer zerbrochenen Puppe. Hier kam jede Hilfe zu spät. Dennoch dauerte es erschreckend lange, bis das letzte gequälte Leben aus dem winzigen, zerstörten Leib gewichen war.
Die Scyther waren abgedreht. Während der Pater das sterbende Mädchen in seinen Armen barg, fragte er sich, was diese Zunahme der Gewalt bedeuten mochte. Der Angriff stellte eine neue Qualität dar. Auf den ersten Blick war klar, dass er mehr Opfer gekostet hatte als alle Terrormaßnahmen der letzten Wochen zusammen. Allein in der Schule … Er rang nach Luft, während er spürte, wie das kleine Herz in seinen Armen aufhörte zu schlagen. In dieser Stunde der Verzweiflung konnte er nur ahnen, dass der Angriff etwas mit den nächtlichen Vorgängen zu tun hatte. Stellten sie eine Antwort dar, eine Vergeltung? Worauf? Wofür?
Der Pater schloss dem toten Mädchen die von der Qual geweiteten Augen. Eine Frau kam auf ihn zu. Auch ihr Haar war angesengt. Ihre weiße traditionelle Tracht, von Brand- und Blutflecken besudelt, hing in Fetzen.
»Warum?«, schrie sie, in deren Augen der Schock brodelte. »Warum, Pater?«
Auch Pu Rhea Bel wusste, dass er unter Schock stand. Er war beinahe froh darum. Sich von solchen Ereignissen nicht schockieren zu lassen, wäre eine noch größere Sünde gewesen als die Hilflosigkeit, in der er jetzt Shorena gegenübertrat.
»Ich – weiß es nicht …«, stammelte er rau.
Er versuchte, die verstümmelte Leiche des kleinen Mädchens auf den von Staub bedeckten Steinboden zu betten. Dann erhob er sich unter Schmerzen. Er musste am ganzen Körper grün und blau sein von den zweieinhalb Zentnern des Hünen, der ihn umgeworfen hatte. Doch was war das gegenüber den Verletzungen derer, die verbrannt und gestorben waren?
Während er feststellte, dass er zitterte und sich kaum auf den Beinen halten konnte, sah er die Frau ben Cyrions, der seit Monaten in der Ferne war, traurig und ratlos an.
Auch mehrere Männer kamen auf sie zu und bildeten einen Halbkreis um ihn. Die meisten erwachsenen Amish arbeiteten in den Minen. Die wenigen, die sich im Kibbuz aufgehalten hatten, hatten bei der ersten Sirene alles stehen und liegen gelassen und waren zu den Schutz- und Sanitätsstaffeln gelaufen. Doch was konnten sie ausrichten?
»Warum lassen wir das zu?«, fragte der Hüne, der ihm das Leben gerettet hatte und der jetzt mit verbranntem Gesicht von der Löschung der letzten Brände zurückkam. Es war Ari ben Guron, der Führer der Freiwilligen, die turnusgemäß bei ihren Familien geblieben waren.
Der Pater zuckte die Schultern. Theologische Sophismen zuckten durch seinen Geist. Im Seminar hätte er sich eine brillante Rechtfertigung zurechtlegen können. Aber hier, im wüsten Gestank Dutzender verbrannter Leichen, wurde sie zu Nichts.
»Gott …« Er schüttelte den Kopf. Ein hysterisches Schluchzen rang sich in ihm los.
»Warum lässt Gott es zu?!«, rief Shorena und stemmte die Fäuste in die rußverschmierten Hüften, die nackt unter ihrem zerfetzten Gewand hervorschienen.
Der Pater wagte nicht, sie anzusehen. Er hätte sie fragen müssen, wie viele ihrer sieben Kinder in der Schule gewesen waren …
»Wir müssen uns bewaffnen«, sagte Ari. Der ruhige Bass seiner Leibesfülle gab seinen Worten ein Gewicht, das keine noch so ausgeklügelte Argumentation hätte widerlegen können.
Mehrere andere Männer stimmten ihm zu und schüttelten die Fäuste.
»Wir dürfen uns nicht abschlachten lassen wie Vieh!«, riefen sie. »Ohne etwas zu unternehmen. Ohne uns zur Wehr zu setzen!«
»Wir sollten den Rat einberufen«, schlug Shorena vor. »Ich werde Cyrill schreiben, dass wir ihn hier vor Ort brauchen.« Sie funkelte den Pater zornig an. »Was kümmern uns diese Verhandlungen Gott weiß wo? Sie machen unsere Kinder nicht wieder lebendig!«
Dann bohrte sie den entschlossenen Blick ihrer schwarzen Augen, deren Lachen einst so unwiderstehlich schön gewesen war, in den Pater, bis er begriff. Er trat zur Seite und gab den Leichnam ihrer Tochter frei. Ohne erkennbare Regung bückte sie sich zu dem schwärenden Bündel, lud es auf ihre nackten Arme und ging damit davon.