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Norton I

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Die Anfrage kam am nächsten Morgen. Sie überraschte mich nicht; ich hatte damit gerechnet. Allenfalls der Zeitpunkt hätte einen irritieren können. Hatten wir nichts anderes zu tun?

Das Dossier war um fünf Uhr morgens auf den Teil des StabsLogs überschrieben worden, der dem Zugriff des Kommandanten vorbehalten blieb. Ich wusste daher auch, von wem er stammte.

Die Mauretanier galten als Frühaufsteher. Ihre Arbeitsessen konnten sich den ganzen Vormittag hinziehen. Aber sie legten Wert darauf, das erste Tagewerk schon vorher zu erledigen.

Die Codierung zeigte an, dass die Anfrage persönlich auf meinen gesicherten Bereich des StabsLogs gestellt worden war und nicht etwa mittels einer programmierten Terminierung. Es musste also ein chronischer Nachtarbeiter wie zum Beispiel Direktor Reynolds gewesen sein – oder eben einer der unsympathischen Angehörigen des Mauretanierordens. Ich gab im Stillen einen Tipp ab und öffnete dann das Dokument.

Auch diese Wette hätte ich gewonnen!

Die Anfrage stammte von Dr. Flitebuca, dem weißhaarigen Rat und Stellvertreter Xanda Salanas. Während Salana als Hoher Repräsentant den protokollarischen Pflichten nachkam, Empfänge eröffnete und Sonntagsreden hielt, wirkte Moran Flitebuca im Verborgenen. Er kümmerte sich um die Ausarbeitung der Schriftstücke und Verträge, deren Verabschiedung Salana dann mit viel Champagner und noch mehr Händedrücken feierte. Flitebuca war der Herr des Kleingedruckten. Ein Aktenfresser, Paragrafenreiter, Strippenzieher. Ein Mauretanier eben. Denn dieser Orden hatte es sich zum Ziel gesetzt, einerseits die Schaltstellen der Macht zu besetzen, andererseits aber unter der Oberfläche zu wirken. Es hieß, dass er nur wenige Hundert Mitglieder habe und dass ihre Zahl seit mehreren Jahrhunderten konstant sei. Sterbe ein Mitglied, werde ein neues aufgenommen. Diese wenigen Hundert Männer hielten die Fäden von Politik, Industrie und Militär in der Hand und kontrollierten so – ohne sich um Dinge wie demokratische Legitimierung zu kümmern – die Geschicke der Union seit ihrer Gründung und ihrem Aufbruch ins Zeitalter der interstellaren Exploration.

Es wurde gemunkelt, Jorn Rankveil gehöre dem Orden ebenfalls an. Zumindest würde mich das nicht wundern. Er war der Typ dafür. Und vermutlich war auch Commodore Wiszewsky ein Mauretanier gewesen. Die selbstverständliche Art, wie er das Amt des Kommandanten der MARQUIS DE LAPLACE angetreten hatte, und die gleichzeitig seltsam unspektakuläre Art, wie er es jahrzehntelang geführt hatte, deuteten darauf hin. Bewiesen würde es nie werden. Es schickte sich auch nicht, danach zu fragen. Er würde auch dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen, und wahrscheinlich schon recht bald. Denn sein Gesundheitszustand hatte sich in den letzten Tagen rapide verschlechtert. Der Bordarzt der MARQUIS DE LAPLACE sah mehrmals täglich nach ihm. Und natürlich wich die Komarowa nicht von seiner Seite. Wann hätte sie das je getan?

Das alles erfuhr ich, als ich mich an diesem Morgen in die Kommandantenebene der Schiffsprotokolle einloggte.

Aber das Auffälligste war die Anfrage Dr. Moran Flitebucas. Ihm war aufgefallen, dass sämtliche Flugbewegungen rund um Torus und Parkraum, aber etwa auch im Bereich der Baustellen der MARQUIS DE LAPLACEs II und III, vom telepathischen Kontinuum der Tloxi gesteuert und überwacht wurden. Für einen Zivilisten und Sesselfurzer wie ihn war das eine enorme Leistung. Wahrscheinlich erwartete er im Stillen, dass man ihm Anerkennung zollte.

Tatsächlich war es – seit wir Sina zerschlagen hatten und die Tloxi der Union beigetreten waren –so, dass sämtliche Aktivitäten unserer Schiffe – von Shuttleflügen bis hin zu den intergalaktischen Operationen unserer Lambda-Ionensonden und von Frachtdrohnen bis zu den Missionen unserer schweren Kreuzer –, vom Tloxi-Kontinuum erfasst, koordiniert, gesteuert, überwacht und auch gespeichert wurden.

Dr. Flitebuca hatte nun zu rechnen begonnen und herausgefunden, dass wir unsere eigene Flugsicherung doch eigentlich einsparen könnten. Große Schiffe wie die MARQUIS DE LAPLACE unterhielten bislang einen eigenen Tower, untergebracht im 127. Stockwerk über dem Großen Drohnendeck, der alle Flugbewegungen von EVAs bis zu den Missionen der ENTHYMESIS-Explorer steuerte und überwachte. Und das galt auch für unseren Wartungsraum im Neptunorbit, für unsere Basen vom Asteroidengürtel bis zu den Kolonien im Eschata-Nebel und für Raumstationen wie die Ikosaeder, die wir von den Sinesern übernommen hatten.

Allein auf der MARQUIS DE LAPLACE waren mehrere Dutzend Planstellen dafür vorgesehen. Im Einflussbereich der Union summierten sie sich auf einige Tausend. Flitebuca vertrat die Auffassung, man könne sie sich sparen. Natürlich enthielt das Dokument umfangreiche Anlagen. Aufstellungen und Rechenbeispiele, in denen der Hohe Rat dokumentierte, wie sich – über einen entsprechenden Zeitraum gesehen – Milliarden Dollar freibekommen ließen, die man für andere Aufgabenfelder einsetzen könne, etwa für den Aufbau einer galaktischen Verwaltung.

Xanda Salana und Jorn Rankveil hatten sich dem Vorschlag bereits angeschlossen. Flitebuca hatte ihr Statement ebenfalls angehängt, in dem sie die Maßnahme nicht nur als Effizienzsteigerung priesen, sondern auch als Akt der Vertrauensbildung. Da wir mit den Tloxi ohnehin eng zusammenarbeiteten, könnten diese die Aufrechterhaltung einer Parallelstruktur als Dokument unseres Misstrauens interpretieren. Dem würden wir begegnen, wenn wir die Parallelen beseitigten.

Als Kommandant der MARQUIS DE LAPLACE – immerhin des größten Schiffes, über das die Union verfügte – und ranghöchster diensttuender Offizier eben dieser Union bekam ich die Anfrage zur Kenntnisnahme. Mein Urteil war erwünscht. Entscheiden würde jedoch ein politisches Gremium. Ein unmittelbares Mitspracherecht hatte ich dabei nicht.

Es war klar, dass das Harakiri war. Eigentlich musste es jedem denkenden Menschen einleuchten. Aber wann hätten Politiker je zu den denkenden Menschen gezählt? Wir begaben uns nicht nur in eine noch tiefere technologische Abhängigkeit von den Tloxi. Wir verloren auch jeden Handlungsspielraum für den Fall, dass sie einmal nicht mehr so wollten wie wir. Das Sinesische Imperium war zusammengebrochen, als die Tloxi gemeutert hatten. Ich wollte ja nicht ständig den Teufel an die Wand malen, aber es wäre mir lieb gewesen, die Union hätte die Einsatzbereitschaft ihrer Flotte auch dann bewahrt, wenn die undurchschaubaren kleinen Wesen es sich wieder einmal anders überlegten.

Ich setzte ein entsprechendes Memorandum auf. Die Union … – Aber wir alle waren jetzt die Union, sogar Sineser, Zthronmic und Amish gehörten dazu. Man musste sagen: die alte Union, der Teil der raumfahrenden Menschheit, der vor mehreren Jahrhunderten terrestrischer Zeit beschlossen hatte, die interstellare Herausforderung anzunehmen. Das war ein bisschen umständlich, zumal für ein Schriftstück, das anderthalb bis zwei Leseminuten auf keinen Fall überschreiten durfte. Ich nahm Zuflucht zu einem Trick. Statt »Der Teil der raumfahrenden und so weiter« schrieb ich: »Wir«. Sollte jeder für sich selbst entscheiden, ob er zu diesem Wir gehörte oder nicht.

»Wir können es uns«, schrieb ich, »nicht leisten, organisatorisch und technologisch in noch weiter gehendem Maße von den Tloxi abhängig zu werden, als wir das ohnehin schon sind. Darin ist kein Misstrauen ausgedrückt, sondern lediglich der Ansporn formuliert, dass wir – und das heißt letztlich: jeder Einzelne – unsere Fähigkeiten jeden einzelnen Tag unter Beweis stellen und fortentwickeln müssen. Gerade wenn wir den Anspruch erheben, die Galaxis zu verwalten« – das hässliche Wörtlein »beherrschen« hatte ich ausgespart; es hätte in diesem Kontext kontraproduktiv gewirkt – »und die Hinterlassenschaft des Sinesischen Imperiums in ein friedliches und ziviles Miteinander zu überführen, können wir es uns nicht leisten, einer Haltung der Bequemlichkeit und der kurzfristigen Effekte Vorschub zu leisten. Gez. Commodore Frank Norton, Kommandant der MARQUIS DE LAPLACE.«

Ich schickte das Memorandum an meinen gesamten Verteiler im StabsLog der fliegenden Crew und der Planetarischen Abteilung, unter anderem also an Dr. Rogers und Direktor Reynolds, von denen ich mir Unterstützung erhoffte, und natürlich auch an die abwesende Jennifer, die sich mit anderen Problemen herumschlug. Aber wer wusste es zu sagen? Vielleicht waren ihre Probleme gar nicht so weit von dem entfernt, worum es hier ging. Die Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit der »alten« Union, die sich gerade anschickte, die Galaktische Karte zu spielen, und die sich dabei nicht selbst unnötige Fesseln anlegen durfte – weder technologisch noch organisatorisch, weder wissenschaftlich noch militärisch, weder politisch noch juristisch, weder ideologisch noch moralisch. Wir standen im Begriff, ein neues Zeitalter zu eröffnen, und mir war sehr daran gelegen, dass wir dies ohne Einschränkungen oder Hypotheken taten.

Anschließend begab ich mich auf den Torus. Für gewöhnlich trat ich die kurze Passage erst nach Feierabend an, wenn ich meinen Dienst als Kommandant der MARQUIS DE LAPLACE beendet hatte. Aber auf dem Schiff gab es vorderhand wenig zu tun. Die Geschehnisse auf dem Kongress schienen dagegen einer Entscheidung zuzustreben. Das hatte sich mir schon morgens aufgedrängt, als ich die aktuellen Meldungen des StabsLogs abgerufen hatte. Der Eindruck bestätigte sich, als ich unterhalb der großen Agora aus der Schleusenkammer trat.

Der Torus war kaum wiederzuerkennen. Schon nach dem Attentat auf unseren Frachter waren die Sicherheitsvorkehrungen verschärft worden. Wachen waren verdoppelt, Kontrollen verstärkt, die Bewegungsfreiheit eingeschränkt worden. Doch war das im Rückblick kaum ein Vorspiel zu dem, was mich jetzt erwartete.

Ich hatte das Shuttle verlassen, hatte mich ausgewiesen, war durchleuchtet und sogar abgetastet worden. Jetzt kam ich auf den Hauptweg innerhalb des Torus hinaus, die mehrere Hundert Meter breite, hundert Kilometer über unseren Köpfen in sich zurückgekrümmte Halle, die die transparente Weite eines Raumhafenhangars und das kosmopolitische Gewusel eines galaktischen Basars in sich vereinigte. Patrouillierende Tloxi-Trupps und Wachmannschaften der Union waren allgegenwärtig. Dazwischen bildeten die Delegationen der einzelnen Völkerschaften abgeschottete Grüppchen, die wie Inseln aus dem Meer der Sicherheitskräfte aufragten. Boten, Zuträger, Referenten und Angehörige des protokollarischen Dienstes liefen dazwischen herum. Die Delegationsleiter hielten kurze Ansprachen an ihre Fraktionen und schworen sie auf die kommende Sitzung ein. Es war wie bei einem Turnier, bei dem die Trainer ihrer Teams noch einmal um sich scharten und sie mit ritualisierten Schlachtrufen für die anstehenden Auseinandersetzungen aufpeitschten. Statt eines sportlichen Wettkampfes, so hatte ich den Eindruck, standen jedoch Auseinandersetzungen auf Leben und Tod an.

Von einem fröhlichen oder auch nur geschäftsmäßigen Ton, wie er dem gemeinschaftlichen und vertrauensvollen Aufbau einer galaktischen Großorganisation entsprochen hätte, war endgültig nichts mehr zu spüren. Stattdessen herrschte eine eisige und feindselige Atmosphäre vor. Wenn zwei Delegationen einander auf ihrem Weg durch die weiten Ebenen des Torus kreuzten, gifteten und fauchten sie einander in den abenteuerlichsten Idiomen der Galaxis an. Tloxi-Aufpasser, die dazwischenzugehen versuchten, wurden von Zthronmic oder Sinesern mit äußerster Brutalität beiseitegeschoben. Einige zerschellten, als sie durch die Luft geschleudert wurden. Ihre emsigen Geschwister bargen die Trümmer und brachten sie zur Rekonstruktion in Sicherheit. Aber auch die Hostessen und Wachmänner der Union mussten sich hüten, den aufgebrachten Gesandtschaften nicht zu nahe zu treten.

Andere – wie die Amish oder die Prana-Bindu – würdigten den ganzen Aufruhr keines Blickes und schritten mit stolzem Schweigen durch das Tohuwabohu. Mein Blick fiel auf Cyrill ben Cyrion, der mir mit der Kargheit eines englischen Butlers zunickte.

Als die gravimetrischen Tore sich zur Großen Agora öffneten und die Delegationen eingelassen wurden, sah ich, dass Cyrill sich sofort zum Podium begab, wo Laertes den Platz des Vorsitzenden eingenommen hatte. Die Sitte, den Leiter des Konvents vor Beginn einer Debatte zu begrüßen, war von den meisten Abordnungen still und leise fallen gelassen worden. Cyrill schien einer der Letzten zu sein, der sich ihrer noch erinnerte. Er nutzte die steife und formelle Begrüßung, um Laertes etwas zu überreichen. Es war ein faustgroßer Kristall, in den ein Qchip eingelassen war. Vermutlich eine Protestnote oder ein Memorandum. Der Träger bestand aus reinem kristallinen Zthrontat. Allein der materielle Wert musste unermesslich sein. Ein exquisiter Traum der Materie, geträumt in den Tiefen eines gewaltigen Gebirges auf einem abweisenden Planeten irgendwo in den östlichen Quadranten der Galaxis.

Der Kristall war von großer symmetrischer Perfektion. Er glich einem Diamanten von einigen Tausend Karat. Allerdings war sein Feuer nicht ganz so reich wie das eines natürlichen Brillanten. Schiefrige Splitter oder Substrukturen schienen in den hexagonalen Stein eingesprengt zu sein.

Einen Quantenchip, auf dem eine Note von wenigen Sätzen zu Protokoll gegeben wurde, in ein solches Kleinod einzubetten, kam einer Arroganz gleich, die selbst im Fall der Amish beeindruckte. Ich sah, dass Laertes Cyrill die Hand reichte und den Vorsitzenden der amishen Delegation, der sich sofort hatte abwenden wollen, zu einem kurzen Gespräch beiseite nahm. Unser alter Chefideologe wirkte ernst und besorgt. Er schien ben Cyrion ins Gewissen zu reden. Natürlich konnte ich nicht verstehen, was gesprochen wurde.

Die Sitzung war öffentlich. Deshalb konnte ich in einer der Besucherboxen Platz nehmen, die auf halber Höhe über den Sitzgruppen und Tribünen der offiziellen Delegationen und ihrer nachgeordneten Mitarbeiter und Referenten schwebten. Laertes war auf die Idee verfallen, in regelmäßigen Abständen offene Aussprachen abhalten zu lassen. Da die Sitzungen, die der Verabschiedung der einzelnen Paragrafen der neuen Charta dienten, regelmäßig in Grundsatzdiskussionen auszuarten drohten, waren hin und wieder freie Debatten angesetzt, in denen die Delegationen ihre Sicht der Dinge ausführlich und im Zusammenhang darlegen konnten. Diese Debatten konnten von allen Angehörigen der beteiligten Völker besucht werden; sie wurden unzensiert im StabsLog übertragen. Deshalb wurde das Instrument rasch angenommen und die einzelnen Völker nutzten es, um sich vor der noch weitgehend virtuellen Öffentlichkeit der neuen Union in Szene zu setzen.

Der Zufall wollte es, dass an diesem Vormittag kein Geringerer als Zthron Muqa Zthé das Rederecht hatte, der Vorsitzende der zthronmischen Delegation. Er wirkte wie ein Säbelzahntiger, den man in eine von Orden lastende Uniform gezwängt hatte und der sich unbeholfen am aufrechten Gang versuchte. Allerdings war seine Erscheinung beeindruckend, um nicht zu sagen: einschüchternd genug. Hoch aufgerichtet, überragte er jeden erwachsenen Mann um mehrere Haupteslängen. An Manschetten und Kragen quoll struppiges gelbes Raubtierfell aus seinem Kampfanzug. Und handlange Reißzähne brachen aus seinem Furcht einflößenden Maul, das unablässig ein geiferndes und bebendes Brüllen ausstieß. Dass die übersetzende KI eine smarte junge Frauenstimme wählte und die Tiraden des Anführers in geschliffener Diktion vortrug, machte einen nicht unwesentlichen Anteil an der hochgradig skurrilen und grotesken Anmutung des Auftrittes aus.

In letzter Sekunde drückte ich mich in die Besucherbox. Das Haifischgrinsen eines Dr. Rogers strahlte mir entgegen, der auf einem der wenigen freien Sitze in der hintersten Reihe Platz genommen hatte. Er wies neben sich und ich beeilte mich, mich auf den gravimetrischen Sessel zu quetschen.

Die Vorderfront der Box bestand aus gewölbtem Elastalglas. Wir vergewisserten uns, dass es einseitig polarisiert war, sodass man uns vom Plenum aus nicht sehen konnte. Zwar war der Blickwinkel ungünstig – wir sahen über die Tribünen der Delegierten hinweg und vom Rednerpodium aus war man von Scheinwerfern geblendet –, aber wir wollten sichergehen, dass uns die Angehörigen der fremden Abordnungen nicht bemerkten. Für einige von ihnen – die Sineser natürlich und in ihrem Gefolge Zthronmic und Laya – waren wir Militaristen und Kriegsverbrecher. Hätten sie unsere Anwesenheit geahnt, hätten sie sich nicht zu der Freimütigkeit hinreißen lassen, die die einzige Rechtfertigung der zu erwartenden Veranstaltung sein konnte.

Ich musste Laertes im Stillen zu seinem Schachzug gratulieren: den Führern der zwielichtigsten Völkerschaften eine Plattform bieten, auf der sie sich ungehemmt produzieren konnten. Man wusste dann immerhin, woran man mit ihnen war. Die meisten Äußerungen, die hier fielen – und Muqa Zthés Rede würde mit Sicherheit nicht enttäuschen –, waren haarsträubend, hatten aber den Vorzug der Offenheit. Wenn einem einer mitten ins Gesicht sagte, dass er einen hasste oder dass er einen auszulöschen wünschte, war das mehr wert als die tausend und abertausend Druckseiten an diplomatischem Gesäusel, die der Kongress in den vergangenen Monaten angehäuft hatte.

Ich begrüßte Dr. Rogers mit einem kantigen Händedruck und zwängte mich neben ihn in die erstaunlich schmale gravimetrische Bank. Auf einem kleinen Display vor mir öffnete sich die Protokollfunktion des StabsLogs. Wir sahen die Tagesordnungspunkte, die Reihenfolge der Redner, die vorgesehene Agenda.

In einer Leiste am unteren Rand des sensorischen Monitors liefen sonstige Meldungen durch. Ich kannte sie teilweise schon von meiner morgendlichen Abfrage auf der Brücke der MARQUIS DE LAPLACE. Es war wieder zu mehreren schweren Übergriffen auf Zthronmia gekommen. Zthronmische Scyther – ich konnte mir darunter wenig vorstellen, es musste sich um einen Typ schneller Jagdbomber handeln – hatten mehrere amishe Kibbuzim bombardiert. Darunter befand sich auch der Pueblo S’Deró, aus dem Cyrill ben Cyrion stammte. Ich begriff die selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich strenge Haltung, die er an diesem Morgen zur Schau getragen hatte. Er musste in großer Sorge um die Seinen schweben. Oder wusste er schon mehr, als in den offiziellen Kommuniqués verlautbarte?

Unten ertönte die Glocke. Die wenigen Delegationen, die den Schein eines einvernehmlichen Miteinanders mitspielten, erhoben sich und versuchten, dem Vorgang einen Rest von Würde zu geben. Laertes trat ans Rednerpult. Die Abgeordneten nahmen ihre Plätze wieder ein.

Laertes sprach einige unverbindliche Worte, in denen er die Vision einer friedlichen und zivilen Union beschwor, in der gemeinsame Werte galten, Gewalt geächtet war und Konflikte auf dem Verhandlungswege beigelegt wurden. Dünner Applaus erfolgte vonseiten der alten Union und einiger anderer Fraktionen. Sein Tröpfeln sagte mehr über den Zustand der Veranstaltung aus als alle Reden, die hier noch gehalten werden konnten. Nicht einmal alle Delegierte der alten Union stimmten mehr ein. Auch durch diese Fraktion ging seit dem Rücktritt Kommissar Rankveils ein tiefer Riss. Sineser und Zthronmic, aber auch Laya und Amish verzogen keine Miene.

Laertes räusperte sich. Er schien stark gealtert. Auch er, musste ich im Stillen denken. Commodore Wiszewsky lag im Sterben. Sein Ableben war nach allem, was man hörte, nur noch eine Sache von Tagen. Und auch der alte Haudegen und Schlachtenlenker General a. D. Rogers war nur noch ein Schatten seiner selbst, was besonders in den Vormittagsstunden sichtbar wurde, wenn der Whiskey des letzten Abends seine Augen rötete und er sich die Dosis des neuen Tages noch für eine oder zwei Stunden verkniff. Vom Elan des Helden von Persephone war wenig übrig. Und als Laertes jetzt das Wort an Muqa Zthé abgab und zu seinem Platz auf der rückwärtigen Empore schräg hinter dem Rednerpult schlich, war es, als trete eine ganze Generation ab. Die Goldene Generation verließ die Bühne der Galaxis, die sie selbst erschaffen hatte. In Besitz nehmen vermochte sie sie – wie Moses das Gelobte Land – nicht mehr.

Die Übertragung des StabsLogs schrillte und pfiff, als Zthrons erste, nach Raubtierart herausgebrüllte Sätze das System übersteuerten und an den Rand des Zusammenbruchs brachten. Dann hatte die KI die Übertragung heruntergeregelt. Zthrons Bellen und Röhren wurde unhörbar. Wir verstanden die emotionslose und unverbindliche Stimme der Übersetzungsintelligenz, deren Kontrast zu dem sich löwenhaft gebärdenden Anführer der Zthronmic kaum hätte drastischer sein können.

Muqa Zthé begann mit einem wohlberechneten Sarkasmus.

»Ich sollte mich jetzt vermutlich bei dem Vorsitzenden dafür bedanken, dass er mir das Wort erteilt hat. Aber wir Zthronmic lassen uns nicht das Wort erteilen, sondern wir nehmen es uns, wann immer wir etwas zu sagen haben, und wir bedanken uns nicht dafür, dass wir unsere Meinung aussprechen dürfen. Wir sind heute hier zu einer Generaldebatte zusammengekommen. Zu einer Grundsatzdiskussion, einer Aussprache ohne vorher festgelegtes Thema. Ich möchte die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, meine Sicht der Dinge ausführlich und vorbehaltlos darzustellen. Meine Ansicht im Besonderen und die des heroischen Volkes der Zthronmic – für das ich in Gänze zu sprechen behaupte – im Allgemeinen.

Die Zthronmic haben sich vor einiger Zeit der Union angeschlossen. Wir sind dem Beispiel der Sineser und einiger anderer Völker gefolgt, denen wir uns seit vielen Jahrhunderten eng verbunden fühlen. Aus unserer Skepsis gegenüber diesem Schritt haben wir nie einen Hehl gemacht. Wir wollten es darauf ankommen lassen, wir wollten – wie es in Ihrer Sprache heißt – die Probe aufs Exempel machen. Das Ergebnis war vorhersehbar. Leider muss ich konstatieren, dass wir enttäuscht wurden. Wir hatten es nicht anders erwartet. Wenn Sie gestatten, möchte ich diesen Gedanken etwas ausführlicher darstellen.

Die Union gibt sich den Anschein eines Zusammenschlusses freier Völker, der von gegenseitiger Achtung und Respekt getragen sein soll. Sie garantiert Würde und Leben jedes einzelnen Angehörigen jedes einzelnen Volkes. Sie sichert Glaubensfreiheit und kulturelle Selbständigkeit zu. Sie ächtet die Gewalt und den Krieg. Sie verpflichtet sich auf ein friedliches Miteinander, bei dem allen Völkern und allen Individuen – soweit dieser Begriff bei ihnen tragfähig erscheint – umfassende Rechte zukommen. Alle sollen gleich vor dem Gesetz und der Charta der Union sein. Es gibt keine Vorrechte, keine Privilegien, keine geborenen Führer oder führenden Nationen, sondern es herrscht Gleichberechtigung und die Einklagbarkeit objektiver Garantien vor unabhängigen Gerichten.«

An dieser Stelle schwieg Zthron für einen Augenblick. Es war erstaunlich still im Saal. Selbst die für ihren Radau bekannten Delegationen hörten aufmerksam zu. Die Amish saßen mit stocksteifen Rücken da und verzogen keine Miene, während auf den Fratzen der Zthronmic und Sineser schon der Triumph des nahen Gegenstoßes glitzerte.

»Das alles«, fuhr Muqa Zthé nach einer Atempause fort, »hat man uns in Aussicht gestellt. Man hat es uns versprochen, uns damit gelockt, der Union beizutreten und uns dem kommenden Zeitalter des Friedens und der Gerechtigkeit nicht zu verweigern. Jeder einzelne Satz dieser Charta ist in diesem Gremium und in den Ausschüssen leidenschaftlich diskutiert worden. Die Charta selbst war Gegenstand erbitterter Debatten und eines verbissenen politischen und juristischen Ringens um Formulierungen und Verbindlichkeiten. Endlich schien eine Einigung erzielt, die von allen Völkern unserer Galaxis mitgetragen werden konnte. Auch wir wollten nicht abseits stehen. Schließlich setzten wir unsere Unterschrift unter das Dokument und traten der Union als Vollmitglieder bei – mit allen Rechten und Pflichten.«

Er beugte sich drohend vor und ließ die Blicke seiner glühenden Raubtieraugen über die Reihen der Delegierten schweifen. Den Abgeordneten der (alten) Union stockte der Atem. Die Haltung der Amish wurde, falls das überhaupt möglich war, um eine Spur eisiger. Zthronmic und Sineser holten Luft, um gemeinsam mit Zthés Antithese loszuschreien. Diese ließ nun auch nicht länger auf sich warten.

»Doch wie sehr wurden wir getäuscht!«, brüllte das ordenklirrende Monstrum. »Wir ließen uns auf das Spielchen ein und augenblicklich belehrte man uns eines Besseren. Man zeigte uns – in lehrhafter Schmerzlichkeit –, wie die hehren Worte und die hochherzigen Garantien zu verstehen waren. Sie waren, das erwies sich rasch, das Pergament nicht wert, auf dem die kostbaren Urkunden abgefasst waren. Sie wogen die Speicherkristalle nicht auf, auf denen sie, scheinbar für alle Zeit, niedergelegt worden waren. Was wir im Stillen befürchtet und in zahllosen Debatten laut ausgesprochen hatten, es zeigte sich leider allzu schnell und allzu deutlich als die nackte grausame Wahrheit. Die Gleichheit aller Völker und Individuen? Sie ist nichts wert! Die Souveränität und Selbstbestimmung? Hohle Phrasen! Die Ächtung von Gewalt und Willkür? War schneller vom Tisch, als die Tinte unserer Unterschriften zum Trocknen brauchte!«

Jetzt brach der Sturm vielstimmigen Jubels los. Zthronmic und Laya, Sineser und kuLau waren aufgesprungen und verwandelten das Plenum im Amphitheater der großen Agora in einen Hexenkessel. Zthron ließ die tobende Masse einige Augenblicke gewähren. Der Orkan ihrer frenetischen Beifallsbekundungen raste durch den Versammlungssaal. Dann breitete er beschwichtigend die zottigen Arme aus. Mit den mächtigen Pranken, deren Schlag einen erwachsenen Mann hätte zerschmettern können, gebot er der Menge seiner Sympathisanten Schweigen. Er war ein Dirigent, der sein Orchester im Griff hatte. Eine Nuance seines Gesichtsausdrucks ließ Chöre von Entrüstung losbrechen und wieder ersterben. Er war ein Volkstribun, der über einen wütenden, mordgierigen Mob gebot. Ein Wort von ihm, und dieser Mob würde sich wie ein Lavastrom aus den Türen wälzen und draußen alles unter sich begraben, was so töricht war, sich ihm in den Weg zu stellen. Er hatte die Mehrheit des Konvents in seiner Hand. Er gebot den Repräsentanten von Völkern, die die halbe Galaxie darstellten. Und auf einen Wink von ihm würden sie sich in Bewegung setzen und alles niederreißen, was niederzureißen er ihnen anheim stellte.

Ich wechselte einen Blick mit Dr. Rogers, der unbeeindruckt neben mir saß. Mit einer unmerklichen Handbewegung ließ er das Bild auf seinem Monitor umspringen. Es zeigte jetzt einen der angrenzenden Säle, in denen sich die Delegationen für Zwischenberatungen zu treffen pflegten. Jetzt hielt sich dort eine schwer bewaffnete Schutztruppe bereit. Es mussten mehrere Hundert Mann sein, die dicht gedrängt ausharrten, das Geschehen im Plenum auf einem kleinen Schirm des StabsLogs verfolgten und ihrerseits nur auf ein Zeichen ihres Vorgesetzten warteten, um die Agora zu stürmen und die aufgebrachte Masse mit Waffengewalt zu zerstreuen.

Aber das allein erklärte nicht Rogers’ Ruhe. Er musste über weitergehende Informationen verfügen. Was wusste er? Hielt er etwas vor mir geheim?

Aber indem ich meine Aufmerksamkeit wieder der Vollversammlung zuwandte und den mit ausgebreiteten Armen am Rednerpult verharrenden Zthron Muqa Zthé betrachtete, begriff ich, dass es nicht zum Äußersten kommen würde. Heute noch nicht. Auch dies war nur eine Demonstration. Eine kleine Vorführung dessen, wozu man fähig war.

»Wir wurden getäuscht«, fuhr Zthron fort. »In allen Punkten und in jeglichem Betracht. Ich möchte ein Beispiel aus den letzten Tagen erwähnen, um das zu veranschaulichen. Mir ist bewusst, dass diese Rede von der Protokollfunktion des StabsLogs aufgezeichnet und in alle Teile der Galaxis übertragen wird. Ich spreche also zur Öffentlichkeit unserer versammelten Völker. Und ich wende mich an die Geschichte als an die unabhängige Richterin, die über diesen Fall einst wird befinden müssen.«

»Achtung!«, sagte Dr. Rogers halblaut neben mir. Aber es war nicht nötig, mich zur Konzentration zu mahnen. Auch weil ich in groben Zügen ahnte, was jetzt kommen würde, hing ich atemlos an Zthrons geifernden, von mächtigen Hauern entstellten Lippen.

»Vor wenig mehr als vierundzwanzig Stunden – um uns auf die Standards unserer hochgepriesenen Union einzulassen – kam es in einem niedrigen Orbit über unserer heiligen Heimatwelt Zthronmia zu einem bedauerlichen und bezeichnenden Zwischenfall. Ein Frachter der Union, der alten Union, wie man bei diesen delikaten Sachverhalten immer sagen muss, trieb manövrierunfähig dahin. Das Schiff war havariert. Sein Kurs war instabil. Es war abzusehen, dass es innerhalb weniger Standardstunden auf den Planeten stürzen würde. Dummerweise hatte es mehrere Zehntausend Tonnen hochverdichteten Plasmas geladen, die dabei in Flammen aufgehen und die fragile Luftschicht unserer Heimat kontaminieren würden.«

Das war nun wirklich dreist! Ich hatte nicht damit gerechnet, die Zthronmic zerknirscht und schuldbewusst wegen des Vorfalls anzutreffen. Dass sie sich – auf die Massakrierung unserer Crew und die Aufbringung der ENCOURAGE angesprochen – herausreden würden, verstand sich von selbst. Dass sie das Thema aber von sich aus ansprechen und ihr Verbrechen zu einer Waffe gegen uns schmieden würden, übertraf meine kühnsten Erwartungen.

Dr. Rogers zog beeindruckt die Stirne kraus.

»Das ist impertinent«, flüsterte ich.

»Es ist brillant«, gab er zurück und in seiner Stimme schwang offene Anerkennung. Er war stets ein Soldat gewesen, der dem Ideal der Ritterlichkeit verpflichtet geblieben war. Viel Feind, viel Ehr, war seine Devise. Und die Sache hatte ihm immer umso mehr Spaß gemacht, je tapferer und tüchtiger sich die Gegenseite erwiesen hatte. Gemessen an den Sinesern waren ihm die Zthronmic als Gegner zweiter Klasse erschienen, die im Grunde kaum satisfaktionsfähig waren. Zthron Muqa Zthés rhetorisch aggressive Schachzüge schienen ihn eines anderen zu belehren. Für ihn war das ein Leckerbissen. Er lechzte danach, diesem Wesen in der offenen Feldschlacht gegenüberzutreten.

»Die Zthronmic«, führte Zthé aus, »versuchten, den Frachter zu bergen. Als dies nicht gelingen konnte, da seine Bahn zu sehr abgesunken war, bemühte man sich, das Plasma abzupumpen, um es vor dem Verglühen und die Atmosphäre vor der Kontaminierung zu bewahren. Dann ereignete sich der Zwischenfall, auf den ich bereits angesprochen hatte …«

Doch hier und jetzt, im Plenum der Großen Agora, ereignete sich ebenfalls etwas, auf das keiner von uns vorbereitet war. Die Sirene ertönte, mit der der Vorsitzende einen Redebeitrag unterbrechen und sich selbst das Wort zurückerobern konnte. Sofort erhob sich der zu erwartende Tumult. Zthronmic und Sineser schrien auf Laertes ein, der Vorsitzende habe nicht das Recht, sich in den Debattenbeitrag einer freien Aussprache einzuschalten.

Laertes hatte sich ganz ruhig erhoben. Während Zthron noch verdutzt, für einen Augenblick überrumpelt, auf sein ertaubtes Mikrofon starrte, ließ der alte Chefideologe der neuen und alten Union seine Stimme ertönen.

»Ich vermag Ihrem Widerspruch nicht stattzugeben«, sagte er in Richtung der Zthronmic, Laya und Sineser, die aus ihren Sitzen aufgesprungen waren und wild gestikulierten. »Der Vorsitzende ist zu Neutralität und Zurückhaltung verpflichtet. Er darf laufende Redebeiträge nicht ohne zureichenden Grund unterbrechen und sich nicht willkürlich in Diskussionen einschalten. Ein Recht hat er allerdings. Er darf intervenieren, wenn er den Eindruck gewonnen hat, dass ein Redner wissentlich und willentlich falsche Fakten verwendet oder auf eine Weise argumentiert, die erkennbar nicht mit der Wahrheit in Einklang zu bringen ist.«

Zthron Muqa Zthé glotzte ihn sprachlos an. Vermutlich überlegte er, ob er ihn in der Luft zerreißen sollte. Der greise Philosoph ließ sich von der einschüchternden Nähe des Monstrums und seiner physischen Überlegenheit nicht im Geringsten beeindrucken.

Die KI war für Augenblicke überfordert, das Durcheinander aus Schreien der unterschiedlichsten Idiome wiederzugeben. Zthron schien Laertes eher ungläubig als empört zu fragen, ob er ihn in aller Öffentlichkeit der Lüge zeihe. Daraufhin ging Laertes zu einem zweiten Pult, das auf der Seite des Podiums aufgeschlagen war. Bei kontroversen Debatten konnte hier ein Redner der Gegenpartei das Wort nehmen und so gewissermaßen die Position des Staatsanwalts vertreten. Diese Position nahm nun, was ungewöhnlich genug war, Laertes als der Vorsitzende des Konvents selbst ein. Ein präzedenzloser Vorgang, der alles bisher Dagewesene über den Haufen warf.

Dr. Rogers kroch beinahe in sein Display hinein. Er sah aus, als wäre er am liebsten über die Absperrung geklettert und hätte sich ins Geschehen gemischt. Für ihn war das eine besonders spannenden Partie 3D-Schach oder ein glänzendes Turnier im Holo-Billard.

»Keine Angst«, sagte Laertes unten in aufreizender Ruhe und Gelassenheit an Zthés Adresse, »Sie bekommen das Wort gleich wieder, um sich zu verteidigen. Ich fühle mich nur meinem Amt gegenüber verpflichtet, einige Dinge klarzustellen.«

Zthron fauchte etwas vor sich hin, das die KI unübersetzt ließ. Vermutlich war es besser so.

»Soweit ich weiß«, sagte Laertes, »war der Frachter ENCOURAGE II, um den es sich hier handelt, keineswegs havariert. Er wurde vielmehr von einem zthronmischen Kommando aufgebracht und geentert. Die Mannschaft wurde auf bestialische Weise massakriert. Uns liegen die Aufnahmen der Bordkameras vor, die den barbarischen Akt in Bild und Ton dokumentieren. Wenn Sie, lieber Zthron, das Folgende für sich zu reklamieren versuchen, müssen Sie auch die Verantwortung für die Aufbringung des Schiffes und Ermordung seiner Crew übernehmen.«

Der Wahnsinn, der sich jetzt im Plenum abspielte, ließ mich um das Leben des alten Philosophen fürchten. Einige Soldaten der Wachmannschaft rückten demonstrativ vor. Bis zur offenen Saalschlacht schien es nur noch ein Schritt zu sein.

Zthron blieb vollkommen ruhig. Er war sich seiner Sache viel zu sicher, als dass er sich von Laertes hätte aus dem Konzept bringen lassen.

»Von einem solchen Überfall ist mir nichts bekannt«, sagte er. »Es muss sich um ein Kommando einer Splittergruppe gehandelt haben, die sich von der zthronmischen Zentralregierung losgesagt hat. Für eine solche Gruppe können wir selbstverständlich keine Verantwortung übernehmen.«

Laertes nickte. »Wir nehmen das so ins Protokoll. Eine spätere Untersuchung …«

»Eine weitergehende Untersuchung«, fiel Zthron ihm jetzt in wohldosiertem Auftrumpfen ins Wort, »ist leider nicht mehr möglich, da sämtliche Beweise vernichtet wurden. Ich komme jetzt dazu, den eigentlichen Vorfall zu schildern. Als unsere Crew damit beschäftigt war, den Frachter zu sichern und die Ladung aus hochexplosivem und giftigem Plasma zu bergen, wurde sie ohne Vorwarnung von einem Schiff der Union – der alten Union – angegriffen und unter Feuer genommen. Ihr Shuttle wurde zerstört, wodurch ihr der Rückzug aus dem havarierten Schiff unmöglich wurde. Die Mannschaft kam des Frachters ums Leben. Mehrere Zehntausend Tonnen Treibstoff gingen in der hohen Atmosphäre in Flammen auf, erhellten die Nacht über unseren Städten und kontaminierten die ohnehin dünne und anfällige Lufthülle unserer Heimatwelt.«

Er breitete wieder die Arme aus und gebot seiner Gefolgschaft Schweigen. Die meisten hatten schon Luft geholt, um Laertes endgültig niederzuschreien. Sie mussten sich noch für Augenblicke gedulden. Doch mit jeder Sekunde, um die sie zurückgestaut wurde, wurde die Lawine zerstörerischer, die nun sofort losbrechen musste.

»Das Schiff«, brüllte Zthron Muqa Zthé, »war der Explorer ENTHYMESIS, ein Schiff der alten Union. Die verantwortliche Pilotin war Jennifer Ash, eine Offizierin im militärischen Rang eines Commodore, die auch schon während früherer Konflikte für zahlreiche völkerrechtswidrige Angriffe stand. Dies ist also die Unabhängigkeit der gepriesenen Union. Dies ist ihre Achtung vor Souveränität und Selbstbestimmung der Völker. Dies ist ihr Verzicht auf willkürliche Gewalt!«

Jetzt riss er die zottigen, unverhältnismäßig langen Arme in die Höhe. Ein einziger Aufschrei aus Dutzenden Kehlen war die Folge.

Laertes stand ungerührt inmitten des Orkans, obwohl es von der ersten Reihe der zthronmischen Delegation nur ein Schritt bis zu seinem Rednerpult war. Was machte ihn so sicher? Er musste mit dem Leben abgeschlossen haben, ehe er sich auf ein solches Abenteuer einließ. Aber vermutlich hätte der alte Stoiker nur gelächelt über meine laienhafte Vorstellung.

Erstaunlich blieb immerhin, dass auch die Amish den Auftritt unbeeindruckt über sich hinweggehen ließen. Sie saßen da, die Arme vor der Brust verschränkt, die würdigen Häupter stolz erhoben, und zuckten mit keiner Wimper, während links und rechts von ihnen urtümliche Kreaturen Zeter und Mordio brüllten.

»Ich fordere«, rief Zthron – wobei er sich mehr an seine Anhänger wandte als an die, denen gegenüber er seine Unverschämtheiten vorzubringen hatte –, »ich fordere Entschädigung für das zerstörte Shuttle, die getötete Crew und die Kontaminierung der Atmosphäre. Ich verlange eine Entschuldigung der Union – der alten Union –, für die in diesem feigen Überfall zum Ausdruck kommende Arroganz und Selbstherrlichkeit. Und ich beantrage, dass die durch nichts gerechtfertigte Überwachungs- und Bespitzelungsmission, die immer noch eine Raumstation im Orbit unserer Heimatwelt besetzt hält, umgehend für beendet erklärt wird. Die Besatzung dieser Orbitalstation ist abzuziehen, die Station selbst der Obhut meines Volkes zu unterstellen. Die Höhe der Entschädigung werden wir nach eigenem Gutdünken festlegen.«

Er sah mit triumphierender Grimasse über die Scharen seiner Gefolgsleute, die mit erhobenen Pranken und glühenden Augen an ihm hingen.

»Wenn die alte Union in diesem Sinne die Verantwortung übernimmt, unsere Forderungen erfüllt und sich in aller Form bei uns entschuldigt, werden wir darüber nachdenken, ob wir der neuen und erweiterten Union in Zukunft angehören wollen. Sollte dies nicht der Fall sein, werden wir unseren Austritt aus dieser heuchlerischen und verbrecherischen Organisation erklären.«

Er trat an die Rampe und nahm die Huldigung seiner aufgeputschten Anhänger entgegen. Wie ein Opernsänger, der sich nach der Arie von seiner Claque feiern lässt. Danach schien er gewillt, das Podium zu räumen und die Sache sich selbst zu überlassen. Es war ihm um den Auftritt als solchen gegangen. Was auf seine Forderungen erwidert und was aus der Union als solcher würde, war ihm vollkommen egal.

Doch er kam nicht dazu, sich ins Plenum zurückzubegeben und in die johlenden Reihen seiner Delegation einzuschmelzen.

»Ein Wort noch«, rief Laertes. »Abgeordneter Zthron Muqa Zthé.«

Der Angesprochene verharrte mitten in der Bewegung. Auf halber Strecke zwischen Rednerpult und seinem Sitzplatz in der ersten Reihe der zthronmischen Fraktion, blieb er stehen und glotzte den Vorsitzenden mit gespielter Verständnislosigkeit an.

»Wir können«, sagte Laertes, »diesen Tagesordnungspunkt nicht zu den Akten nehmen, ohne das Bild zu vervollständigen. Zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form auch immer sich eine Kommission mit den Vorgängen im Orbit über Zthronmia befassen wird, sie sollte doch von einem weiteren Detail nicht ohne Kenntnis bleiben.«

Er nickte ins Plenum, in Richtung der amishen Delegation. Cyrill ben Cyrion, als ihr Vorsitzender, erhob sich, blieb aber wortlos stehen und bedeutete Laertes mit einer knappen Geste, er möge den Sachverhalt selbst darlegen.

»Vor Eröffnung der Sitzung«, führte der Philosoph daraufhin aus, »wurde mir eine Protestnote der Amish überreicht. Dieses Volk, das den nämlichen Planeten Zthronmia bewohnt, teilt darin mit, dass es in der jüngsten Vergangenheit wiederholt Opfer willkürlicher gewaltsamer Übergriffe seitens der Zthronmic geworden ist. Zthronmische Staffeln, auch bekannt als Scyther, haben in den vergangenen Wochen mehrere Dutzend grundlose Angriffe auf Siedlungen der Amish geflogen.«

In den Reihen der Zthronmic und Sineser wurde empörtes Murren laut. Die Amish bewahrten ihre statuarische Haltung, während die Angehörigen der alten Union, Prana-Bindu und der anderen Fraktionen, die wir zu unserem Flügel zählten, aufhorchten.

»Zthron Muqa Zthé hat recht«, fuhr Laertes fort. »Wir unterhalten eine Beobachtermission auf einer ehemaligen Sinesischen Ikosaeder-Kampfstation in einem Orbit über Zthronmia. Diese Mission hat sämtliche Vorfälle aufgezeichnet und dokumentiert. Ihr Bericht liegt dem Vorsitzenden vor.«

Er wischte die Proteste des Sineser-Flügels weg und holte tief Luft.

»Demnach kam es zu Luftangriffen, Bombardierungen sowie zu vereinzelten Granatwerferüberfällen, die ausnahmslos den Pueblos und Kibbuzim der Amish galten, mit anderen Worten: Frauen, Alten und Kindern, denn die Männer im waffenfähigen Alter sind zur Arbeit in den Minen. Heute Morgen kam es zu einem Angriff, an dem ein Dutzend Scyther beteiligt war. Das Geschwader bombardierte den Kibbuz S’Deró im Distrikt Kirjasch Moná. Dabei wurden völkerrechtlich geächtete Aerosolbomben eingesetzt, deren Abwurf über bewohntem Gebiet seit Jahrzehnten verboten ist. Eine dieser Bomben traf die Schule des Kibbuz. Insgesamt starben fünfzig Personen einen grausamen Flammentod, die meisten von ihnen unschuldige Kinder.«

Jetzt waren es die Angehörigen auf unserer Seite des Plenums, die von ihren Sitzen aufsprangen und wild gestikulierten. Ein Trupp Wachsoldaten zog auf und bildete einen Kordon zwischen den beiden verfeindeten Blöcken des Konvents. Übergriffe und Tätlichkeiten mochten so verhindert werden können. Aber eine vertrauensvolle Zusammenarbeit war damit Geschichte. Weniger als das: Sie war nie Realität gewesen, sondern von Anfang an eine verhängnisvolle Illusion.

»Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen, Delegationsleiter Muqa Zthé?«, rief Laertes dem Anführer der Zthronmic hinterher, der keine Anstalten machte, ans Rednerpult zurückzukehren. Stattdessen reihte er sich bei seiner Fraktion ein und aktivierte an seinem Sitzplatz die Protokollfunktion des StabsLogs. Das allein drückte als Geste von unüberbietbarer Verachtung aus, welchen Stellenwert er dem ganzen beimaß.

»Die Union«, bellte er, dass die Luft im Plenum bebte und die Elastalglasscheiben unserer Besucherbox erzitterten, »die Union garantiert die territoriale und politische Souveränität ihrer Völker, auch nachdem diese dem Verbund als Vollmitglieder beigetreten sind. Diese Garantie möchten auch wir in Anspruch nehmen. Oder liegt auch hier ein weiterer Fall von Doppelmoral vor? Die Rechte gelten nur für die menschlichen Völker der Union, die Pflichten aber für alle anderen?!«

Die Zthronmic johlten. Es ging inzwischen zu wie beim Wrestling oder Catchen. Jeder feuerten seinen Helden an und jubelte, wenn der Gegner ein blaues Auge geschlagen bekam. Dass die Völker, die hier repräsentiert wurden, mit jedem Moment dichter an einen neuen Krieg heranrutschten, schien kaum jemandem im Saal bewusst zu sein.

Laertes war es bewusst. Doch auch er schien inzwischen zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass der Verhandlungsfrieden, wie er hier einige Monate lang zelebriert worden war, zur Farce verkommen war.

»Antworten Sie auf meine Frage!«, sagte der alte Chefideologe unerschüttert. »Wie stellen Sie sich zu den Vorwürfen, die Zthronmic würden wahllos Zivilisten bombardieren, unschuldige Zivilisten eines Volkes, mit dem sie die Lebenswelt teilen und seit vielen Jahrzehnten eng zusammenarbeiten?«

Zthron stand nicht einmal auf. Er lehnte sich zurück und fläzte sich breit in seinen gravimetrischen Sessel, dessen Feldgenerator unter seiner Leibesmasse stöhnte.

»Ich habe auf Ihre Frage geantwortet«, sagte er frech. »Ehrenwerter Vorsitzender: Wir nehmen das Recht für uns in Anspruch, auf unseren Welten frei schalten und walten zu können. Nun unterhalten die Amish keinen eigenen Staat und keine eigene interstellare Flotte. Ihre Kibbuzim genießen nach innen Autonomie und Selbstverwaltung. Nach außen unterstehen sie der staatsrechtlichen Hoheit der Zthronmic.«

»Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen?«, insistierte Laertes.

»Wir betrachten alles, was sich im Orbit, der Atmosphäre und auf dem Erdboden von Zthronmia ereignet, als unsere innere Angelegenheit, in die wir uns jede Einmischung vonseiten Dritter ausdrücklich verbitten.« Zthron verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen, als rekele er sich unter einer wohltuenden Massage. Dabei ließ er ein halblautes, teils klagendes, teils zufriedenes Stöhnen erklingen.

»Auch der Schutz Ihrer staatlichen Souveränität«, sagte Laertes leise, »gibt Ihnen nicht das Recht, wehrlose Frauen und Kinder zu bombardieren.«

»Dafür gibt es keine Beweise«, gähnte Zthron.

»Wir haben mehrere Berichte«, führte Laertes an. »Sowohl vom Boden als auch von unserer Orbitalstation, die den Vorfall beobachtet und aufgezeichnet hat.«

»Keine unabhängigen Beweise …«, schnurrte Zthron, der sich nicht einmal durch die ständigen Unterbrechungen aus der Fassung bringen ließ.

Jetzt fuhr Cyrill ben Cyrion herum und richtete einige energisch klingende Worte an den Zthronmic. Da er die Protokollfunktion nicht aktiviert hatte, blieben die wenigen Sätze unhörbar; sie wurden auch nicht übersetzt. Zthron richtete sich mit spürbarer Mühsal ein wenig auf und wandte sich seinerseits an das StabsLog.

»Der ehrenwerte ben Cyrion«, sagte er, und die KI übertrug sein Fauchen in einen süffisanten Singsang, »regt an, ich solle im Namen der Zthronmic die Verantwortung für den Vorfall übernehmen. Allein, das kann ich gar nicht. Unsere Organisationsstruktur ist dezentral. Wir haben Dutzende von Distrikten, deren Führer autark sind und in eigener Verantwortung handeln können.«

Er erhob sich, und seine Stimme wurde wieder zu markerschütterndem Gebrüll. »Wenn einer meiner Unterkommandanten jedoch zu der Auffassung gelangt sein solle, dass die Amish in seinem Gebiet eine Strafaktion verdient haben, so wird er seine Gründe dafür haben!«

Jetzt war es mit der Beherrschung der Amish vorbei. Sie versuchten, den Kordon der Wachmannschaften zu durchbrechen. Es fehlte nicht viel und sie wären mit den Zthronmic handgemein geworden. Einzig Cyrill selbst bewahrte die Ruhe und beschwor seine Landsleute, sich nicht provozieren zu lassen.

Die Schutzmänner und die ungerührt zwischen den Fraktionen umhertrippelnden Tloxi hatten ihre Mühe, die verfeindeten Delegationen voneinander fernzuhalten. Dann schrillte Laertes’ Sirene, und der Vorsitzende verkündete, er lasse den Saal räumen. Die Aussprache wurde für beendet erklärt, die weitere Debatte auf unbestimmt verschoben.

In das Durcheinander der den Saal verlassenden und dabei miteinander rangelnden Abgeordneten rief Laertes noch, man werde eine unabhängige Kommission einsetzen, die die Vorfälle über Zthronmia untersuchen werde. Jorn Rankveil, der Kommissar für Zthronmische Angelegenheiten, wurde als Vorsitzender bestimmt. Niemand protestierte, weil niemand mehr auf Laertes acht gab. Resigniert deaktivierte der Leiter des galaktischen Konvents die Protokollfunktion an seinem Pult. Sein Blick schien uns zu suchen, die wir in der Besucherbox saßen. Aber die Elastalglasscheiben war nach außen hin polarisiert, er konnte uns nicht sehen.

Während wir uns erhoben, um die Box auf einem schmalen Gang zu verlassen, der uns an den offiziellen Delegationen vorbeischleusen würde, versuchte ich, in Rogers’ Miene zu lesen, wie er den Ablauf der Debatte einschätzte. Der alte Haudegen war dem Auftritt Muqa Zthés und ben Cyrions abschließender Replik gebannt gefolgt. Er hatte sich vorgebeugt und war in das Geschehen hineingekrochen, als wohne er einem Schaukampf unter Gladiatoren bei; fehlte nur noch, dass er seinen Favoriten lautstark anfeuerte.

Aber was war nun davon zu halten? War dies der Eklat, den wir alle seit Langem hatten kommen sehen? Wir hatten ihn gefürchtet, der eine oder andere hatte ihn klammheimlich herbeigesehnt. Rogers wirkte gefasst, beinahe zufrieden. War das nun das Resultat, das er sich erhofft hatte? Der offene Ausbruch war gerade noch einmal vermieden worden. Tätlichkeiten hatten unterbunden werden können. Durch die Einsetzung einer weiteren Kommission, die Laertes über die Köpfe der auseinandergehenden Delegierten hinweg verkündet hatte, war der Schein eines regulären Ablaufs gewahrt. Im Protokoll des StabsLogs würde sich die Sache wie eine zwar temperamentvolle und widersprüchliche Debatte lesen, aber eben doch eine Debatte, der prinzipiell noch endlos viele weitere würden folgen können.

Nur uns, die wir Zeugen der Vorgänge geworden waren, kamen Zweifel, ob man auf dieser Grundlage weiterarbeiten konnte.

Wir kamen in einen der streng abgeschirmten Bereiche, die den Abgeordneten und Referenten der Union, der alten Union, zur Verfügung standen. Die Politiker und Juristen wirkten ernüchtert. Man sah betretene Gesichter. Laertes, Rankveil oder die anderen Gestalten blieben unsichtbar. Sie saßen in den Hinterzimmern der Hinterzimmer und beratschlagten mit ihren Ratgebern.

Rogers steuerte zielstrebig die kleine Bar an, die es in diesem Bereich gab, und bestellte etwas zu trinken. Ich folgte seinem Beispiel und zündete mir, während die Ordonnanz die Gläser füllte, eine Qat-Zigarette an. Nachdem ich den ersten Zug tief inhaliert hatte, musterte ich Dr. Rogers und wartete darauf, dass er das Wort ergreife.

Es dauerte eine Weile. So lange musste ich versuchen, in seinen verwitterten Zügen zu lesen. Er wirkte erleichtert, beinahe aufgeräumt. Insgesamt machte er den Eindruck eines Mannes, der lange auf etwas gewartet hat und nun froh ist, dass es eingetreten ist. Dieses Gefühl konnte unabhängig davon sein, worum es sich handelte. Auf der Akademie hatte er uns erzählt, dass im Krieg selbst das Signal zur Schlacht eine solche Erleichterung auslöste, und zwar nicht nur bei der Generalität, die sich das Ganze aus der Sicherheit ihrer Unterstände ansah, sondern auch bei den einfachen Soldaten, denen das Herumsitzen eine größere Pein zu bereiten schien, als wenn sie nun endlich ins Feuer durften.

Als er ein wenig mit der Ordonnanz geschäkert und sich am Scotch gestärkt hatte, erinnerte der Held von Persephone sich meiner Anwesenheit. Er sah mich an und setzte ein pfiffiges Gesicht auf. Offenbar verfügte er wieder einmal über Informationen, die mir vorbehalten worden waren.

»Was ben Cyrion nicht sagte«, begann er mit einer Stimme, die von Alkohol und Alter rau war, »unter den Toten dieses Morgens war auch eine seiner Töchter.«

Ich spürte, wie ich blass wurde. Cyrills statuarische Haltung war mir aufgefallen. Sie hätte als Karikatur wirken können, wenn man ihn nicht kannte. Die strenge Würde, die er ausstrahlte, war schwer mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass sein Volk dort draußen drangsaliert wurde, dass seine Glaubensgenossen litten und starben. Sie wurde unerträglich, wenn man nun noch dieses in Betracht zog.

»Eines seiner Kinder hat den Tod gefunden?«, fragte ich.

Dr. Rogers schwenkte seinen Whiskey. Für gewöhnlich hätte er jetzt einen schneidenden Zynismus angebracht. Aber er wusste um das enge Verhältnis, das wir zum Delegationsleiter der Amish hatten. Jennifer stand ihm sehr nahe. Er hatte sie zu Anfang des Kongresses daran erinnert, was ihr selbst nicht bewusst gewesen war: dass sie vor Jahren einem jungen Mädchen seines Volkes das Leben gerettet hatte. Dieses Mädchen war nun seine Frau, die Mutter seiner Kinder. Und eines dieser Kinder war in diesen Morgenstunden im Aerosolfeuer des Scytherangriffs verbrannt.

»Cyrill und Shorena haben sieben Kinder«, sagte Dr. Rogers trocken. »Vier Töchter und drei Söhne. Eine der Töchter fiel der heutigen Attacke zum Opfer …«

Ich schüttelte den Kopf.

»Schrecklich …«, war alles, was ich dazu sagen konnte.

Natürlich war diese Reaktion irrational. Wir wussten, dass an die fünfzig Menschen – überwiegend Schulkinder und Frauen – das Leben verloren hatten, und die Opferzahlen der letzten Monate gingen in die Hunderte. Dennoch erschütterte uns das eine Schicksal, weil wir zufällig den Vater des Kindes kannten.

Meine Gedanken schweiften zu Jennifer, die auf der Orbitalstation hoch über Zthronmia saß und die Beobachtermission inspizierte. Auch sie war Zeugin der Vorfälle gewesen. Kannte sie die Namen der Opfer? Wusste sie, was das zu bedeuten hatte? Und noch ein anderer furchtbarer Gedanke stieg in mir auf: Hatte ihr Angriff auf das Zthronmische Kommando, das die ENCOURAGE hatte plündern wollen, den Überfall auf Cyrills Heimatkibbuz provoziert. Der Einsatz von Aerosolbomben war eine neue Qualität. Die Zthronmic hatten ihren Terror, der seit Langem auf kleiner Flamme köchelte und die Amish in einem Klima von Angst und Schrecken leben ließ, intensiviert. Es konnte nicht anders sein: Jennifers Vergeltungsmaßnahme, die auch Rache für unsere massakrierten Kameraden gewesen war, hatte zu einer weiteren Eskalation geführt. Die Spirale der Gewalt hatte eine weitere Umdrehung beschrieben. Und wieder waren Unschuldige die Leidtragenden. Wehrlose Angehörige eines wehrlosen Volkes, das entschlossen schien, sich weder zu verteidigen noch zur Wehr zu setzen. Wie Schlachtvieh saßen sie da und sahen tatenlos zu, wie ihre Frauen und Kinder verbrannten. Ich spürte, wie eine ohnmächtige Wut in mir aufstieg, die nur eine Camouflage meiner Hilflosigkeit war. Ich hätte Cyrill am liebsten geohrfeigt. So schlimm konnten diese Scyther nicht sein. Mit zwei oder drei Feldwerfer-Batterien musste man sie in Schach halten können. Aber dazu war man zu stolz.

Doch auch diese künstliche Erregung war nur Ausfluss der Tatsache, dass ich nichts getan hatte und nichts tun konnte. Und nichts tun würde?

»Können wir das hinnehmen?«, fragte ich laut. »Selbst wenn sie selbst an ihrer absurden Gewaltlosigkeit festhalten – muss nicht die Union sie gegen solche Attacken verteidigen? Sie zwingen, sich verteidigen zu lassen? Unsere Charta ist das Pergament nicht wert, auf dem sie steht, wenn wir so etwas geschehen lassen, da hat sogar Muqa Zthé ausnahmsweise recht.«

Dr. Rogers sah mich aufmerksam an.

»Was willst du tun?«, fragte er ruhig. Er klang, als würde er augenblicklich in die Tat umsetzen, was ich ihm vorschlüge. Er war wieder der alte Vorgesetzte, der vor einem Angriff seine Unteroffiziere fragte, wie sie entscheiden würden – und der dann alles ganz anders machte.

»Ich weiß es nicht!«, rief ich grollend. »Aber wenn an unseren Garantien und an all den hehren Worten irgendetwas dran sein soll, müssen sie auch für die Amish gelten …«

Weiter kam ich nicht.

»Es geht nicht um die Amish«, sagte Dr. Rogers freundlich.

Ich hätte mich beinahe am Rauch verschluckt. Vorsichtshalber drückte ich Qat-Zigarette aus und wartete, bis sich der süßlich riechende Rauch verzogen hatte.

»Worum denn dann?«, fragte ich beherrscht.

»Jetzt guck nicht so erschrocken!« Rogers schien amüsiert. »Sagen wir: Es geht nicht nur um die Amish!«

Ich stöhnte auf.

»Worum geht es dann?«, wiederholte ich. »Und kommen Sie mir bloß nicht mit Zthrontat, Rohstoffen, übergeordneten Interessen.«

Er erwiderte nichts. Stattdessen musterte er mich aufmerksam. Verdammt, ihm gegenüber war und blieb ich auf ewig der Erfolg versprechende Kadett. Und er war immer noch der strenge, aber wohlwollende Chefausbilder, der mit wissendem Grinsen zusah, wie man in die nächste behutsam präparierte Falle tappte.

»Wenn es nur um das Zthrontat geht«, schäumte ich, »dann lass uns hingehen und es uns nehmen. Die Zthronmic bomben wir in die Steinzeit zurück. Daran kann es ja wohl nicht liegen!«

»Sondern?«, fragte der alte Schleifer lauernd.

»Offenbar geht es uns auch um etwas anderes.« Ich betonte das »Auch«, um ihn nachzuäffen und seine diplomatische Abgeklärtheit ins Lächerliche zu ziehen. »Um all die großen Worte, die Muqa Zthé schon diskreditiert hatte, allein dadurch, dass er sie in den Mund genommen hat.«

Rogers genoss den Abgang des letzten Tropfens Whiskey und leckte sich die Lippen.

»Entweder – oder«, sagte er.

»Ja!«, rief ich. Ich schrie beinahe. Und am meisten brachte es mich in Rage, dass ich wusste, dass der Alte es nur darauf abgesehen hatte.

»So einfach ist es nicht«, sagte er mild. »Die Wahrheit liegt in aller Regel irgendwo dazwischen.«

Ich schüttelte den Kopf, noch heftiger als zuvor. Dann überließ ich mich eben meiner Aufgebrachtheit.

»Realpolitik oder Werte«, führte ich trotzig aus. »Da müssen wir uns schon entscheiden. Die Wahrheit die dazwischen liegt, das ist die Wahrheit der Grauzonen, des hinhaltenden Taktierens, des Politikergeschwätzes – während dort draußen unschuldige Kinder sterben!«

Rogers legte mir die Hand auf den Unterarm und lächelte begütigend. War die Lektion beendet? Aber es war keine Lektion. Dies hier war die Realität, war harte, blutige Realität.

»Ich gebe dir recht, Frank«, sagte er rau. »Aber ich bezweifle, dass du dir die Konsequenzen verdeutlichst.«

Was sollte das nun wieder heißen?

Ich hob die Achseln, halb abwartend, halb schmollend.

»Du sagst, wir sollen die Zthronmic in die Steinzeit bombardieren …«

Ich hielt seinem Blick stand. Das immerhin hatte ich in all den Jahrzehnten gelernt.

»Ich glaube nicht«, sagte der Veteran zweier schwerer Kriege, »dass das so ein Spaziergang wird, wie du es dir vorzustellen scheinst.«

»Jennifer …«, hob ich an.

Er wischte das weg.

»Ich weiß«, knurrte er grob. »Wir stellen ihnen eine Falle. Wir sehen, wie sie sich verhalten.«

»Und?«

»Das frage ich dich«, brauste er auf. »Und dann? Was wird die Folge sein? Gesetzt, sie gehen uns in die Falle, greifen den Frachter an. Es kommt zu einem weiteren Gefecht. Ausgang ungewiss. Glaubst du, sie werden zum Dank dafür die Amish in Milch und Honig baden?«

Ich schlug die Faust auf die Theke der kleinen Diplomatenbar, dass unsere leeren Gläser einen Satz machten.

»Die Amish haben nichts damit zu tun! Es geht dann nur noch um die Zthronmic und uns!«

Rogers malte wieder dieses herablassende altersweise Grinsen auf sein schlachtenerprobtes Antlitz. Ich hasste ihn.

»Offensichtlich sieht man das in Wrathnia anders«, sagte er schlicht. »Sie halten die Amish seit Jahrzehnten als Sklaven, die die Dreckarbeit für die erledigen. Warum sollten sie sie nicht als Geiseln nehmen? Für jede unserer Maßnahmen lassen sie als Vergeltung dort unten ein paar Unschuldige über die Klinge springen.«

Wie immer, wenn er zynisch wurde, fiel einem nichts mehr ein, was man entgegnen könnte. Das machte es ja so ätzend.

»Dann dürfen wir ihnen das nicht durchgehen lassen!«, sagte ich umso betonter, als ich wusste, dass es ihn keine Sekunde überzeugen würde.

»Sondern?«, fragte er schlicht.

Unsere Blicke fraßen sich ineinander. In einem offenbar unbeschäftigten Winkel meines Hirns ging mir auf, wie absurd der ganze Dialog war. Eigentlich pflegte er die Rolle des Falken einzunehmen, der die Sache lieber mit seinen Bataillonen regelte, statt sich auf schlaue Ratschläge und abstrakte Klügeleien einzulassen. Dass er ins weiche Federkleid der Taube schlüpfte, zeigte mir an, dass er nur eines seiner vielen Spielchen spielte. Oder hatte er vor den verfluchten Zthronmic wirklich einen solchen Respekt? Wir waren mit Sina fertiggeworden. Und von diesen Wüstensöhnen sollten wir uns einschüchtern lassen?

»Was willst du tun?«, fragte er, als habe er meine Gedanken Wort für Wort von meiner Stirn gelesen. »Den Planeten besetzen? Mit Bodentruppen landen? Eine Palisadenstadt nach der anderen einnehmen, dich in Häuserkämpfe verwickeln lassen, in unzugänglichen Wüsten- und Gebirgsregionen einen Guerilla- und Partisanenkrieg führen?«

Ich zuckte die Schultern. Wie man das im Einzelnen machte, war Sache der Generalstäbler. Die wussten nicht nur alles, sie wussten es sogar besser.

Rogers presste noch einmal meinen Unterarm mit seiner schwieligen Pranke und lehnte sich dann zurück.

»Jennifer bekommt ihren Frachter«, sagte er leise. »Ich habe die Sache von Laertes absegnen lassen. Aber was dann geschieht, entzieht sich jeder Planung.«

Er sah mich offen an und seine unverhohlene Ratlosigkeit machte mir mehr Angst, als es seine cholerischen Ausbrüche je vermocht hatten.

»Wir begeben uns auf eine schiefe Ebene. Kann sein, wir holen uns eine blutige Nase. Kann sein, wir werden in etwas hineingezogen, aus dem wir so schnell nicht wieder rauskommen.«

»Kann sein«, äffte ich in purem Widerspruchsgeist, »wir geben den Zthronmic eins auf die Nase, bis sie die Lektion gelernt haben.«

Er erhob sich, quittierte die Getränke und walzte schwerfällig hinaus. Eine Entgegnung auf meinen letzten Satz hatte er nicht mehr für nötig angesehen.

Der Zthronmische Krieg

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