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Der Sprung nach Griechenland

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Kanaanäische Händler kamen wahrscheinlich schon in der mykenischen Epoche, die kurz nach 1200 v. Chr. mit der Zerstörung aller bis dahin existierenden Palastherrschaften endete, zu den Griechen und wurden bereits Phoinikes genannt. In den dunklen Jahrhunderten, die in Griechenland auf den Zusammenbruch der bronzezeitlichen Herrschaften folgten, entwickelte sich ein großes kulturelles Gefälle zwischen den Hellenen und den Phöniziern. In Griechenland und der im weitesten Sinne dazugehörigen Inselwelt ging die Schrift verloren. In der minoischen Hochkultur auf Kreta hatte man sowohl vom 20. Jahrhundert v. Chr. an eigene Hieroglyphen als auch zwei Silbenschriften entwickelt – die sogenannte Linear A seit dem 17. Jahrhundert v. Chr. und die aus ihr entwickelte Linear B. Letztere war auch auf dem griechischen Festland im Gebrauch. Das alles geriet nun gründlich in Vergessenheit.

Dagegen gediehen die phönizischen Städte prächtig. Sie waren vom großen bronzezeitlichen Zusammenbruch größtenteils verschont geblieben. Im biblischen Buch der Richter wird ausdrücklich hervorgehoben, dass es den Hebräern – die in bronzezeitlichen Inschriften als hapiru zu den großen Unruhestiftern gezählt werden – nicht gelang, Städte wie Akko und Sidon einzunehmen. Im Gegenteil: Befreit vom Druck der schwächelnden Großmächte in Ägypten und Mesopotamien, blühten die Phönizier wirtschaftlich, politisch, militärisch und kulturell auf.

Manches Wissen mussten Hellenen aus Phönizien importieren. Die Alphabetschrift sollen dem Mythos nach die Prinzen Kadmos, Phoinix und Kilix mitgebracht haben, die von ihrem Vater Agenor, dem König von Tyros, nach Griechenland geschickt wurden, um ihre von Zeus entführte Schwester Europa zu suchen. Auf Kalliste, dem heutigen Thira, Hauptinsel des Santorin-Archipels, sollen sie den Bewohnern das Schreiben beigebracht haben. Die Griechen passten die phoinika grammata, die »phönizischen Buchstaben«, nur noch an ihre Sprache an. Dieser Mythos zeigt, dass den Griechen noch lange bewusst war, woher ihre Schrift stammte. Santorin, das tatsächlich jahrhundertelang von Phöniziern besiedelt wurde, bevor die Spartaner hier um 900 v. Chr. einen Stützpunkt errichteten, wäre ein möglicher Kandidat für den Ort dieses so bedeutsamen Kulturtransfers. Andere Kandidaten sind Zypern, Kreta, Rhodos sowie Al Mina, eine Siedlung an der Mündung des Orontes in Kleinasien.

Die Übernahme muss an einem Ort stattgefunden haben, an dem Griechen und Phönizier längere Zeit nebeneinander lebten und beide Sprachen benutzt wurden. Diese Voraussetzungen waren beispielsweise in Al Mina gegeben, wo in der in Frage kommenden Zeit griechische Händler oder Söldner oder beide Gruppen ansässig waren.

Es gibt auch eine Theorie, wonach das neue Alphabet in Kreta entstanden sein soll. Dort sei nach dem Ende der minoisch-mykenischen Mischkultur die Erinnerung an die Schrift mit den beiden Varianten Linear A und Linear B nie ganz verblasst. Das Phönizische Alphabet sei gewissermaßen die modernste Technologie gewesen, mit der man an die alte Kulturtradition wieder anknüpfen konnte.

Die Übernahme der Schrift hat man früher auf die Zeit um 800 v. Chr. datiert. Das früheste Zeugnis, das mit einem Alphabet in griechischer Sprache geschrieben ist, ist eine Inschrift aus der Nekropole Osteria dell’Osa in Mittelitalien, die aus der Zeit um 775 v. Chr. stammt. Für die Zeit von 750 bis 650 v. Chr. sind rund hundert Inschriften aus dem gesamten griechischen Raum nachgewiesen. Es sind Keramikgefäße, in die die Namen ihrer Eigentümer, religiöse Weihsprüche und Trinkverse eingeritzt sind. Auf Kreta hat sich so »Erpetidas, der Knabenliebende« verewigt, und auf einem Schöpfgefäß im süditalischen Kyme warnt der Spruch »Wer mich stiehlt, soll blind werden«.

Mittlerweile geht man davon aus, dass die Übernahme und Erweiterung der phönizischen Schrift schon kurz nach der Wende zum letzten vorchristlichen Jahrtausend stattfand. Das griechische Alphabet – darüber ist die Forschung einig – wurde von einem einzelnen Erfinder oder einer kleinen innovativen Gruppe, die miteinander über ihre Erfindung kommunizierte, geschaffen. Sprachwissenschaftliche Erkenntnisse schließen aus, dass das Alphabet über einen längeren Zeitraum von verschiedenen Gruppen an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zwecken in unterschiedlichen Milieus entwickelt wurde. Dafür ist es schlicht von Anfang an zu homogen.

Den Griechen sagten die semitischen Buchstabennamen gar nichts mehr. Das Zeichen für bêt/bêta hieß bei ihnen zwar in einer oberflächlich gräzisierten Version genauso. Aber nachdem es schon bei den Phöniziern nicht mehr sehr viel Ähnlichkeit mit der Haus-Hieroglyphe gehabt hatte, bekam es im 7. Jahrhundert v. Chr. eine Form, die unserem heutigen Großbuchstaben B schon erkennbar ähnelt – nur mit dem Unterschied, dass es in manchen Inschriften wie ein spiegelverkehrtes B aussieht. Das liegt daran, dass bei den Griechen die Schriftrichtung zu Beginn nicht festgelegt war. Mal schrieben sie in Linksrichtung, mal in Rechtsrichtung, mal in einer Variante, bei der eine Zeile in die eine Richtung geschrieben wurde und dann der Schreiber gewissermaßen umdrehte und in die andere Richtung weiterschrieb. Weil diese Bewegung der des Bauern ähnelt, der mit einem Ochsen vor dem Pflug hin- und hergehend sein Feld bestellt, nannte man sie Bustrophedon, wörtlich übersetzt: »ochsenwendig«. Um 500 entschieden sie sich endgültig für die Schreibweise von links nach rechts.

Die Griechen übernahmen zwar die phoinika grammata, aber sie veränderten sie teilweise und fügten etwas hinzu, das eine welthistorisch bedeutende Innovation war: echte Vokalzeichen. Das war nötig, weil die griechische Sprache zur indogermanischen Sprachfamilie gehört, in der Vokale eine wesentlich bedeutendere sinntragende Rolle spielen als in den semitischen Sprachen. Unsere Wörter Halle, Hölle, Hülle, Höhle, Helle, hohl und Hall unterscheiden sich nur durch Vokale oder Vokallängen – man bedenke, dass h und das Doppel-l nur Längenbezeichnungen für den vorangehenden Vokal sind. Auch grammatisch sind die Vokale oft entscheidend, in alten indogermanischen Sprachen noch mehr als heute. Unsere starken Verben wie schwimmen, schwamm, geschwommen geben eine schwache Ahnung von den archaischen Verhältnissen. Im Altgriechischen waren die Vokale noch viel bedeutsamer.

Mit dieser ersten Anpassung an eine indoeuropäische Sprache und der Schaffung von Vokalzeichen öffneten die Griechen dem Alphabet einen Weg zu den Sprachen des Westens und der ganzen Welt. Nun konnte es für fast alle anderen Sprachen – nicht nur indogermanische – adaptiert werden. Die wichtigste Tochterschrift des griechischen Alphabets ist die römische, die wir nach zahlreichen Anpassungen ebenfalls benutzen – es ist heute das global am häufigsten gebräuchliche Alphabet.

Zur Bezeichnung der Vokale verwendeten die Griechen ganz einfach phönizische Konsonantenzeichen, die sie nicht brauchten. Davon gab es genug, weil das Griechische von Anfang an weniger Konsonanten als das Nordwestsemitische hatte. Darüber hinaus verschwanden einige griechische Konsonanten im Laufe der Zeit. So konnten weitere Zeichen, die nun nicht mehr nötig waren, zu Vokalzeichen umfunktioniert werden. Das geschah regional in unterschiedlicher Weise und zu unterschiedlichen Zeitpunkten – je nachdem, welcher Dialekt des Griechischen gesprochen wurde.

Das griechische Alphabet hatte am Anfang fünf Vokalzeichen, die Äquivalente unserer Buchstaben a, e, i, o und u. Später kamen noch zwei Buchstaben für ein langes e und o hinzu.

Das semitische aleph wurde, weil der Knacklaut im Griechischen nicht existierte, zum alpha Α, dem ersten a-Vokalzeichen. Beim phönizischen ’ayin, wörtlich »Auge«, war der Bildsinn des Zeichens noch so offensichtlich, dass die Griechen ihm dem akrophonischen Prinzip folgend ihr eigenes Wort für »Auge« und dessen Anfangsbuchstaben zuordneten – entweder ophthalmos oder omma, der Buchstabe hieß dann omikron und bezeichnete einen kurzen o-Laut. In Milet in Kleinasien entstand um 700 v. Chr. aus dem gleichen ’ayin auch noch der Buchstabe omega Ω für einen langen o-Vokal. Er wurde ans Ende des Alphabets gestellt. Die Differenzierung zwischen Lang- und Kurzvokalen war für das Griechische sehr wichtig, für die Semiten spielte sie keine Rolle. Im griechischen Uralphabet war sie noch nicht möglich.

Die Griechen fügten dem Alphabet mit phi Φ, chi Χ und psi Ψ aber auch noch drei Zeichen für Konsonanten oder Konsonantenverbindungen hinzu. Alle neuen Buchstaben wurden hinter dem letzten Buchstaben des phönizischen Alphabets, dem tau Τ eingereiht.

Entgegen früheren Annahmen sind sogar die häufigen Endungen auf -a bei den griechischen Buchstaben wahrscheinlich schon von den semitischen Namensgebern übernommen: alpha, beta, gamma. Es handelt sich mit Gewissheit um Kasusendungen, die bei den uns aus dem Hebräischen bekannten Buchstabennamen aleph, bêt, gimel verloren gegangen sind. Einer der größten Spezialisten für die Frühzeit des Alphabets, Josef Tropper, glaubt sogar, der griechische Buchstabenname rho Ρ beweise ganz sicher, dass das Alphabet von den Phöniziern und keinen anderen Semiten übernommen wurde – bei denen hieß die Vorform rôš und hat einen ganz spezifisch phönizisch-kanaanäischen o-Vokal. Die aramäische Entsprechung heißt rêš.


© aus: Harry Thurston Peck: Harpers Dictionary of Classical Antiquities, New York 1898

Westgriechische Abecedarien. Frühe etruskische Alphabete, die auf einer Amphore in einem Hügelgrab bei Formello/Italien gefunden wurden.

Ungefähr um 600 v. Chr. hatte sich die neue Erfindung in der ganzen hellenischen Welt verbreitet, und jede griechische Stadt hatte eine des Lesens und Schreibens kundige Ober- und Mittelschicht. Die lange Zeit nur mündlich weitererzählten Epen konnten aufgeschrieben werden, das stellte ihr Fortdauern sicher. Die beiden grundlegenden Erzähltexte der westlichen Literatur – die Odyssee und die Ilias wurden um 750 v. Chr. fixiert. Aber auch die vielen anderen Details der Mythologie wären vielleicht nicht überliefert, wenn die Griechen nicht rechtzeitig das Alphabet gehabt hätten.

Die Griechen schrieben mit ihrem Alphabet nicht nur Wörter, sondern sie nutzten es auch zur Darstellung von Zahlen. Wir kennen diese Methode heute noch von den römischen Zahlen – aber bevor sich überall die indisch-arabischen Ziffern durchsetzten, gab es solche Zahlschriftzeichen in vielen Schriften, beispielsweise auch in der äthiopischen, armenischen oder georgischen Schrift.

Die offenbar besonders innovativen Köpfe von Milet teilten in der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. das Alphabet in drei Gruppen von je neun Zeichen für die Darstellung der Einer, der Zehner und der Hunderter ein. Dafür wurden drei alte Buchstaben – digamma Ϝ, koppa Ϙ und sampi Ϡ –, die im klassischen griechischen Alphabet nicht vorkommen, als Zahlzeichen benutzt. Alpha Α bis theta Θ standen für 1 bis 9, kappa Κ bis koppa Ϙ für 10 bis 90, rho Ρ bis sampi Ϡ für 100 bis 900. Auch wenn sich schon im späten Byzantinischen Reich im 14. Jahrhundert v. Chr. das arabische Zahlensystem durchsetzte, das auch wir benutzen, so ist die alte Alphabetzahlenschrift noch heute in Griechenland gebräuchlich und allgemein verständlich: Sie wird beispielsweise für Herrschernamen verwendet, so wie wir diese ja ebenso immer noch mit römischen Ziffern ordnen. Auch Schulklassen werden nach dem alten System gezählt: Die fünfte Klasse ist die Epsilon-Ε-Klasse.

Das griechische Uralphabet teilte sich relativ rasch in nach Regionen und Dialekten unterschiedene Alphabete auf. Der Deutsche Adolf Kirchhoff systematisierte diese in den 1880er Jahren erstmals. Weil er sie auf einer Karte grün, blau und rot einzeichnete, spricht man heute noch von grünen, roten und blauen Alphabeten. Grün sind die der südlichen Inseln, zu denen Kreta gehört. Blau sind die »ostgriechischen« (die Himmelsrichtung ist hier nicht immer wörtlich zu nehmen) Alphabete Atticas, Korinths, Kleinasiens, der nördlichen Inseln und der Randgebiete im Norden wie Thrakien, Acarnania und Chalkidiki. Rot sind die Alphabete des Westens, also die meisten des griechischen Kernlands von Thessalien im Norden bis Lakonien im Süden der Peleponnes, auf Rhodos sowie in den Kolonien auf Sizilien und in Unteritalien.

Zwei wichtige für die Zukunft richtungsweisende Entscheidungen hängen mit der Unterschiedlichkeit dieser regionalen Alphabete zusammen. Die eine war, dass die Athener im Jahre 403 v. Chr. auf Veranlassung des Archonten Eukleides ihr Lokalalphabet aufgaben und das blaue milesische Alphabet einführten. Es wurde erst zum ionisch-attischen Einheitsalphabet und eliminierte im Lauf des 4. Jahrhunderts alle anderen lokalen Alphabete. Ab der hellenistischen Zeit, die mit den Eroberungszügen Alexanders beginnt, war ausschließlich das griechische Standardalphabet mit einem Vorrat von nunmehr 24 Zeichen gültig.

Die andere richtungsweisende Entscheidung war, dass die Etrusker, ein rätselhaftes Volk im heutigen Italien, ein rotes Alphabet von den Westgriechen übernahmen, die sich seit etwa 800 v. Chr. in Italien angesiedelt hatten. Später wurden die Etrusker dann die Schreiblehrmeister der Römer.

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