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Nationalsozialisten
Оглавление„Nationalsozialisten“ kannte man seit der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts. Zum Leidwesen Hitlers verband sie mit seinen Parteigängern mehr, als ihm lieb war. Denn den von ihm gepredigten Nationalsozialismus fasste er als eine Synthese der Lehren auf, die er Schönerer und Lueger verdankte, sodass er in Abrede stellte, von der 1904 im böhmischen Trautenau gegründeten Deutschen Arbeiterpartei (DAP) inspiriert worden zu sein. Die Parallelen in der Programmatik beider NS-Parteien sind aber unverkennbar. Aus dem „Volkstumskampf“ hervorgegangen, stand die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP), wie sich die DAP nach dem Ersten Weltkrieg nannte, für Antikapitalismus, Antisemitismus und Xenophobie. Die Unterschiede zur NSDAP lagen in dem demokratischen Aufbau der Partei, die außerdem keinen unumstrittenen Führer kannte.87
Durch den Zerfall der k. u. k. Monarchie 1918 und den Friedensvertrag von St. Germain 1919, dessen Artikel 88 den Anschluss Österreichs an Deutschland untersagte, existierten drei NS-Parteien in drei verschiedenen Ländern. In der Tschechoslowakei wurde die DNSAP von Hans Knirsch geführt. An die Spitze der reichsdeutschen Nationalsozialisten trat Adolf Hitler im Juli 1921. In Österreich hielt Walter Riehl, der ursprünglich aus der Sozialdemokratie kam, das Zepter in der Hand.88
Welche unterschiedlichen politischen Vorstellungen Hitler und Riehl trennten, trat 1923 auf der zwischenstaatlichen Vertretertagung aller NS-Parteien in Salzburg zu Tage. Während der Führer der NSDAP auf die Ablehnung des Parlamentarismus pochte, plädierte Riehl für die Teilnahme der DNSAP an der bevorstehenden Nationalratswahl. Hermann Esser forderte die Anwesenden auf, sich Hitlers Diktat zu beugen und ihn als Gesamtführer aller NS-Parteien anzuerkennen. Riehl, der sich mit seinen Ansichten nicht durchzusetzen vermochte, trat im September 1923 von seinem Amt als Bundesparteiobmann zurück.89
Klare Verhältnisse herrschten in Österreich deswegen aber nicht. Riehls Nachfolger Karl Schulz hielt wie sein Vorgänger an einem „demokratischen“ Politikverständnis fest. So glaubte er doch allen Ernstes, dass die Basis über Hitlers Entschluss, eine einheitliche Partei für Deutschland und Österreich zu schaffen, abstimmen könne. Davon abgesehen hatte Schulz ohnehin schon viel Kredit verspielt. Noch verwerflicher als der Vorwurf, Parteigelder ungleich zu verteilen, erschien den Kameraden, dass ihr Vorsitzender in weltanschaulichen Fragen zu Kompromissen bereit war. Sich der wirtschaftlichen Bedeutung des 14. Zionistischen Weltkongresses für die Stadt Wien bewusst, versprach Schulz der Polizei 1924, mäßigend auf die Parteigenossen einzuwirken.90 Kritiker versuchte er mundtot zu machen, indem er sie aus der Partei ausschloss. Doch Männer wie der Wiener Mittelschullehrer Rudolf Suchenwirth ließen sich das nicht bieten. Mit ebenfalls ausgestoßenen Kameraden gründete er am 4. Mai 1926 den „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterverein“, der den Zusatz „Hitlerbewegung“ im Namen trug, damit jedem sonnenklar war, wem allein die Truppe Gehorsam leistete. Auf dem Weimarer Parteitag im Juli desselben Jahres legitimierte Hitler Suchenwirths Bewegung als Ableger der reichsdeutschen NSDAP, ehe er im August 1926 auf einer Tagung in Passau die österreichischen Nationalsozialisten aufforderte, sich zu ihm oder gegen ihn zu bekennen. Nachdem ihm die Vertreter Kärntens, der Steiermark, des Waldviertels, Oberösterreichs und Tirols gehuldigt hatten, kündigte Hitler an, einen Gauführer für Österreich zu ernennen. Somit war die Alpen-NSDAP geboren, die als Landesleitung der Reichsleitung firmierte.91
Aber selbst nach dem Schisma – die „Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei (Schulz-Gruppe)“ existierte bis Mitte der 1930er Jahre – war die Hitlerbewegung weit davon entfernt, ein monolithischer Block zu sein. Allein bis 1931 verschliss die nach dem Führerprinzip „funktionierende“ Partei zwei Landesleiter: Friedrich Jankovic und Hans Krebs. Erst mit der Ernennung von Theo Habicht, einem Reichsdeutschen, zum Landesgeschäftsführer 1931 und zum Landesinspekteur 1932 kehrte so etwas wie Zucht in die Alpen-NSDAP ein. Unter ihm und dem nominellen Landesleiter Alfred Proksch wurde die Parteistruktur reorganisiert und eine straffe Führung etabliert. Welche gegenseitigen Vorwürfe und Beleidigungen aber nach wie vor das innerparteiliche Klima belasteten, verrät uns ein Blick auf den Westgau (Tirol, Salzburg und Vorarlberg), dessen Gauleiter nicht davor zurückschreckte, Alfred Proksch als „Rassenschande“ und Alfred Eduard Frauenfeld, den prominenten Wiener Gauleiter, als „Judenstämmling“ zu beschimpfen. Hans Schafranek geht sogar so weit, das Scheitern des Juliputsches 1934 unter anderem auf Eifersüchteleien und persönliche Animositäten zwischen Habicht und der SS auf der einen und der Führung der österreichischen SA auf der anderen Seite zurückzuführen.92
In der Illegalität, so scheint es, wies die österreichische NSDAP das wohl schlimmste Ausmaß an Fraktionierung auf. Nach dem missglückten Umsturzversuch sah sich Hitler gezwungen, Habicht abzusetzen, die 1933 nach München emigrierte Landesleitung aufzulösen und jeden Kontakt zwischen reichsdeutscher und österreichischer NSDAP zu verbieten. Zusätzlich hatte er mit Franz von Papen einen praktizierenden Katholiken zum außerordentlichen Gesandten in Wien ernannt.93 In Österreich rätselten indessen Hitlers Anhänger, was der Führer mit diesen Maßnahmen bezwecke. Die Radikalinskis glaubten, Hitler hätte die Alpen-NSDAP nur zum Schein fallen gelassen. Auf sie komme nun die Aufgabe zu, das Schuschnigg-Regime mit Terror zu Fall zu bringen. Den Gegenpol zu dieser Auffassung vertraten die resignierenden Parteigenossen, die gewillt waren, auf den Anschluss durch das Reich einfach zu warten. Einen Mittelweg – der letzten Endes auch zum Erfolg führte – beschritten die „Kärntner“ (Hubert Klausner, Friedrich Rainer und Odilo Globocnik). Sie verwarfen die Terrorpolitik der Radikalinskis, lehnten aber ebenso das Warten im stillen Kämmerlein ab. Da sie zu keinerlei ideologischen Zugeständnissen gegenüber dem „Ständestaat“ bereit waren, setzten sie vielmehr auf die Unterminierung der Regierung. Als Trojanische Pferde dienten ihnen dabei Männer, die von beiden Seiten akzeptiert werden konnten. Die Hoffnungen der „Kärntner“ ruhten vor allem auf Arthur Seyß-Inquart, einem Wiener Rechtsanwalt, der einerseits den Anschluss an das Reich befürwortete, andererseits aber kein Parteimitglied war und zudem viele Freunde in der Regierung besaß. Als Katholik aus gutem Hause hatte er mit dem österreichischen Kanzler ohnehin mehr gemein als der Feldwebeltyp Josef Leopold, der nach der Macht in der Alpen-NSDAP strebte. Aus dem Gefängnis heraus – wo Leopold nach dem Verbot der Partei 1933 die meiste Zeit zubrachte – erhob er Ansprüche auf die Landesleitung. Damit begab er sich automatisch auf Konfrontationskurs mit dem legitimen Parteioberhaupt Heinrich Neubacher. Leopold konnte die Auseinandersetzung für sich entscheiden, woran sich aber die Gauleiter der westlichen Bundesländer stießen, die an der Rechtmäßigkeit seines Führungsanspruchs zweifelten.94
Selbst in den einzelnen Gauen spiegelte sich mitunter die Zerissenheit der Partei wider. So kam es vor, dass die Steiermark – eine der traditionellen Hochburgen der Nationalsozialisten – auf einem Treffen der NS-Spitzenpolitiker von drei verschiedenen Gauleitern vertreten wurde. Ähnlich verhielt es sich in Wien und Tirol. Laut Friedrich Rainer wären allein die Gauleiter Josef Leopold (Niederösterreich), August Eigruber (Oberösterreich) und Hubert Klausner (Kärnten) unangefochten gewesen.95 Vor diesem Hintergrund überrascht es ungemein, dass es in den Ego-Dokumenten des österreichischen Führungspersonals von Sipo und SD keine Anhaltspunkte dafür gibt, irgendjemand hätte irgendeiner „Fraktion“ angehört. Allenfalls der Zusatz „Hitlerbewegung“ taucht hin und wieder auf. Offensichtlich war man im Dritten Reich nicht gerade stolz auf dieses Stück spezifisch österreichischer Vergangenheit.
Ebenso verwundert es, dass Heydrichs Ostmärker – zumindest in den überlieferten Selbstzeugnissen – mit Kritik an der katholischen Kirche geizten. Nur Mildner beschimpfte sie als eine deutsch- und reichsfeindliche Organisation, der er nicht mehr angehören wollte. Glasers Witwe erinnerte sich noch 2011 daran, dass sie 1938 aus der Kirche austrat. Sie versicherte jedoch, an Gott zu glauben und nur Pomp und Bigotterie abzulehnen.96 Eigentlich hätten die österreichischen Nationalsozialisten allen Grund dazu gehabt, einen besonders ausgeprägten Antiklerikalismus zur Schau zu tragen. Schließlich stand die katholische Kirche auf der Seite jenes Regimes, das sie seit 1933 mit autoritären polizeistaatlichen Methoden verfolgte. Hält man sich Österreichs Konfessionsstruktur vor Augen, so wird schnell deutlich, wie eminent wichtig dieser Stützpfeiler für die Regierung war: die Volkszählung von 1934 ergab einen römisch-katholischen Bevölkerungsanteil von über 90 Prozent. Die Protestanten machten lediglich vier Prozent aus.97
Die Parteinahme für das Dollfuß/Schuschnigg-Regime sicherte der katholischen Kirche eine privilegierte Stellung und bescherte ihr die Erfüllung langjähriger Forderungen. So hob der Unterrichtsminister den sogenannten Glöckel-Erlass auf, der den Schülern die Teilnahme an religiösen Übungen freigestellt hatte. Wer in Salzburg aus der katholischen Kirche austrat, den bestrafte die Sicherheitsdirektion mit sechs Wochen Arrest. Die obligatorische Zivilehe wurde ebenfalls verhindert. Zudem verpflichtete sich die Regierung in einem Vertrag mit dem Vatikan zur Besoldung des katholischen Klerus. Ebenso sollten finanzielle Zuschüsse bzw. Zulagen für Priesterseminare und Bischöfe gewährt werden.98
Wie Dirk Hänisch in seiner Studie zu den österreichischen NSDAP-Wählern nachgewiesen hat, geht man dennoch fehl in der Annahme, der konfessionelle Faktor sei entscheidend für das Wahlverhalten gewesen. In Österreich zeigten sich – anders als im Deutschen Reich – die Katholiken weitaus empfänglicher für braunes Gedankengut, was die Hochburgen der Nazis in Niederösterreich99 beweisen. Und selbst in der Steiermark und Kärnten, wo der Anteil der Protestanten an der Bevölkerung mit knapp vier bzw. acht Prozent verhältnismäßig hoch war, hätte laut Hänisch kein Automatismus zwischen den Wahlerfolgen der NSDAP und der Konfessionsstruktur vorgelegen. Viel entscheidender, so der Sozialwissenschaftler in seinem Resümee, seien hingegen Stammwähler und aktive Ortsgruppen gewesen.100
Im Vergleich zu den Österreichern vermittelten die in der CSR lebenden Nationalsozialisten ein sehr viel geschlosseneres Bild. Erwin Hirnich, Gustav Jonak, Robert Lehmann und Adolf Puchta gehörten in der Tschechoslowakei der DNSAP an. Viktor Schmidt, obwohl er mit der NS-Partei sympathisierte, organisierte sich erst nach deren Selbstauflösung und Verbot 1933 im „Aufbruch“, einer militanten Splittergruppe, die „Spät-Schönerianer“ vereinigte.101 Das hervorstechendste Merkmal dieser Männer war ihr unermüdliches Engagement für die Hitlerbewegung:
Robert Lehmann, 1910 in Österreichisch-Schlesien geboren, trat während seines Chemiestudiums in Prag der DNSAP bei. Der SD wusste 1937 über ihn zu berichten, er habe nicht nur ehrenamtlich für die Geschäftsstelle der Partei gearbeitet, sondern sich auch in Versammlungen rednerisch betätigt. Außerdem hätte Lehmann stets seine Anstellung verloren, sobald seine Mitgliedschaft in der DNSAP bekannt geworden sei.102 De facto mit einem Berufsverbot belegt, emigrierte der promovierte Gymnasiallehrer 1937 ins Altreich. Puchta, 1908 im böhmischen Asch geboren, brüstete sich damit, nach der Mitgliedschaft in einem Turnverein und der Jungmannschaft „Körner“ 1924 der sudetendeutschen NS-Partei beigetreten zu sein. Zudem erklärte er stolz, von 1927 bis 1936 nur einen NSDAP-Parteitag, den von 1933, versäumt zu haben. Als Grund für sein Fernbleiben gab er das Absitzen einer politischen Haftstrafe an. Zu verwundern mag das allerdings nicht. 1926 gründete Puchta die Ascher NSJ (Nationalsozialistische Jugend) und 1930 den Ascher Volkssport-Verband (sudetendeutsche SA), um dann bis zu seiner Flucht ins Altreich 1934 als Parteifunktionär (u.a. Organisations-, Propaganda- und Bezirksleiter) zu reüssieren.103 Der drei Jahre jüngere Hirnich blickte ebenfalls auf verdienstvolle Jahre im „Volkstumskampf“ zurück. Noch vor seinem 18. Geburtstag der DNSAP beigetreten, fungierte er seit April 1930 als NSJ-Führer des Gaues Mährisch-Schönberg, ehe er im März 1933 die hauptamtliche Parteistelle des Brünner Kreisjugend- und Geschäftsführers übernahm.104 Jonak, der Einzige von ihnen, der bei der Gestapo Karriere machte und wie Schmidt Burschenschafter war, trat der DNSAP am 1. Januar 1930 bei. Wie Lehmann und Hirnich tat er sich als Redner und NSJ-Gauführer hervor.105
Die Weltwirtschaftskrise von 1929 und das Wachsen der NS-Bewegung im Reich brachten in Österreich wie in der Tschechoslowakei einen Politisierungsschub. In Bezug auf das Sample heißt das, junge Männer, die von Kindesbeinen an im rechten Lager standen, entschieden sich dafür, politisch Farbe zu bekennen. Von 1930 bis 1932 stieg die Zahl der DNSAP-Mitglieder von 30.000 auf über 61.000 an. Hatte die österreichische NSDAP noch bei den Nationalratswahlen im November 1930 weniger als drei Prozent der Stimmen erhalten, so fuhr sie bei den Gemeinderatswahlen 1933 in Niederösterreich und Tirol im Schnitt 20 bis 25 Prozent ein. In Innsbruck und Zwettl votierten sage und schreibe 41 Prozent der Wähler für die Braunhemden. Die Wiener Studentenkammer setzte sich bereits seit März 1931 zu einem Drittel aus Nazis zusammen.106
Als Hitler im Reich die Macht übernahm, begann es in seiner Heimat gewaltig zu rumoren. Pifrader, den die Kollegen seit Langem als Nationalsozialisten kannten, sympathisierte jetzt immer unverhohlener mit dem NS-Regime.107 Die Sehnsucht nach dem Anschluss an das „Mutterland“ führte zu einer Eskalation der Gewalt. Am 11. Juni 1933 kam der Heimwehrführer Richard Steidle nur knapp mit dem Leben davon, nachdem auf ihn geschossen worden war. Die Täter stammten aus den Reihen der Nationalsozialisten. Tags darauf, am 12. Juni, wurde ein Sprengstoffanschlag auf das Geschäft des jüdischen Juweliers Norbert Futterweit in Wien-Meidling verübt, das den Besitzer in Stücke riss, einen Passanten tödlich und mehrere schwer verletzte. Am nächsten Tag verwüsteten Bomben wiederum in Wien ein Warenhaus und ein jüdisches Café. Diesmal blieb es bei Sachschäden. Doch schon tags darauf gab es wieder einen Toten: Alois Süßböck, ein Heimwehrangehöriger, der bei einer Auseinandersetzung mit Wiener Nazis ums Leben kam. Höhepunkt der Terrorwelle im Juni 1933 war ein Handgranatenanschlag zweier SA-Männer auf christlich-deutsche Turner in Krems. Es gab 30 Verletzte, von denen einer nicht überlebte. Noch am selben Abend, am 19. Juni, verbot die Dollfuß-Regierung die NSDAP und ihre Gliederungen. Auf Mord, Brandstiftung und boshafte Sachbeschädigung stand seit dem 10. November 1933 die Todesstrafe.108
Bis zum Anschluss war man nun ein Illegaler, der für seine politischen Überzeugungen sein Leben aufs Spiel setzte. Dies trug zur Entstehung eines spezifischen Esprit de Corps bei, mit dem die Ostmärker die Jahre im Untergrund verklärten. Der Niederösterreicher Hermann Lapper lebte wie kein Zweiter aus dem Sample dieses Sonderbewusstsein. Nach eigenem Bekunden sei sein Damaskuserlebnis die Begegnung mit Hermann Esser gewesen, der zu Hitlers wichtigsten Mitstreitern in der frühen NSDAP gehörte und von Lappers Vater nach dem gescheiterten Putsch vom 8./9. November 1923 versteckt worden sei. Im Alter von 18 Jahren trat Lapper 1928 in die NSDAP ein. 1933 erhielt er mit Essers Hilfe in München eine Anstellung beim Völkischen Beobachter (VB). An eine Rückkehr nach Österreich war für ihn nicht zu denken. Auf seine Ergreifung hatten die österreichischen Behörden ein Kopfgeld von 1000 Schilling ausgesetzt, das nach dem Juliputsch 1934 verdoppelt wurde. Die zurückliegenden Jahre verband Lapper ohnehin nicht mit den besten Erinnerungen. Wegen seiner politischen Einstellung war er wiederholt auf offener Straße überfallen worden. Trug er für die SS nicht zu dick auf, hatte er sogar ein Pistolenattentat kommunistischer Bergarbeiter überlebt.109 Sich der Opfer seiner Gesinnungsgenossen in Österreich bewusst, sammelte Lapper seit 1935 „Briefe aus der Heimat“. Vermutlich sollten sie unter dem Titel Worte eines Österreichers: „Ich sterbe für Deutschland – Heil Hitler!“ veröffentlicht werden. In einem Rundschreiben forderte er die Kameraden auf, dafür Material zu sammeln: „Jeder von Euch kennt das Leiden und schwere Schicksal unserer Kameraden und Angehörigen in der Heimat und jeder von Euch hat jemanden jenseits der Grenze, dessen er mit besonderer Sehnsucht gedenkt. Briefe aus der Heimat sind ein erschütterndes Treuebekenntnis zu Führer, Volk und Heimat und lassen diese Briefe einsam weilender Mütter und Frauen und in Kerkern schmachtender Männer den ungebrochenen Siegeswillen sowie das reine, beispielgebende Deutschtum dieser Kämpfer und Dulder in der Ostmark erkennen. Sie harren aus, bis auch für sie die Stunde der Befreiung schlägt, die Fesseln der Knechtschaft gesprengt werden, die Glocken der Stadt und des einsamen Bergkirchleins ihre Freudenbotschaft verkünden und Siegesfahnen der deutschen Erhebung in der Ostmark knatternd über blutgetränktem Boden flattern.“110
Überaus leidenserprobt zu sein, konnten auch Bast, Clement, Delphin, Gelb, Kaltenbrunner, Mandl, Persterer, Puchta, Schmied und Kiene von sich behaupten. Sie alle saßen wegen illegaler Aktivitäten ein. Ab Herbst 1933 errichtete die Dollfuß-Regierung für politische Gegner (Rechte wie Linke) sogenannte Anhaltelager, die helfen sollten, Gefängniskosten zu sparen. Sie mit den deutschen Konzentrationslagern zu vergleichen, wäre allerdings stark überzogen. Nichtsdestotrotz war ein Aufenthalt dort kein reines Vergnügen. Im Lager Wöllersdorf protestierte Kaltenbrunner im April 1934 mit einem Hungerstreik gegen Misshandlungen durch die Wärter, unzureichende Lebensmittelrationen und schlechte Hygiene. Die stärkste Belegung mit illegalen Nazis verzeichneten österreichische Haftstätten nach dem Juliputsch 1934.111
An diesem Unterfangen mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen, beteiligte sich vom österreichischen Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD nur Wilhelm Waneck in verantwortlicher Position. Der gebürtige Wiener kam 1909 zur Welt und gehörte vor seinem Eintritt in die NSDAP 1931 einer Schülerverbindung und dem „Deutschen Turnerbund 1919“ an. Waneck besuchte in seiner Geburtsstadt ein Realgymnasium, entschied sich aber dafür, ohne Abitur zum Bundesheer zu gehen, wo er es allerdings dann doch nachholte. Auf dem Kasernengelände betätigte er sich als Propagandist und Ortsgruppenleiter. Die politische Säuberung der Truppe, zu der sich die Regierung angesichts des braunen Terrors veranlasst sah, reihte ihn in das Heer der Arbeitslosen ein. Mit Kameraden, denen es genauso ging, stellte er die „Militärstandarte“ auf, die Himmler am 1. April 1934 zur mythologisierten SS-Standarte 89 unter der Führung von Fridolin Glass erhob. Glass beauftragte Waneck mit der Besetzung des Wiener Rundfunkgebäudes, von dem aus die Umstürzler am 25. Juli 1934 Land und Leute über ihre Erhebung informierten. Der Putsch scheiterte. Zurück blieben 260 Tote, von denen einer der österreichische Kanzler Engelbert Dollfuß war. Ihn hatten in das Bundeskanzleramt am Ballhausplatz eingedrungene Angehörige der Standarte 89 mit zwei Schüssen in die linke hintere Halsseite niedergestreckt. Den Schreckensruf der SS zementierte, dass dem um ärztliche Hilfe und geistigen Beistand flehenden Dollfuß beides verweigert wurde. Die Putschisten überschütteten ihn vielmehr mit Vorwürfen, er sei Schuld an den Arbeitslosen, dem schlechten Verhältnis zu Deutschland und dem Notleiden so vieler Nationalsozialisten. Der Getroffene verlor das Bewusstsein und starb. Waneck setzte sich am 26. Juli 1934 über die Tschechoslowakei ins Altreich ab. Glass empfahl den Flüchtling Werner Best, der ihm eine Aufgabe im SD in Frankfurt an der Oder verschaffte, wo sich der Wiener in eine kaum jüngere Kindergärtnerin verliebte, mit der er SS-gerecht vier Kinder zeugte.112
Überhaupt besteht das Sample zu 94 Prozent aus Illegalen. Nur Franz Razesberger, Viktor Leo und Josef Witiska waren nicht im Stande nachzuweisen, dass sie vorm Anschluss der Partei (NSDAP/DNSAP) bzw. einer ihrer Gliederungen (HJ, NSJ, NSBO, SA) beitraten, der SS angehörten oder sich für die nationalsozialistische Sache ins Zeug legten. Aber alle drei hatten kein Problem damit, sich nach 1938 zu akkulturieren. Razesberger und Witiska ließen Juden liquidieren, während Leo ab September 1942 als stellvertretender Berliner Kripo-Chef Wohlwollen erregte. Es will etwas heißen, wenn ihm jemand wie Pifrader im Mai 1944 nachsagte, mittlerweile ein in politischer und weltanschaulicher Hinsicht klar ausgerichteter SS-Mann zu sein.113
Bei den im Dienste der österreichischen Polizei stehenden Nationalsozialisten nimmt sich die Illegalität weit weniger spektakulär aus, als dies bei Lapper oder Waneck der Fall ist. Spätere Gestapo-Größen wie Pifrader, Auinger, Bauer, Berger, Ebner, Hueber, Kranebitter, Mildner, Nedwed, Trenker und Ulbing höhlten den Staat von innen aus, indem sie die Gestapo und die illegale Partei mit Interna versorgten, die Machenschaften ihrer Kameraden verdunkelten, sie vor Hausdurchsuchungen warnten und ihnen die Haft so bequem wie möglich gestalteten. Der Untersteirer Alfons Rosse, 1942/43 stellvertretender Stapo-Chef von Litzmannstadt, trieb als Referent im Pressebüro der Wiener Polizeidirektion ein doppeltes Spiel. Beschlagnahmtes NS-Propagandamaterial lieferte er bei Glass ab, der es wieder in Umlauf brachte und mit dem Erlös die Vorbereitungen für den Juliputsch finanzierte. Der Preis, den die braunen Polizisten für ihre politische Überzeugung zahlten, reichte von einer Flucht ins Altreich über Entlassung aus dem Staatsdienst bis hin zu Geldstrafen, Gehaltskürzungen, Strafversetzungen und Beförderungsstopps.114
Bei schlechter Quellenlage ist ein verlässliches Indiz zur Identifizierung eines Alt-Nazis eine NSDAP-Mitgliedsnummer aus dem Sechs-Millionen-Block, den die Partei für zwischen 1933 und 1938 eingetretene Kameraden reservierte. Penibel geführte Mitgliederlisten schienen seit dem Verbot nicht mehr angebracht. Wären sie entdeckt worden, hätten sie für die Dekonspirierten unabsehbare Konsequenzen bedeutet. So wurde für diejenigen, die ihr Aufnahmedatum nach dem Anschluss nicht hieb- und stichfest belegen konnten, der 1. Mai 1938 als Beitrittstag festgelegt. Die Nummer aus dem Sechs-Millionen-Block wies den Inhaber des Parteibuchs ja für alle erkenntlich als einen Illegalen aus.115 Besondere Bedeutung gewinnt der Hinweis auf eine braune Vergangenheit bei Personen, über die wir nur wenig wissen. Der gebürtige Steirer Franz Trautmann ist ein solcher Fall, da er im Dezember 1943 bei einem Luftangriff auf Berlin ums Leben kam und eine SSO-Akte zu ihm nicht existiert. Vermutlich wurde sie bei einem Fliegerangriff vernichtet. Aus Aktensplittern lässt sich aber eine Mitgliedsnummer aus dem Illegalen-Block eruieren: 6.276.558 (mit Aufnahmetag 1. Mai 1938).116 Seine Karriere in der Sicherheitspolizei ist schnell erzählt. 1940 tauchte Trautmann im Führerkorps der Grazer Stapo auf. Er war einer der fünf Schwarzröcke, die bei dem bis dahin apolitischen Witiska den braunen Stallgeruch vermissten und nicht für seine Eignung als SS-Führer bürgten. Im selben Jahr verschlug es Trautmann als Vertreter des Leiters zur Stapo in Frankfurt an der Oder. Der Geschäftsverteilungsplan des RSHA vom 1. Oktober 1943 wies ihn als Obersturmbannführer an der Spitze des Referats I A 1 (Allgemeine Personalangelegenheiten der Angehörigen der Sicherheitspolizei und des SD) aus.117