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Kornblumenblaue Deutsche

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„Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint! Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande, und zwar nicht aus Gründen irgendwelcher wirtschaftlicher Erwägungen heraus. […] Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich.“45

In der Forderung Adolf Hitlers, seine Heimat an das Deutsche Reich anzuschließen, liegt der Schlüssel zum Verständnis der österreichischen Nationalsozialisten. Nichts prägte die Ostmärker so sehr wie ihre Rolle als Minorität im eigenen Land. Noch im Jahr 1948, als sich der ehemalige Sturmbannführer Erwin Hirnich vor dem Spruchgericht Recklinghausen verantworten musste, schilderte er seinen Weg zur NSDAP so, als ob er sich bei der SS bewerben würde: „Aufgewachsen an der hartumkämpften deutsch-tschechischen Volkstumsgrenze Nordmährens u. frühzeitig gezwungen, ohne Unterstützung des Elternhaus[es] den Weg ins Leben zu finden, blieb es nicht aus, dass ich mich schon in verhältnismässig jungen Jahren mit der sozialen Frage beschäftigte. Im Sudetenland, besonders an der Volkstumsgrenze, waren aber seit jeher nicht nur der Boden und die Schule, sondern auch jeder Arbeitsplatz Objekt der Volkstumsauseinandersetzung. […] Auf Grund dieser Beobachtungen u. bitteren Erfahrungen kam ich immer mehr zu der Ansicht, dass die soziale Frage von der nationalen Frage nicht zu trennen ist.“46 Hirnichs Aussage verdeutlicht, was es für die Deutschösterreicher bedeutete, Diaspora zu sein: eine Demütigung, die tief genug saß, um auch nach dem verlorenen Krieg – und sei es als Angeklagter vor einem deutschen Gericht – keinen Hehl daraus zu machen.

Sichtbarer Ausdruck der Identitätssuche war die sogenannte Turnbewegung. Während sich Turnvereine auf dem Territorium des späteren Deutschen Kaiserreiches seit den Befreiungskriegen (1813/15) fest etabliert hatten, datiert die Gründung des ersten österreichischen Ablegers auf den 27. Januar 1861.47 Der Ahnherr des „deutschen Turnens“ war Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852), der sich von der Körperertüchtigung seiner Landsleute auch ein Erstarken des Volkstums versprach. In der napoleonischen Fremdherrschaft erblickte er den Beweis für die zunehmende Degeneration des „Volkskörpers“. Bereits 1810 prangerte er genau das an, was Jahrzehnte später die Ostmärker politisierte: in dem viel zu großen „Völkermang“ Österreich, so Jahn, sei gerade mal ein Viertel deutsch.48 Auch wenn der Anteil der Deutschen an der Bevölkerung der k. u. k. Monarchie nie mehr als rund 26 Prozent betrug, repräsentierten sie doch die zahlenmäßig größte Ethnie im Vielvölkerstaat.49

32 Personen der Untersuchungsgruppe (63 Prozent) wurden vor ihrem Beitritt zu einer NS-Organisation in einem rechtsradikalen Verband sozialisiert, beinahe die Hälfte von ihnen (14 Personen) in einem Turnverein, dem man in der Regel mit dem 6. Lebensjahr beitrat. Die ideologische Ausrichtung der Turner war nicht nur auf den Anschlussgedanken, die Angliederung an das Deutsche Reich, fokussiert. Zu den tragenden Säulen der weltanschaulichen Ausrichtung gehörte ebenso ein besonders scharfer Antisemitismus. Im rechtsradikalen Verbindungsleben der k. u. k. Monarchie exponierte sich ein Mann, dessen Einfluss auf die österreichischen Burschenschaften und Turnvereine kaum überschätzt werden kann: Georg Ritter von Schönerer50. Anno 1885 gründeten Schönerianer den „Deutschen Turnverein“ in Wien, eine Körperschaft, welche den Juden die Mitgliedschaft verwehrte. Fortan schossen „judenreine“ Turnvereine wie Pilze aus dem Boden. Da Schönerers Anhänger einen Rassenantisemitismus à la Wilhelm Marr51 vertraten, erachteten sie den Übertritt jüdischer Turner zum Christentum als bloße Farce: „Nach den beiliegenden, behördlich genehmigten Satzungen, sehen wir uns veranlaßt, darauf aufmerksam zu machen, daß gemäß des §3 dieser Satzungen, Juden (ob nicht getauft oder getauft) weder Mitglieder noch Teilnehmer des ‚Ersten Wiener Turnvereines‘ sein können.“52

In ihren Augen diente die Konversion lediglich als Camouflage, um die Vereine zu infiltrieren. Zu jener Zeit geisterte längst das – diffuse – Adjektiv „arisch“ durch die Köpfe der Rasse-Monomanen. Die reichsdeutschen Turner, die mit dem antisemitischen Kurs in der Habsburgermonarchie nicht d’accord gingen, drohten den Österreichern 1887 mit dem Ausschluss aus dem Dachverband, der „Deutschen Turnerschaft“, wenn sie ihre judenfeindliche Exklusionspolitik nicht unterlassen würden. In der Ostmark, wo man in der „Judenfrage“ zu keinen Konzessionen bereit war, pokerte man. Nachdem sich die Drohung nicht als Bluff herausstellte (und man tatsächlich die Konsequenzen zu spüren bekam: nämlich den Ausschluss), vereinigten sich alle antisemitischen Verbände zum „Deutschen Turnerbund“. Schönerers Parole „Durch Reinheit zur Einheit!“ erkoren die antisemitischen Turner zu ihrem Wahlspruch.53

Auf die Jahre in der Turnerbewegung folgte ein rechtsradikales Vereinsleben in Schüler- und Studentenverbindungen. Von jenen Männern der Untersuchungsgruppe, die vor ihrem Kontakt mit der NSDAP solche Sozialisationsinstanzen durchliefen, gehörten 19 (59 Prozent) einer Korporation an. In ihren politischen Präferenzen unterschieden sich die Verbindungsangehörigen kaum von den Turnern. Auch hier schwärmte man für die Germanen, verachtete das Haus Habsburg (die „Gründungsschwindler“), verehrte Bismarck und hasste die Juden. Verfolgt man die Geschichte der Burschenschaften bis zu ihren Anfängen zurück, so begegnet einem abermals Turnvater Jahn als ideologischer Wegweiser.

Von ihm erhielten die Jenaer Urburschen den Impuls, sich die auf das Freikorps Lützow zurückgehenden Farben Schwarz-Rot-Gold zu eigen zu machen. Und seine Anhänger waren es, die beim Wartburgfest 1817 Bücher wider den „deutschen Geist“ in die Flammen des Weihefeuers warfen, mit dem 500 Turner und Burschen die 300. Wiederkehr der Reformation und den vierten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig begingen. Neben dem Code Napoléon landeten Symbole eines als überkommen empfundenen Zeitalters im Feuer. Was Schiller im Tell mit dem Geßler-Hut darstellte, das assoziierten die Jahnschen Turner mit einem hessischen Militärzopf, einem preußischen Ulanenschnürleib und einem österreichischen Korporalstock. Saul Aschers Germanomanie schleuderte das angetrunkene Jungvolk, das schwarz-rot-goldene Armbinden und Kokarden trug, mit einem „Wehe über die Juden!“ ins Weihefeuer. Antijüdische Ressentiments vergifteten auch die Satzung der Jenaer Urburschenschaft, deren Mitglieder nur Deutsche mit katholischem oder protestantischem Glauben sein durften. Erst 1831 hob man diese Bestimmung auf, um ihr dann rund 50 Jahre später als Ausdruck eines Rassenantisemitismus wieder Gültigkeit zu verschaffen. Bei all dem kam für den Dichter Heinrich Heine der Nationalismus schon tot zur Welt: denn statt eine Menschheit zu erkennen, schwadronierten die Deutschtümler in einer Tour von der Ungleichheit der Rassen.54

Schneller als ihre reichsdeutschen Kommilitonen wandelten die österreichischen Studenten auf abschüssigen Pfaden. Die Wiener Olympen waren schon 1867 der Meinung, dass ein Jude kein Deutscher sein könne. Die erste Körperschaft mit Arierparagraf war jedoch die Wiener „Libertas“, die seit dem Wintersemester 1878/79 keinen Juden mehr – getauft oder nicht getauft – zu einem der Ihren machte. Zehn Jahre später waren beinahe alle nationalen Verbindungen ins antisemitische Fahrwasser geraten. Ab 1890 gab es kaum noch einen solchen Zusammenschluss, der Juden aufnahm.55

Zum Erkennungszeichen der borussophilen Jugend Österreichs wurde die blaue Kornblume, die Lieblingsblume des deutschen Kaisers. 1806, als die königliche Familie vor den Truppen Napoleons nach Ostpreußen floh, so will es die Legende, setzte Wilhelm I., damals noch ein Knabe, seiner Mutter, der Königin Luise, einen selbstgeflochtenen Kranz aus Kornblumen aufs Haar. Schönerer stilisierte das Blau der Blume zur Farbe der deutschen Treue in einer Zeit der nationalen Not. Wer sich im alten Österreich als Sachwalter deutscher Interessen verstand, pflegte sich daher als kornblumenblauer Deutscher zu bezeichnen.56 In Mein Kampf stellte Hitler die Behauptung auf, er hätte seit seiner frühesten Jugend die k.u.k. Monarchie abgelehnt und dies mit Kornblumen und dem Deutschlandlied zum Ausdruck gebracht.57

Die älteren Semester huldigten indes unter Schönerers Einfluss einem ausgeprägten Germanenkult. Aus bierfeuchten Kehlen schmetterten Studenten die Wacht am Rhein oder sangen Deutsche Worte hör’ ich wieder!. Auf dem 19. Stiftungsfest der Wiener „Teutonia“ am 5. Februar 1886 begeisterte Schönerer das Publikum mit den Worten, das Germaniadenkmal im Niederwald sei nur ein Anfang gewesen: „Das genügt uns nicht, wir wollen eine Germania in den Alpen und darauf soll stehen: ‚Andenken an die siegreiche, einmütige Erhebung des gesamten deutschen Volkes.‘“58 Brachten die Burschenschafter nicht gerade Bacchus und Gambrinus Opfer dar, hielten sie Reichsgründungsund Sedansfeiern ab. Ihre Studentenbuden zierten Bilder des deutschen Kaisers, Jahns, Bismarcks oder Moltkes. Ebenfalls hoch im Kurs standen Fahnen mit den Farbkombinationen Schwarz-Rot-Gold und Schwarz-Weiß-Rot. Es dürfte aber nicht mehr als eine Geschmacksfrage gewesen sein, für welche Farbkombination sich der Urteutone entschied.59

Die Gasthäuser des Waldviertels, einer Armengegend der k. u. k. Monarchie, aus welcher der finanzkräftige Schönerer ebenso wie die ärmlichen Schicklgruber und Hiedler/Hüttler stammten, trugen Namen wie „Zum eisernen Kreuz“, „Zum Fürsten Bismarck“, „Zum Feldmarschall Hindenburg“ und „Zur deutschen Wacht am Kamp“. Auf Schönerers Kappe ging darüber hinaus der Bau eines Bismarckturms, auf dem zur Sonnenwende Feuer brannten.60 Noch im hohen Alter von 97 Jahren dachte die Witwe Helmut Glasers, die Tochter eines eingefleischten Schönerianers, mit Rührung an die Sonnenwend- und Julfeiern zurück, an denen sie mit ihrem Mann teilnahm. Ausrichter des germanischen Brauchtums war Glasers schlagende Verbindung, die „Akademische Landsmannschaft Kärnten zu Wien“.61

Kornblumenblaue Deutsche heirateten keine Slawen oder Juden. Ihre Kinder bekamen Namen wie Heide, Linde, Volker, Gerlinde, Gert, Helga, Friso, Hatto und Nortrun. Die Frauen trugen schlichte Kleidung und verzichteten darauf, sich aufwendig zu frisieren und zu schminken. Die Zeitrechnung der Schönerianer war eine Mischung aus Sektierertum und Germanenkult. Statt der römischen Monatsnamen datierten sie mit Härtung, Hornung, Lenzmond, Ostermond, Maien, Brachmond, Heuert, Ernting, Scheiding, Gilbhart, Nebelung und Julmond. An die Stelle des christlichen Kalenders setzte Schönerer die „germanische Zeitrechnung“, die mit dem Sieg der Kimbern und Teutonen über die Römer in der Schlacht von Noreia (113 v. Chr.) begann. 1888 schrieb man also das Jahr 2001 n. N., das es zu feiern galt:

„Stammesgenossen! Zwei Jahrtausende sind im Strome der Zeit dahingerauscht seit dem ersten Eingreifen der Germanen in den Gang der Weltgeschichte. Vor dem rauhen, aber urkräftig dröhnenden Kriegsgeschrei der Kimbern und Teutonen erbebten die starken Grundfesten des Römerreiches als erste Mahnung des Geschickes: ‚Platz den Germanen!‘ […] Zur heurigen Sonnenwende versammelt euch mit uns in der herrlichen Wachau an den Ufern der Donau und helft uns mitfeiern das Andenken des zweitausendjährigen, glorreichen Bestandes deutscher Geschichte.“62

Heydrichs Ostmärker

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