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Pidgin-Hieroglyphen für die Fremden

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Das Alphabet ist ein Produkt von Migration und Kulturkontakt. Sicher ist, dass es im ägyptischen Kulturraum erfunden wurde, um semitische Wörter und Namen aufzuschreiben. Seine ersten Nutznießer waren entweder Söldner aus Asien, dem Kontinent, zu dem die Sinaihalbinsel ebenso gehört wie die Levante – also das heutige Israel, die Palästinensergebiete, Syrien und der Libanon –, oder Bergleute, die in den Steinbrüchen des Sinai für die Ägypter arbeiteten. Sie sprachen eine westsemitische Sprache. Vermutlich eine Vorform der kanaanäischen Sprachen.

Die ersten ungefähr 30 Inschriften in einem protosemitischen Alphabet wurden im Winter 1904/1905 von den britischen Archäologen Hilda und Flinders Petrie im schon erwähnten Serabit el-Chadim entdeckt. Nachdem sie der britische Ägyptologe Alan Gardiner 1916 und sein deutscher Kollege Kurt Sethe 1917 teilweise entziffert hatten, ging man längere Zeit davon aus, dass das Alphabet in den besagten Türkisminen und dem Hathor-Tempel entstanden war. Der Tempel ist der einzige religiöse Großbau der Ägypter außerhalb des Nildeltas. Das spricht für die Bedeutung dieses Ortes, zu dem etwa tausend Jahre lang ägyptische Expeditionen aufbrachen, um Türkis zu holen. Die Göttin Hathor, der in der ägyptischen Religion eine besondere Beziehung zum Ausland nachgesagt wurde, konnte tatsächlich von Ägyptern und Semiten unter unterschiedlichen Namen gleichermaßen verehrt werden. Diese religiöse Praxis stabilisierte das Verhältnis zwischen den Ägyptern, die normalerweise auf andere Völker herabsahen, und den Semiten. Man ging respektvoll miteinander um und tauschte Kenntnisse aus. Dazu gehörte auch die Kunst des Schreibens – nur dass die Semiten eben aus den Zeichen, die sie sich von den Ägyptern abschauten, etwas völlig Neues machten.

Die Funde in Serabit el-Chadim beweisen die Existenz einer Linearschrift, also einer mit Linien geschriebenen Schreibschrift, wie sie sich für Papier und Papyrus eignet. Diese Inschriften sind allerdings in Felsen oder steinerne Gegenstände geritzt – nur deshalb haben sie überhaupt überlebt. Sie sind kurz, teilweise schlecht erhalten und bis heute noch nicht vollständig entschlüsselt. Aber man kann die Hälfte der darin enthaltenen Schriftzeichen mittlerweile sicher und ein weiteres Viertel wahrscheinlich deuten.

Die Inschriften kennen wie alle antiken Schriftzeugnisse keine systematischen Wortzwischenräume (das ist eine Erfindung des frühen europäischen Mittelalters), laufen mal nach rechts, mal nach links, mal horizontal. 22 Formen tauchen immer wieder auf, darunter ein Fisch, eine Schlange, ein Strichmännchen mit ausgestreckten Armen, eine Wellenlinie und ein Kuhkopf.

Bereits Gardiner entzifferte mehrfach auftauchende Wendungen wie l b’lt (»für die Herrin«) und m’hb b’lt (»Geliebter der Herrin«), die auf eine weibliche Gottheit verweisen, die mit dem semitischen Wort baalat bezeichnet wurde. Da Serabit el-Chadim wie erwähnt ein Kultort der Göttin Hathor war, liegt es nahe, dass mit der »Herrin« sie gemeint war.

Einige der Inschriften sind in Steinfiguren gekratzt, darunter eine kleine Sphinx aus Sandstein, die sich heute im Britischen Museum befindet. Auf ihr steht im protosinaitischen Alphabet Ba’alat und in Hieroglyphenschrift Hathor. Es handelt sich vermutlich, wie bei anderen beschrifteten Gegenständen aus Serabit el-Chadim, um Opfergaben für die Göttin. Durch eine kunsthistorische Einordnung der Sphinx hat man versucht, das Alter der Inschriften zu bestimmen. Eine solche Datierung wird immer umstritten sein – weil sie auf Deutungen kleinster Zeichenvariationen beruht. Aber mittlerweile werden die Figur und die Schriften von führenden Experten auf mindestens 1750 v. Chr. geschätzt. Der Ägyptologe Ludwig D. Morenz datiert sie sogar auf das 19. Jahrhundert v. Chr. Dafür sprächen ikonographische und stilistische Indizien der Inschriftträger. In diese Zeit passe auch das gelegentlich um 90 Grad gedrehte Zeichen Ajin – die Hieroglyphe, die aussieht wie ein Arm, bei dem Ober- und Unterarm einen rechten Winkel bilden und die Handfläche nach oben weist. Historische Indizien stützten die Einschätzung: Das 19. Jahrhundert v. Chr. war die Zeit, als die Ägypter die meisten Expeditionen in den Sinai aussandten. Der Hathor-Tempel wurde von ihnen damals baulich, künstlerisch und inschriftlich ausgestaltet.

Egal, wie alt diese Buchstaben sind: Einig sind sich heute alle Fachleute, dass sie bereits die fortentwickelte Variante einer älteren Schrift darstellen. Morenz leitet das auch daraus ab, dass die protosinaitischen Zeichen bei unterschiedlichen Schreibern nicht immer exakt gleich aussehen – so wie heute verschiedene Handschriften oder gedruckte Schrifttypen recht unterschiedlich aussehen können und wir sie trotzdem erkennen. Bereits ägyptische Hieroglyphen ließen den Schreibern einigen Gestaltungsspielraum. Das setze, so Morenz, allerdings »eine gewisse Lehr- und Lerntradition« des Alphabets voraus.

Diese früheste Form einer Buchstabenschrift war keine völlig neue Erfindung, ihr Prinzip wurde aus Ägypten übernommen. Schon die Ägypter nutzten Zeichen, die für ein bis drei Konsonanten standen. Sie dienten zur phonetischen Wiedergabe von Fremdwörtern. Diese sogenannte Gruppenschreibung kommt einem rein konsonantischen Alphabet sehr nahe. Die Semiten taten im Grunde nichts anderes, als dieses System auf ihre Sprache anzuwenden: Sie ordneten den Lauten bestimmte Schriftzeichen zu und schrieben dann nur noch mit diesen. Allerdings übernahmen sie dabei nicht die ägyptischen Konsonantenzeichen, sondern meist Wortzeichen – sowohl echte Hieroglyphen als auch hieratische Zeichen. Nur dass diese dann semitische Namen bekamen und für den ersten Buchstaben des Wortes standen – so wie heute in Grundschulklassen Bilder von Affe bis Ziege benutzt werden, mit deren Hilfe sich die Kinder die Buchstaben einprägen sollen. Solche Listen nennt man Abecedarien.

Die ägyptische Hieroglyphe für »Rind« stand nun für den Konsonanten der im internationalen phonetischen Alphabet [ʔ] geschrieben wird und dessen ältester sicher überlieferter semitischer Name ’aleph wörtlich »Rind« lautet (vielleicht hieß er zum Zeitpunkt seiner Entstehung ’alpa). Es handelt sich um einen Knacklaut, den sogenannten Glottischlag. Deswegen sieht unser großes A, wenn man es auf den Kopf stellt, 4000 Jahre später immer noch aus wie der Kopf einer Kuh mit zwei Hörnern. Ludwig D. Morenz schreibt dazu: »Die Rinderhieroglyphe war in den hieroglyphischen Inschriften auch im Südwest-Sinai gut bekannt und auch dem leseunkundigen Blick ziemlich leicht verständlich.« Allerdings zeigte die Rinderhieroglyphe meist eine ganze Kuh mit vier Beinen und Körper. Ägyptische Schreiber konnten aber auch Pars pro Toto nur den Rinderkopf benutzen. Dass sich die Semiten für dieses Zeichen entschieden haben, rührt laut Morenz möglicherweise daher, dass der neue Buchstabe eine sakrale Doppeldeutigkeit haben sollte. Denn die uns nun schon häufiger begegnete Göttin Hathor wurde zwar in Menschengestalt dargestellt, aber mit einem Kuhgehörn gekrönt, in dem die Sonnenscheibe schwebte. Diese Verbindung des Zeichens mit der Gottheit war eine Spezialität der Semiten. Dagegen bestand für Ägypter keine Verbindung zwischen der Rinderhieroglyphe und Hathor.

Der Konsonant b hieß in der ältesten sicheren Überlieferung bêt (»Haus«; er könnte vorher den Namen bêta getragen haben) und wurde dargestellt mit der Hieroglyphe für »Haus«, in der man ziemlich konkret den Grundriss eines kleinen Gebäudes wiedererkennt. Genauso verfuhr man bei j mit der Hieroglyphe für »Arm, Hand« und dem semitischen Wort jod, bei m mit dem Zeichen für »Wasser« und dem Wort mêm und bei r mit dem Zeichen für »Kopf« und dem Wort rôsch.


© Hoffmann und Campe Verlag nach https://de.wikipedia.org/wiki/Protasinaitische_Schrift; Buchstabennamen nach Ludwig D. Morenz: Ägypten und die Geburt der Alphabetschrift, Rahden 2016, S. 36

Sowohl in der protosinaitischen Schrift als auch in ihrem ägyptischen Vorbild gibt es noch keine Vokalzeichen. Möglicherweise war die Ursache dafür, dass die Buchstaben den ersten Laut des durch sie angedeuteten Wortes verkörperten – Wissenschaftler sprechen vom akrophonischen Prinzip –, denn alle ägyptischen und semitischen Wörter beginnen mit einem Konsonanten. Eine spätere Einführung von Vokalzeichen erübrigte sich, denn semitische Sprachen lassen sich ohne Selbstlaute gut verschriftlichen: Die Wortwurzeln des Phönizischen, des Althebräischen und des Arabischen bestehen überwiegend aus drei Konsonanten, den sogenannten Radikalen. Manchmal ergaben sich dennoch Zweideutigkeiten. Dafür führte man erst relativ spät, im 1. Jahrtausend v. Chr., Sonderzeichen ein, um Vokale anzudeuten.

Von Anfang an wurden die neuen Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge geordnet und auswendig gelernt. In dieser frühen Zeit konkurrierte – wie bereits im ersten Kapitel angedeutet – die Abgad-Reihung, die mit aleph und bet beginnt, mit einer anderen Reihenfolge, an deren Beginn die Buchstaben h l ḥ m – gesprochen ha-la-ḥa-ma – stehen. Dieses Prinzip setzte sich später im südsemitischen Raum, also in Südarabien und Äthiopien durch.

Der Epigraphiker Aaron Demsky hegt die Theorie, dass die frühen Abecedarien mit Hilfe von Liedern als Gedächtnisstütze auswendig gelernt wurden. Um das Einprägen der Buchstaben zu erleichtern, seien diese darüber hinaus nach fünf Sachgruppen geordnet gewesen: »Haus und Hof« – aleph bis waw; »Feld« – zayin und chet; »Hand« – jod bis lamed; »Wasser« – mem und nahasch; »Teile des Kopfes« – ayin bis taw.

Das Uralphabet von Serabit el-Chadim hatte 22 Zeichen. Die semitischen Abecedarien aus dem 13. Jahrhundert v. Chr., die man in Ugarit und Bet Schemesch bei Jerusalem gefunden hat, verfügten noch über acht zusätzliche Zeichen. Bei späteren semitischen Alphabeten waren es wieder 22 Buchstaben – allerdings fehlen in der phönizischen Schrift zwei Zeichen aus der protosinaitischen Schrift (oder bildhaft-kanaanäischen Schrift, wie sie auch genannt wird), die die rekonstruierten Namen schawt und harma trugen. Dafür kamen in Phönizien noch tet und samech dazu.

Den qualifizierten ägyptischen Schreibern, Fortführer einer damals schon 1500 Jahre alten hochkulturellen Tradition, muss das Alphabet wie ein restringiertes Instrumentarium von Pidgin-Hieroglyphen vorgekommen sein. Pidgin nennt man in der Sprachwissenschaft stark vereinfachte Varianten einer Sprache, wie sie etwa in Kolonien, auf Schiffen oder auf internationalen Baustellen zwischen Befehlsgebern und Befehlsempfängern, die unterschiedlichen Kulturkreisen entstammen, genutzt werden. Die Schreiber, die selbst tausende von Zeichen beherrschten, sahen auf die revolutionärste Neuerung der Schriftgeschichte herab wie heute Bildungsbürger auf das Kiezdeutsch von Migranten.

Die Erfindung des Alphabets kam allerdings weniger gebildeten nichtägyptischen Muttersprachlern, die relativ schlichte Tätigkeiten ausübten, entgegen. Die Inschriften in Serabit el-Chadim sind teilweise in einer so rohen und unbeholfenen Art verfasst, dass man glaubte, daraus folgern zu können, ihre Verfasser seien Analphabeten gewesen, die außer diesen kurzen religiösen Formeln, mit denen sie sich möglicherweise Fundglück erbaten, nichts schreiben konnten.

Die israelische Ägyptologin Orly Goldwasser geht sogar so weit zu sagen, dass die Erfinder des semitischen Alphabets vermutlich noch nicht einmal Ägyptisch konnten und dass gerade diese Unwissenheit es ihnen ermöglichte, den entscheidenden Sprung zu einer reinen Alphabetschrift zu wagen. Die systematischen Unterschiede zwischen dem System, das die Ägypter zur Schreibung von Lauten entwickelt hatten, und dem protosinaitischen Alphabet hält Goldwasser für so gravierend, dass unmöglich das eine vom anderen abstammen könnte. Diese These von der unüberbrückbaren Differenz der zwei Systeme unterstützte auch der französische Ägyptologe Pascal Vernus auf einer Konferenz in Jerusalem im Jahre 2013, auf der die neuesten Thesen zur Frühgeschichte des Alphabets debattiert wurden.

Dazu passt auch die Feststellung von Ludwig D. Morenz bei seinen Forschungen in Serabit el-Chadim, dass es in zwei der Türkisminen nur protosinaitische Inschriften gibt und keine ägyptischen. Man könne eine erstaunlich hohe Literalitätsrate der Türkisbergleute in der von ihnen geschaffenen Schrift annehmen. An deren Entwicklung sei im Umkreis des Hochplateaus ein bemerkenswert breiter Personenkreis beteiligt gewesen.

Im Gegensatz zu Morenz und Goldwasser trauten früher viele Wissenschaftler den vermeintlichen Hinterwäldlern in den Steinbrüchen von Serabit el-Chadim die Erfindung des Alphabets nicht zu. Deshalb gelangte man im 20. Jahrhundert trotz der frühen Entdeckung der Sinai-Inschriften zur Annahme, die neue Buchstabenschrift wäre möglicherweise in Ugarit erfunden worden. Ugarit wurde erst 1928 entdeckt und ab 1929 von französischen Archäologen ausgegraben. Man stieß dort, in der Nähe des heutigen Ortes Ras Schamra in Nordsyrien, auf etwa 1500 Tafeln, die in einer Keilschriftvariante des Alphabets geschrieben sind. Weitere 500 solcher Tafeln fand man in der weiteren Umgebung von Ugarit. Es handelt sich erkennbar um Buchstaben, die nach den Abgad- und Ha-la-ḥa-ma-Systemen anderer semitischer Schriften geordnet sind. Aber sie sind nicht linear geschrieben, sondern mit eckig wirkenden geraden Strichen – den Keilen, nach denen die in Mesopotamien von den Sumerern entwickelte Keilschrift benannt ist. Diese entstand etwa zeitgleich mit den ägyptischen Hieroglyphen vor 5000 Jahren und ist eine der beiden ältesten Schriften der Welt. Sie ist aber nicht alphabetisch, sondern ihre etwa 600 Zeichen stehen für Silben und Wörter.

Offenbar leuchtete den Ugaritern der Vorteil des aus den Hieroglyphen entwickelten Alphabets ein. Ihr Stadtstaat war der erste, der die bereits viele Jahrhunderte außerhalb Ägyptens gebräuchliche Buchstabenschrift offiziell verwendete. Aber sie selbst gehörten eher dem mesopotamischen Kulturkreis an; hier wurde etwa ein Jahrtausend vor der Einführung des Alphabets die echte Keilschrift benutzt. In einem Akt kultureller Mischung, der dem vergleichbar ist, was in der Frühzeit des Alphabets im ägyptisch-sinaischen Raum geschah, schrieben die Ugariter die neuen Buchstaben als Keilschrift – das heißt, sie malten oder gravierten sie nicht, sondern ritzten sie mit einem Stichel in noch ungebrannte Tontafeln ein. Da die Ugariter wie die großen Kulturen des Zweistromlands auf Ton schrieben, waren die staatlichen Schreiber von der mesopotamischen Keilschrift her daran gewöhnt. Zudem lassen sich Keile auch leichter in Ton ritzen als lineare Zeichen. Und deswegen haben ihre Texte überlebt, im Gegensatz zu den vielen protosinaitischen Texten im ägyptischen Kulturkreis, die es gewiss gab, die aber auf vergänglichem Papyrus geschrieben wurden.

Nachdem der Deutsche Hans Bauer 1932 seine Entzifferung der ugaritischen Schrift vorgestellt hatte, neigte man 70 Jahre lang dazu, die Stadt für den Geburtsort des Alphabets zu halten. Eine entwickelte bronzezeitliche Metropole mit einer eigenen qualifizierten Schreiberelite hielt man für einen würdigeren Ort für eine so epochale Erfindung als elende Steinbrüche voller Arbeiter. Man dachte, diese Kanaaniter, die über das Meer mit Ägypten Kontakt hatten und durch Karawanen mit Mesopotamien verbunden waren, hätten die Idee der Schrift von diesen beiden Urkulturen empfangen und dann etwas erfunden, das ihren Bedürfnissen angepasst war: eine Alphabetschrift, die teilweise vage inspiriert von ägyptischen Hieroglyphen war, aber Technik und Form von der Keilschrift übernahm. Die protosinaitischen Schriften interpretierte man nun als dem rauen Steinbrucharbeitermilieu angepasste Alltagsvarianten der ugaritischen Schrift. Dazu musste man sie aber jünger schätzen, als Gardiner das getan hatte. Sie durften nun frühestens 1500 v. Chr. verfasst sein. Dann wären sie in der ugaritischen Blütezeit entstanden.

Gegen diese Theorie spricht aber unter anderem die sogenannte Byblos-Schrift. Die nördlich von Beirut an der Mittelmeerküste gelegene Hafenstadt Byblos war seit dem Alten Reich im 3. Jahrtausend v. Chr. eng mit Ägypten verbunden. Unter anderem lieferte sie Zedernholz von den Hängen des Libanongebirges für die Pharaonen. Die Stadtkönige von Byblos schrieben ihren Namen in ägyptischen Hieroglyphen. Die Pharaonen sandten Opfergaben an die »Herrin von Byblos«, die mit der Göttin Hathor identifiziert wird. Der Ort war auch eine wichtige Station für den Handel mit Lapislazuli und Türkisen. Eine Inschrift in Sinai berichtet, dass ein Mann namens Chebded, der »Bruder« des Herrschers von Byblos, mehrere Unternehmungen anführte, bei denen semitische Arbeiter in den Sinai aufbrachen, um dort Türkise auszugraben.

Wenn wir uns erinnern, welche Rolle die Türkisgruben des Sinai und ihre Schutzgöttin Hathor bei der Entwicklung des protosinaitischen Alphabets spielten, verwundert es nicht, dass manche Forscher neuerdings Byblos statt Ugarit als Mutterstadt des Alphabets identifizieren wollen. Diese These wurde 2013 auf der schon erwähnten Konferenz in Jerusalem von der italienischen Assyrologin Maria Vittoria Tonietti und dem französischen Epigraphiker Émile Puech vertreten. In den Ruinen von Byblos fand man Zeugnisse einer bisher nicht entzifferten Silbenschrift, deren Zeichen auffällig den Konsonantenzeichen der phönizischen Schrift und des altägyptisch-sinaitischen Uralphabets gleichen. Die älteste für Lehrzwecke genutzte Tontafel stammt aus der Ur-III-Periode der Stadt, die von 2112 bis 2004 v. Chr. angesetzt wird. Sie listet teilweise schon Silbenzeichen nach dem ersten Konsonanten auf. Laut Émile Puech, der einige Inschriften aus dem Türkisabbaugebiet des Sinai auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts v. Chr. datiert (darunter auch die Inschrift der schon erwähnten Sphinx), könnte das Alphabet im Lande Retjenu erfunden worden sein – so nannten Ägypter die Region, zu der Kanaan, der Libanon und Syrien gehörten. Die Hieroglyphenschrift sei dafür sicher eine Inspiration gewesen, doch einige Buchstabenformen korrespondierten mit keinem ägyptischen Zeichen. Mit den Expeditionen des genannten Herrscherbruders Chebded wäre das Alphabet zu den Semiten in Ägypten und den Sinai gekommen.

Dazu scheint zu passen, dass man im 20. Jahrhundert etwa 25 frühsemitische Alphabetinschriften in dem geographischen Raum fand, der heute zum Libanon und zu Israel gehört. Sie stehen auf einem Dolch, Pfeilspitzen und Scherben von Töpfergut. Der Dolch datiert wahrscheinlich aus der Zeit vor 1650 v. Chr., einige Scherben könnten noch einmal hundert Jahre älter sein. Die ältesten Funde stammen allerdings aus dem Süden des genannten Gebiets. Das ist ein Indiz dafür, dass sich das Alphabet vom Sinai kommend an der Küste entlang nach Norden ausgebreitet hat. Das wiederum spräche gegen die Theorie von Ugarit oder Byblos als Geburtsort des Alphabets. Im letzten Jahr des alten Jahrtausends wurde die Ugarit-oder-Byblos-Hypothese dann durch eine Entdeckung im inneren Ägypten erschüttert.

Das ABC der Menschheit

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