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Graffiti in der Wüste

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Die sogenannte Farschût-Straße, die von Theben in die Libysche Wüste führt, lag nicht immer so menschenleer da wie heute. Einst war sie eine viel berittene und begangene Piste, über die ägyptische Polizei- und Militärkommandos nach Westen und Süden aufbrachen. Die Straße verband die Hauptstadt mit Hu und Abydos im Norden und den Oasen Charga und Dachla in der – wie die Ägypter sie nennen – Westlichen Wüste. In dieser Gegend waren vor allem in unruhigen Zeiten immer Soldaten stationiert.

Inmitten der Farschût-Straße liegt das Wadi el-Hol. Ein Wadi ist ein ausgetrocknetes Flussbett, das sich nur bei den wenigen Regen in der Wüste mit Wasser füllt. Dieses Wadi war ein Ort, der Soldaten dazu anregte, Graffiti zu hinterlassen, bevor sie – vielleicht ohne Wiederkehr – in die Wüste zogen. Die Stimmung dürfte oft so gewesen sein wie im berühmten Lied von Freddy Quinn: »Hundert Mann und ein Befehl und ein Weg, den keiner will.« Der Vergleich liegt auch deshalb nahe, weil es sich bei den Soldaten häufig um eine Art Fremdenlegionäre handelte, also Männer, die »fern von Zuhaus« für fremde Herrscher kämpften.

Hunderte von Inschriften und Bildern hat man bis heute im Wadi el-Hol gefunden. Die meisten stammen aus der Zeit zwischen 2000 und 1700 v. Chr. Während des späten Mittleren Reiches und der Zweiten Zwischenzeit befand sich hier ein Militärstützpunkt, der Theben gegen Überfälle aus der Wüste sichern sollte. Der größte Teil der Inschriften ist in hieratischer Schrift geschrieben.

Genau diese Inschriften wollte der Ägyptologe John Coleman Darnell eigentlich kopieren, als er im Wadi el-Hol forschte. Seit den frühen neunziger Jahren sind der Wissenschaftler, der damals wie heute der Universität Yale angehört, und seine Frau Deborah als Leiter des von Yale finanzierten Theban Desert Road Survey zu mehr als 20 Expeditionen in die ägyptische Wüste aufgebrochen, um dort die alten Straßen zu kartographieren und archäologische Relikte zu finden. Dabei entdeckten sie unter anderem ein Graffito, das den Sieg des ca. 3150 v. Chr. geborenen frühdynastischen ägyptischen Königs Skorpion I. über einen Gegner namens Bullenkopf feiert und im Zusammenhang mit der Gründung eines Einheitsstaates in Oberägypten steht. Es gilt als die älteste geschichtliche Aufzeichnung Ägyptens.

Was sie im Wadi el-Hol fanden, kann es aber an Bedeutung mit diesem Fund durchaus aufnehmen und übertrifft es sogar. Das gut erhaltene Stück der alten Farschût-Straße entdeckten sie 1992. Es liegt in einem Tal mit gelblichen Sandsteinfelsen. Offenbar war es seit der Antike in Vergessenheit geraten und deshalb an diesem unwirtlichen Ort vor Dieben geschützt gewesen. Vor den Augen der Darnells breiteten sich zahlreiche Überbleibsel aus altägyptischer Zeit aus: Überreste von Dung, Töpferwaren, Fasern von Seilen. Am Fuß der Felswände waren hunderte ägyptische Inschriften eingekratzt von Leuten, die auf ihren Reisen hier vorbeigekommen waren. Die relativ weichen Felsstücke waren teilweise glatt wie Schultafeln und schienen Durchreisende geradezu einzuladen, sich zu verewigen. Auf den ersten Blick sahen die Inschriften nicht ungewöhnlich aus. Es war eine Mixtur aus Hieroglyphen und hieratischen Zeichen, deren Stil typisch war für die Spätzeit des Mittleren Reiches zwischen 2000 und 1600 v. Chr. – unruhige Zeiten, in denen Ägypten von Eroberern aus dem Norden und Süden unter Druck gesetzt wurde. Briganten machten die Wüstenstraßen unsicher. Aus der Königsstadt Theben zogen hier häufig Militärpatrouillen entlang, um die Wege für berittene königliche Nachrichtenkuriere freizuhalten. Im Wadi el-Hol findet sich die Darstellung eines Pferdes mit Reiter, die Signatur eines Stallmeisters des Pharaos Ramses, und auf Stelen der 21. Dynastie wird die Farschût-Straße als »Straße der Pferde« bezeichnet.

Angesichts des ungewissen Schicksals, das die Soldaten erwartete, wollten sich viele offenbar hier verewigen, bevor sie möglicherweise auf Nimmerwiedersehen in der Wüste verschwanden. Was sie hinterließen, hatte nichts Spielerisches oder Obszönes wie die Graffiti römischer Sexprotze und Maulhelden in Pompeji – es waren vielmehr Grab- oder Gedenksteine für Menschen, die noch lebten. Üblicherweise schrieben die Männer ihren Namen, ihren militärischen Rang und ein kurzes Gebet an eine Gottheit, mit dem sie um Schutz für ihre Wüstenmission baten. Vorüberkommende sollten später den Namen des Schreibers lesen und vielleicht sogar laut aussprechen. Die Ägypter glaubten bekanntlich an ein Leben nach dem Tode. Für die Seele würde es aber hilfreich sein, wenn man sich auf Erden an den Menschen erinnerte.

Bei seinem dritten Besuch 1994 bemerkte Darnell zwei Inschriften, die sich von den übrigen unterschieden, aber einander ähnelten. Etwas mehr als sechs Meter voneinander entfernt waren sie etwa in Schulterhöhe im Sandstein verewigt. Die Platzierung und die Methode, mit der sie eingeritzt wurden, waren die gleichen wie bei den hunderten anderen – typische Soldatengraffiti aus dem Mittleren Reich. Aber Darnell konnte sie nicht lesen.

Die zwei Inschriften bestanden aus 16 und zwölf Zeichen, einige kamen doppelt vor. 15 verschiedene Zeichen waren benutzt worden. Einige waren erkennbar Bilder. Darnell identifizierte einen Ochsenkopf, ein Strichmännchen mit erhobenen Armen, Wellenlinien und ein symmetrisches Kreuz. Dem amerikanischen Autor David Sacks sagte Darnell etwa zehn Jahre später in einem Interview: »Auf den ersten Blick sahen sie so ähnlich aus wie die Sinai-Inschriften. Deshalb war ich sicher, dass sie sich auch als alphabetisch herausstellen würden.«



© Marilyn Lundberg, West Semitic Research, University of Southern California

Zwei der beiden ältesten bislang bekannten Alphabetinschriften aus dem Wadi el-Hol, Ägypten, ca. 2000–1900 v. Chr.

Daran zweifelt heute kaum noch jemand. Die Zeichen sind zwar teilweise von hieratischen Zeichen (etwa die Buchstaben »sitzender Mann« und »Mauerecke«) und teilweise von Hieroglyphen (»Rinderkopf«, »gedrehter Strick«, »Wasserlinie«) inspiriert, und ein solches Gemisch war auch in den original ägyptischen Inschriften zu finden – je nachdem welches Symbol sich leichter in den Fels ritzen ließ –, aber sie folgen eindeutig einer alphabetischen Ordnung.

Zwar sind die Inschriften nach wie vor nicht lesbar, weil das Fehlen von Wortzwischenräumen und die unklare Richtung der Schrift das Lesen erschwert. Einige Forscher vermuten, dass es sich noch um ein Gemisch von frühen Buchstaben und Bildzeichen handelt. Aber wenn man davon ausgeht, dass die Leserichtung von rechts nach links geht, so wie bei späteren semitischen Schriften, dann beginnt eine Inschrift mit dem Wort rb (»Anführer«) – gesprochen rebbe und verwandt mit Rabbi –, die andere mit dem Wort ’l (»Gott«) – gesprochen el.

Die Inschriften sind um 1800 v. Chr. eingraviert worden, vielleicht ein Jahrhundert früher, vielleicht später. Aber seitdem man sie kennt und analysiert hat, gilt als wahrscheinlich, dass das Alphabet um 2000 v. Chr. erfunden wurde – und zwar in Ägypten. Das frühe Datum kann man daraus schlussfolgern, dass sich die Form ägyptischer Schriften und auch der militärischen Felsinschriften im Laufe der Jahrtausende verändert hat. Paläographie ist eine der wichtigsten Hilfswissenschaften der Ägyptologie: Bestimmte Zeichen und Formen ordnet man ganz eindeutig bestimmten Zeiten und Epochen zu. Die Buchstaben der Wadi-el-Hol-Schrift, wie sie mittlerweile genannt wird, um sie von der jüngeren protosinaitischen Schrift abzugrenzen, beruhen ganz klar auf hieroglyphischen und hieratischen Formen, die im Mittleren Reich um 2000 v. Chr. gebräuchlich waren.

Am verräterischsten ist der m-Buchstabe, viermal taucht in den zwei Inschriften eine Wellenlinie auf. Sie ist unverkennbar der Vorläufer des phönizischen Buchstaben mêm (»Wasser«). Sie ähnelt einem ägyptischen Zeichen, das in vielen Felsinschriften belegt ist. In beiden Symbolen verläuft die Wellenlinie vertikal. Doch normalerweise verlief sie bei den Ägyptern horizontal. Es gab nur eine kurze Zeit um 2000 v. Chr., in der die Ägypter vertikale Wellenlinien schrieben. Zu dieser Zeit muss der Buchstabe aus der Wadi-el-Hol-Schrift entstanden sein.

Faszinierend ist auch, dass die Wadi-el-Hol-Schrift einen Buchstaben hat, der sich aus der Tierfesselhieroglyphe entwickelt hat und der in der protosinaitischen Schrift und allem, was aus ihr folgt, nicht mehr vorkommt. Dafür findet sich dieses Zeichen in alten südarabischen Alphabeten – wie dem sabäischen, dem minäischen und dem frühäthiopischen. Das ist ein Beweis dafür, dass sich Idee und Form des Alphabets schon früh von Ägypten aus in verschiedene Himmelsrichtungen ausgebreitet haben. Die Wadi-el-Hol-Schrift ist wahrscheinlich der gemeinsame Vorläufer sowohl der südarabischen Schriften als auch der nördlichen semitischen Schriften, aus denen sich alle späteren Alphabete entwickelt haben.

Die Schreiber im Wadi el-Hol waren sicher Menschen, die die Ägypter Amu nannten, also »Asiaten«, wobei sich »Asien« in der ägyptischen Vorstellungswelt natürlich auf Nahen und Mittleren Osten beschränkte. Ganz in der Nähe der beiden alphabetischen Inschriften steht eine weitere Botschaft im Sandstein – diesmal klar ägyptisch. In ihr wird ein gewisser »Bebi, General der Asiaten« erwähnt. Daneben stehen die Namen von Menschen, die als wpwty-nswt (»königlicher Bote«) und als sjn.w (»Expresskuriere«) bezeichnet werden. Darnell und mit ihm der überwiegende Teil der Alphabethistoriker geht davon aus, dass der »Anführer«, der sich in der Wadi-el-Hol-Schrift verewigt hat, ein Offizier oder Stammeschef unter Bebis Kommando war. Der andere Soldat, der einen Gott anruft, dürfte eine ähnliche Position innegehabt haben. Im erwähnten Interview mit Sacks sagt Darnell: »Es scheint mir sicher, dass General Bebi seinen Namen geschrieben hat und zwei seiner Semiten ihren.«

Das ist das Milieu, in dem das Alphabet entstand. Solche semitischen Hilfstruppen, wie sie Bebi befehligte, hatten ägyptische Militärschreiber dabei. Die Asiaten, die die Kuriere unterstützten, waren, so vermutet Darnell, »vielleicht Soldaten mit ihren Familien, die der ägyptischen Wüstenpolizei zur Seite standen, vielleicht die Wasserlöcher sauber hielten und Lebensmittel und Unterkunft für die Kuriere und andere Patrouillen bereitstellten. Die Ägypter dürften die Asiaten aufgrund ihrer speziellen Fähigkeiten eingestellt haben; aufgrund ihrer Erfahrung waren sie imstande, ein mobiles Lager in einer Wüstenumgebung zu verwalten. Sie waren also keine Sklaven, sondern Wüstenexperten, die mit den Ägyptern zusammenarbeiteten. Die ägyptische Schrift erlernten sie nicht in Schulen, die Tempeln angeschlossen waren, sondern von den Heeresschreibern.«

Andere Kandidaten für die Erfindung einer akrophonischen Alphabetschrift zur Schreibung westsemitischer Sprachen bringt der österreichische Ägyptologe Helmut Satzinger ins Spiel: »Der Schöpfer der ägyptosemitischen Schrift muss mit der ägyptischen Hieroglpyhenschrift gut vertraut gewesen sein. Das waren aber nur ägyptische Priester sowie höhere Beamte. Dies lässt nur den Schluss zu, dass die ägyptosemitische Schrift eine Schöpfung des offiziellen Ägypten war, deren Zweck es war, die Administrationen, in die Asiaten involviert waren, zu erleichtern.«

Darnell dagegen hält die Schrift für eine gemeinschaftliche Schöpfung von ägyptischen Militärschreibern und semitischen Söldnern: Erstere schrieben ihre Zeichen auf längst zu Staub gewordene Papyri. Die aus Asien stammenden Untergebenen nahmen einige dieser Zeichen und ordneten ihnen nach dem akrophonischen Prinzip Lautwerte zu, mit denen Wörter aus ihren eigenen Sprachen begannen. Gemeinsam schufen sie so das Alphabet.

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