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Transgenerationales Schweigen

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Was mache ich hier nur? Ich sitze seit Wochen, ja Monaten, am Schreibtisch, betrachte uralte Schwarz-Weiß-Fotografien, ana­lysiere Dokumente und Urkunden, treibe mich in tenden­ziösen Internetforen herum und schreibe Notizen in mein kleines rotes Moleskine. Der Zufall will, dass ich dies genau im hun­dertsten Geburtsjahr meines Großvaters tue, um den es bei den ganzen Recherchen ja geht. Das habe ich aber erst bemerkt, als ich im Werk des Nachkriegsschriftstellers Arno Schmidt nach parallelen Mustern, Einstellungen und Thema­tiken suchte und mir hierbei sein Geburtsjahr 1914 auffiel. Was – an anderer Stelle hierzu mehr – nicht die einzige Parallele bleiben sollte.

Wenn ich die Fragen stelle: Wo war mein Großvater Karl Krüger im Zweiten Weltkrieg? Was hat er dort getan? Was hat man ihm damals angetan? Dann frage ich mich zugleich, warum ich das wissen will, denn dies war ja im Grunde die Frage der ersten Nachkriegsgeneration, der ich gar nicht angehöre. Ich bin 1972 geboren. Als mögliche Antwort könnte aber herhalten, dass sich meine Eltern dieser Frage ja nie gestellt haben, mein Fragen also ein ‚nachholendes‘ Fragen ist. So ganz will mir das jedoch nicht einleuchten. Denn das würde ja heißen, dass ich heute hier nicht sitzen würde, wenn meine Eltern ihre Eltern gefragt und meine Großeltern zu einer Auseinandersetzung gezwungen hätten. Ist da vielleicht etwas dran? Vielleicht insofern, als dass meine heutige Beschäftigung mit dem Leben meines Großvaters definitiv eine andere wäre, wenn es in meiner Jugend einen Dialog, einen Austausch über seine Vergangenheit zwischen den drei Generationen gegeben hätte. Dieser Austausch hat aber nicht stattgefunden: Meine Eltern haben nicht gefragt, die ungestellte Frage wurde nicht beantwortet und das Gesamtthema beschwiegen.

Es geht im Kern um Schuld und Leid, aber auch um Erkenntnis. Um eine empathische, die nachfühlen und ver­stehen will. Es will mir erscheinen, als ob der Fluch der Großelterngeneration bis heute auf uns lastet und dies nicht nur in einem kollektiven Sinne einer viel beschworenen deutschen Verantwortung oder Kollektivschuld, sondern auch in einem individuellen und psychologischen. Es ist ein dunkler Schatten, der kaum sicht- oder wahrnehmbar – und oft nicht einmal mehr seinem Ursprung zuordenbar – auf uns lastet. So fühlt es sich für mich zumindest gerade an.

Solche über Generationen hinweg weitergegebenen Trau­ma­erfahrungen sind mir zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern begegnet. In den Jahren 2009 bis 2013 koordinierte ich ein türkisch-armenisches Versöhnungsprojekt, das versuchte, junge Erwachsene aus bei­den Ländern über die Arbeit mit Zeitzeugen einander näher­­zubringen. Die Teilnehmer des Projekts führten unter wis­sen­schaftlicher Anleitung Interviews mit älteren Armeniern und Türken durch. In Armenien konnten wir über 100 Zeit­zeugen-Interviews, teilweise bis zu zwei Stunden lang, trans­kri­bieren, sodass ein ganzes Archiv an Geschichten entstanden ist. Es war für mich sehr faszinierend zu hören, wie detailliert sich diese Menschen an etwas erinnerten, was sie selbst nicht erlebt hatten. Ja, an etwas, was sogar ihre Eltern nicht selbst erlebt hatten. Einige der Interviewten waren sogar so jung, dass es sich bei ihren Erinnerungen schon um Überlieferungen der Urgroßeltern handelte. Kein Wunder, waren doch die Verbrechen um das Jahr 1915 begangen worden. Das, an was sie sich erinnerten, war also über bis zu vier Generationen weitergegeben worden. Auf türkischer Seite, also der Täter­seite, herrschte eine ähnliche Situation wie bei uns vor: im Prinzip nicht viel mehr als Schweigen.

Die Armenier, mit denen unsere Projektteilnehmer spra­chen, vermittelten mit ihren überlieferten Geschichten über Mord, Vergewaltigung und Vertreibung vor allem eines: ein tiefsitzendes transgenerational überliefertes Trauma. Es gibt Studien hierzu, die besagen, dass diese traumatischen Erleb­nis­se mit zunehmender Distanz zu ihrer Entstehung nicht abneh­men, sondern sich sogar verstärken können. So war auch mein Eindruck bei diesen Interviews. Gut erkennbar war, dass das, was überliefert wurde, sich mehr und mehr aus dem kulturellen Gedächtnis der Nation speiste und dass der Anteil tatsächlich überlieferter Erinnerungen der Vorfahren abnahm.

Die Sozialpädagogin Kristina Tambke spricht davon, dass traumabezogene Gefühle und deren Aufarbeitung an die nach­folgenden Generationen delegiert werden. Dies trifft sowohl auf die Armenier als auch auf meinen Untersuchungs­­gegen­stand zu. Das nicht thematisierte angerichtete und ertragene Leid, die fehlende Aufarbeitung und Auseinander­setzung mit der eigenen Vergangenheit mündeten und münden in emo­tionales Schwei­gen. Eine Stille, die die erlittenen Traumata emotional ver­schweigt. Wer in dieser Atmosphäre auf­wächst, bleibt hier­von nicht unberührt. Emotional ver­schlos­sene Eltern und Groß­eltern erziehen Kinder, die ebenfalls ver­schlos­sen sind. In der Familie entsteht ein gene­rations­übergreifender Verdrän­gungs­me­chanismus. Die Kinder nehmen Teile dieses Leids unbewusst auf und machen es zum Teil ihrer eigenen Identität, ohne die eigentlichen trauma­tischen Erlebnisse zu kennen. Es ist dann ein fremder Teil des eigenen Ichs. Da das Trauma an sich gar nicht mehr bewusst ist, ist es umso schwerer, diese Delegation zu erkennen und sie aufzuarbeiten. In der Familie herrscht ein unausgesprochenes Gebot, dass über das Trauma selbst und auch über seine generationsübergreifende Präsenz nicht ge­sprochen wird. Die Weitervererbung des Traumas plus Schwei­ge­gebot werden zu einer belastenden Krankheit für die Familie. Das Problem wird aber gar nicht erkannt, die einge­schränkte emotionale Kom­munikationsfähigkeit, da nicht er­kannt, als normal angesehen. In einer solchen Umgebung bin ich aufge­wachsen, in einer ähnlichen scheinen meine Eltern aufge­wachsen zu sein.

Ich bin immer noch dabei, mir erklären zu wollen, warum ich hier sitze, warum ich das Leben meines Großvaters erforsche, warum ich wissen will, wo er zwischen Mai 1942 und Kriegs­ende war. Denn über diese Zeit gibt es keine Hinweise. Alles scheint wie ausgelöscht, vernichtet vielleicht. Vielleicht will ich verstehen, wieso es so war, wie es war in meiner Familie. Viel­leicht will ich mir erklären, warum ich selbst so bin, wie ich bin, und nicht anders kann.

Ein kleines Leben

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