Читать книгу Ein kleines Leben - Matthias Klingenberg - Страница 13
Gadenstedt/Bargfeld
Оглавление„Als erstes sieht man eine öde Gegend
Bis zum Horizont ein wirres Licht
Irgendwo in einer weiten Welt gelegen
Und alles ist umringt vom Nichts“
(Kid Kopphausen: Schritt für Schritt)
Tiflis, 18. Januar. Heute vor 100 Jahren wurde Arno Schmidt geboren. Schmidt suchte die Abgeschiedenheit, die Isolation von der Realwelt und fand sie dann im kleinen 150-Seelendorf Bargfeld in der Lüneburger Heide. Als er das kleine Holzhaus am Rande des Dorfes bezog, zäunte er das Grundstück erst einmal ein, fertigte Skizzen für ein hölzernes Eingangstor an, gab es in Auftrag und stellte es auf. Eine Klingel installierte er nicht. Später bepflanzte er den Zaun, um sich vor den Blicken Fremder zu schützen. „Ein guter Schriftsteller darf weder haben Freund noch Vaterland noch Religion“, sagt Schmidt in einem Interview. Bargfeld liegt genau 60 Kilometer nördlich vom Dorf, in dem der Friseursalon meines Großvaters steht. In einem Film zum Anlass des 100. Geburtstages des Schriftstellers wird die Suche Arno Schmidts nach Abgeschiedenheit und einem eigenen Refugium als Auswuchs seines Charakters und eines Werks, das seinen Erschaffer Stück für Stück auffraß, dargestellt. Ich behaupte aber, dass es hier ein weiteres Moment gibt, das als Erklärung herhalten kann.
Was verbindet Karl Krüger und Arno Schmidt? Der eine Schriftsteller, der andere Friseurmeister. Beide sind im Jahr 1914 geboren. Beide waren dreißig, als sich der Krieg dem Ende zuneigte und verloren war. Sie sind Zeitgenossen. Beide haben überlebt. Beide haben Erfahrungen gemacht, die zu verarbeiten sie wahrscheinlich nicht in der Lage waren. Beide waren Kriegsteilnehmer, die ins zivile Leben zurückkehrten und es noch einmal (oder jetzt endlich) wissen wollten, sich hineinstürzten mit Elan und Energie in das neue Leben. Der eine übernahm nur Monate nach der Rückkehr aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft den Friseursalon seines verstorbenen Schwiegervaters, der andere schrieb die Erzählung „Leviathan“ in Ermangelung von normalem Papier auf Telegrammformularen der US-amerikanischen Besatzungstruppen. Beide wussten, dass es höchste Zeit war, die verlorene Kriegszeit aufzuholen, allerhöchste Zeit, noch einmal neu anzufangen. Am 1. Dezember 1946 bezeichnete sich Schmidt erstmals als „Freier Schriftsteller“. Man spürt den Aufbruchsgeist der Zeit. Karl Krüger machte am 21. Oktober desselben Jahres seine Meisterprüfung. Es begann eine Zeit hektischer Produktivität. Schmidts Leben war in erster Linie von Arbeit erfüllt, es war sein Sinn schlechthin. „Sei es noch so unzeitgemäß und unpopulär; aber ich weiß, als einzige Panacee, gegen Alles, immer nur ‚Die Arbeit‘ zu nennen; und was speziell das anbelangt, ist unser ganzes Volk, an der Spitze natürlich die Jugend, mit nichten überarbeitet, vielmehr typisch unterarbeitet: ich kann das Geschwafel von der ‚40= Stunden=Woche‘ einfach nicht mehr hören: meine Woche hat immer 100 Stunden gehabt.“ Das galt so auch für Karl. Eine Flucht in die Arbeit, wo alle anderen Werte durch das erlebte Grauen für immer vernichtet waren? „Nicht sprechen, sondern produzieren“ lautete die Devise. Arbeit verarbeitet. Schmidt wünschte sich eine Insel, seine Insel, das Wasser als trennendes Element zwischen ihm und der Welt, dem Draußen, distanzschaffend und sicherheitsgebend. Die Insel ein Ich-Biotop, wo niemand einem mehr reinredet, keiner Befehle gibt, ein eigenes Reich: „Vorgesetzte, Chefs, Direktoren, Präsidenten, Generale, Minister, Kanzler. Ein anständiger Mensch schämt sich, Vorgesetzter zu sein“, schreibt Schmidt im Leben eines Fauns (1953 erschienen). Die ‚Insel‘ meines Großvaters hieß „Salon Karl Krüger“, gelegen an der Landwehr 193. Dort war er sein eigener Chef und seine Frau Toni seinem Masterplan zu 150 Prozent verpflichtet: Ähnlich dem, was man über die Beziehung Schmidts zu seiner Ehefrau weiß: 1937 schreibt er in einem Brief über seine Beziehung zu Alice: „Eine ganz ideale vertikale Liebe (meine Spezialität! Leider!).“ Er verbietet ihr, trotz erheblichen Geldmangels (!), weiter in der Fabrik zu arbeiten. Alice ist Zeit seines Lebens dem Genie, ihrem Mann, abhängig ergeben. Drei Jahre nach Schmidt stirbt Alice vereinsamt in Bargfeld.
Mir geht es, wenn ich dies hier niederschreibe, nicht darum, irgendetwas zu vergleichen, was nichts miteinander zu tun hat. Nur damit keine Zweifel aufkommen, mein Großvater war kein genialer Schriftsteller, ganz bestimmt kein künstlerisches Genie, wenngleich er von seinem Handwerk etwas verstand. Mir geht es einzig und allein darum, aufzuzeigen, dass gewisse schon beschriebene und noch zu beschreibende Verhaltensweisen meines Großvaters und seines Zeitgenossen Arno Schmidt verblüffende Ähnlichkeiten aufweisen. Und da, soweit wir feststellen können, das einzig Verbindende das gleiche Geburtsjahr und die Kriegsteilnahme ist, wenn auch in unterschiedlichen Zusammenhängen, möchte ich ergründen, was und wie viel von dem, was mir zeit seines Lebens als ‚eigen‘ auffiel – und mitunter nicht nur mir aufstieß –, biografisch, also maßgeblich durch den Krieg zu begründen ist. Dass beide Leben an einem gewissen Punkt die karge flache Heidelandschaft suchten, war ein Zufall, der aber auf paradoxe Weise in das Gesamtbild zu passen scheint. Nach so viel Fremdbestimmung – als Wehrmachtssoldat (für einige bis hinein in den Tod!) – ist die eigene Freiheit das höchste Gut. Karl hat sich, das hat er in unseren Gesprächen so geäußert, verraten und betrogen gefühlt: betrogen um die eigene Jugend von einer verräterischen Ideologie, die ihm weisgemacht hatte, er kämpfe für eine höhere und gerechte Sache. Aus dieser Enttäuschung erwuchs Misstrauen, das manchmal nicht mehr gesund war. Es konnte sich gegen jeden und alles wenden, es diente dem Selbstschutz und es basierte auf Lebenserfahrung.
Solange ich denken kann, hatte das Grundstück meines Opas einen Zaun. Anders als beim Schmidt'schen Grundstück musste er nicht erst gezogen werden, aber die Pforten und Türen mussten immer fest – „Bitte dreh den Schlüssel zweimal rum!“ – verschlossen werden, die Fenster fest verriegelt: Alles hatte dicht zu sein im Haus meiner Großeltern. Und: Regelmäßig brach der alte Mann zu Hamsterkäufen in den nahen Supermarkt auf, um Speisekammer und Vorratskeller mit Dosen und allerlei Fertigprodukten zu füllen. Neben dem Freiheitsdrang und dem Gefühl, betrogen worden zu sein, war Angst das alles bestimmende Gefühl. Eine spezielle nachkriegsdeutsche Form der German Angst, eine diffuse Angst gepaart mit Schuldgefühlen. Für den Schriftsteller Schmidt war es einfacher, sich aus der Welt zu nehmen, sich einzuzäunen auf der Heideinsel, als es für den Friseur Krüger war, denn letzterer hatte ja tagtäglich mit Kunden, Frisösen und Vertretern der diversen Friseurbedarfsfirmen zu tun. Beide haben sich ganz und gar auf ihr Werk konzentriert, der eine auf das Schreiben, der andere auf das Frisieren. Ich erinnere mich, dass meine Großeltern eigentlich keine Freunde hatten, dass zwar jeder im Dorf die Krügers kannte und sie jeden kannten, sie aber kaum freundschaftliche Kontakte pflegten. Sie redeten zumeist auch nicht gut über die anderen, es war ein Ritual zur Bestätigung der eigenen Isolation, über die anderen abschätzig zu reden, um so die eigene Existenz in ihrer speziellen Ausprägung zu rechtfertigen. Angst, Schuldgefühle, traumatische Erlebnisse haben hier in eine innere seelische Verhärtung gemündet – der Enkelsohn war hiervon ausgenommen.
Toni und Karl verließen ihre Insel nur ungern. Sie unternahmen kaum Urlaubsreisen, Ausfahrten mit dem PKW, zumeist als Pflicht empfundene Verwandtenbesuche, waren nie über Nacht. Am 3. Mai 1980 schreibt Karls Bruder aus Minden: „Wir können nicht verstehen, daß ihr uns im vergangenen Jahr nicht besuchen kamt. Ihr hattet uns vor 3 Jahren, wie wir bei euch waren zugesagt, uns mal zu besuchen. Die Einladung sollte schon im letzten Jahr erfolgen, aber das Wetter spielte nicht mit! Wie ihr schreibt habt ihr keine Termine frei. Wenn ihr dann keine Termine zu erledigen habt, dann hättet ihr doch sofort schreiben können. Die Terminangelegenheit ist meines Erachtens nur eine dumme Ausrede.“
Sonntagsausflüge, wenn überhaupt unternommen, führten immer an die gleichen Plätze im nahegelegenen Mittelgebirge und in die Lüneburger Heide: Ich erinnere mich an die beigen runden Thermosgefäße, in denen die zuvor gekochte Erbsensuppe auf solchen Ausflügen serviert wurde. Es wurde gewandert, gepicknickt und zurückgefahren. Natürlich beschreibe ich hier eine für das Nachkriegsdeutschland und das Sozialmilieu nicht untypische Spießigkeit, die sich bei meinem Großvater in einer Sehnsucht nach Regelmäßigkeit, Ordnung und somit Sicherheit ausdrückte. Neues, Veränderungen, Experimente waren unabänderbar mit den Traumata der Jugend in Stalingrad oder sonst wo verbunden, denn nur da und dann negativ konnotiert hatte er solches kennengelernt. Auch Schmidt unternahm seine Abenteuer nur auf dem Papier: Zum Ende seines Lebens legte er Ordner mit Bildern aus Modekatalogen an, um auf dem Laufenden zu bleiben, wie Menschen aussehen und sich kleiden. Die Realität wurde zunehmend aus der Distanz wahrgenommen, aus einer selbstgeschaffenen Sicherheitsdistanz. Wer nicht teilnimmt und nicht Bestandteil ist, ist auch nicht verletzbar. Bargfeld und Gadenstedt sind gar nicht so weit voneinander entfernt.