Читать книгу Sucht und Ordnung - Matthias Matussek - Страница 4
ОглавлениеENDLICH NICHTRAUCHER
Jeder hustenkeuchende Raucher, den ich kenne, hat sich ein- bis mehrmals ernsthaft geschworen „mit dem Scheiß aufzuhören!“
Woraufhin ich meistens nickte, aber ebenso melodramatisch bekannte, dass es für mich zum Nichtrauchen auch eines Anlasses bedürfe! Einen Grund – einen Beweggrund, entscheidender und wegweisender als alle flüchtigen Vorsätze zum neuen Jahr (die, wie jeder weiß, sich etwa zeitgleich mit dem Silvesterfeuerwerk in Luft auflösen).
Es müsste also etwas Bedeutendes sein! Etwas Großes! Ja – etwas Dramatisches!
Etwas in der Art wie im Film „Harry und Sally”, wo Billy Crystal zur Silvesternacht erst kurz vorm Jahreswechsel begreift, dass er in Wahrheit Meg Ryan haben will und dann – punktgenau zum Gongschlag! – vor seiner Herzensdame erscheint, ihr dort endlich, endlich, endlich zu gestehn: „Ich liebe dich!“
Diese hinreißende, weltumstürzende Kussmundschnute von Meg Ryan – das genau ist es...
...oder ein Herzinfarkt.
Ja, Sie haben richtig gelesen: ein Herzinfarkt!
Ein solcher Herzinfarkt ist jedem zigarettenqualmenden Zeitgenossen anzuempfehlen, der schon immer einmal (oder mehrmals) vorhatte, das Rauchen dranzugeben.
Mit der ganzen Qualmerei zu pausieren, das war selbst mir gelegentlich schon gelungen – und zwar während der Fastenzeit. Aber, wie wohl ein jeder weiß, der mal gefastet hat, so ist diese Zeit, diese „Glanzzeit der Reue“ (wie sie bei den Orthodoxen genannt wird) mit der Auferstehung des Herrn – also mit Ostersonntag zu Ende, und dann ist Schluss-Aus-Feierabend mit Fasten und Entbehrung, wenn alsbald wieder Völlerei und Rausch fröhlich’ Urständ feiern – und somit aller Verzicht und alles Verbot bis auf Weiteres entschwindet; also darf – in Gottes
Namen – da wieder aus allen Rohren gepafft, gequalmt und gequarzt werden!
Deshalb – ich kann’s nicht genug betonen: Herzinfarkt!
Ein Herzinfarkt ist ein heilsamer Schock! Verdammt unangenehm! Bringt einen zur Einsicht – manche bringt er auch um. (Und Rauchen erhöht die Gefahr eines solchen beträchtlich.)
Meiner kam plötzlich! Wie ein Elefantentritt aus heiterem Himmel (sollte es dort oben solche erdenwärts tretende Dickhäuter geben), und zwar im vorletzten Jahr. Im Sommerurlaub. An der schönen Flensburger Bucht. Gemütlicher Abend bei Freunden, ich ein bisschen müde, verabschiede mich in unsere Ferienwohnung, wo ich dortselbst nun auf den Wohnzimmersessel sinke, wegen... tja, wegen dieses urplötzlichen Elefantentritts – aaauuutsch!
Schmerz im Brustkorb. Atemnot. Angst. Ich rufe meine Frau an; ihr Handy klingelt – allerdings direkt neben mir, auf dem Couchtisch, na toll!
Ich rufe 110. Als die Verbindung steht, keuche ich „Ich krieg keine Luft!“
„Wo sind Sie?“
„Keine Ahnung!“
Wer merkt sich schon die Ferienadresse, aber irgendwo hat der Vermieter was aufgeschrieben. Keine zehn Minuten später – ein Lob auf das deutsche Gesundheits- und Rettungssystem ist hier angebracht! – rotieren die roten Lichter auf der Wiese im Vorgarten, ich öffne den Männern die Terrassentür, die setzen mich in den Sessel, schnell die Morphiumspritze gegen die Schmerzen – und sie hilft!
Plötzlich bin ich wieder Herr der Lage! Geradezu leutselig, ja gesprächig, frage die Herren in den Rettungsanzügen, ob sie was trinken wollen, die Kopfschmerzen sind auch weg, ich muss mir das Medikament unbedingt notieren, „Morphium“ heißt es – triumphaler Sieg unsere Pharmaindustrie über Gebrechen aller Art!
Danach ab mit Blaulicht ins Klinikum nach Flensburg, eine Stunde später ist der Herzkatheter eingeführt und der Stent gesetzt, große Entwarnung, große Erleichterung, weil relativ schnell gehandelt wurde. Ich poste erste Fotos auf facebook, was das Hamburger Abendblatt zum Anlass nimmt, es umgehend seinen Lesern zu melden, um wie gewohnt gegen mich zu hetzen.
Vom Arzt höre ich, dass es, da schnell gehandelt wurde, lediglich ein Schaden an der Herz-Rückwand sei. Also – weniger schlimm; Glück im Unglück – wenngleich ich damit vom Urlaub nun auch erst mal beurlaubt war.
Dabei hatte ich gerade mal drei Wochen zuvor von einem Kardiologen (den ich wegen meiner Bio-Herzklappe, die mir vor 20 Jahren in Rio eingepflanzt wurde, regelmäßig aufsuche, und der diesbezüglich sämtliche Tests mit und an mir vorgenommen hatte) grünes Licht bekommen – alles okay! In bester Ordnung! Keinerlei Herzrhythmusauffälligkeiten! Pumperlg’sund – Pumpe pumpt, wie sie pumpen sollte...
...und doch lag ich nun – zusammen mit zwei nicht gerade untergewichtigen Krankenzimmernachbarn, beide Doppelwhopper vor dem Herrn: einer mit Schlafapnoe, der andere Trinker – und ich habe Glück gehabt!
Es hätte mich auch (und gefühlt irgendwie wahrscheinlicher) ein paar Monate früher erwischen können – bei der Ersteigung des Westgipfels im syrischen Maalula; brütende Hitze, endloser Tag, senkrechte Felsen – und bei alledem und weit und breit: kein deutscher Rettungsdienst! Das Todesurteil!
Der Schrecken sitzt mir in den Gliedern, er durchzuckt mich bis in die Zehen und die Spitzen der Haare. Und ich beschließe: Schluss mit der Qualmerei!
Das heißt, nichts überstürzen, erst mal weniger paffen, man darf unten vor der Tür der Notaufnahme durchziehen.
Jede einzelne Zigarette ist eine Abschiedszigarette.
Jede schmeckt geil.
Aufgehört – so mein Plan – wird in der Reha, die für zehn Tage später in Bad Oeynhausen angesetzt ist.
Aber warum überhaupt aufhören?
Die Fluppe nach dem Frühstückskaffee: unbeschreiblich!
Die Kippe nach der Kinovorführung (also nach zweistündigem Entzug): Wahnsinn!
Die Bahnsteig-Zigarette in Hannover, wo sich der Zwischen-Aufenthalt immer ein bisschen länger gestaltet: so belebend!
Die Konferenzpausen-Zigarette im Hof mit Gleichgesinnten: wie dies konspirative Qualmen hier einmal mehr zusammenschmiedet!
Die Zigarette vor dem ersten Satz; die nach dem ersten befriedigenden Absatz; und klar – die kurzen Nachdenk-Zigaretten zwischendurch; mitunter liegen da im Aschenbecher gleich zwei nebeneinander und glimmen vor sich hin und unterhalten sich darüber wie es nun wohl weiter gehen soll im Artikel, im Leben, in der Welt!
Und – last not least – die berühmte Zigarette danach, die so manch einen zum Kettenraucher gemacht hat...
Also seien wir ehrlich: Es gibt einfach verdammt viele gute bis sehr gute Gründe zu rauchen! Dieser shot ins Hirn! Diese Sekundenwachheit! Und natürlich ist das Geheimnis simpel: Sucht!
Die Sucht feiert sich, wenn sie befriedigt wird. Sie tanzt. Manchmal ist sie geradezu außer sich! Jeder Zug – boah, wie hammermäßig ist das jetzt schon wieder! Ständig Geburtstag! Happy Hour! Pures Glück! Morphium!
Apropos Morphium. Am nächsten Tag in der Klinik fragte mich diese unheimlich nette junge Schwester, ob ich denn noch Kopfschmerzen hätte. Ich so: „Ja, hat so’n bisschen zugenommen, also gestern, dieses, wie heißt das noch, dieses Morphium hat sehr gut geholfen.“
Aber offenbar waren die Morphium-Vorräte zur Neige gegangen; sie meinte, diese Aspirin-Tablette würde auch helfen, die ich dann mit allergrößter Skepsis entgegengenommen habe, ich wiegte meinen Kopf, ob das nun klappt?
Ich sach ma’ so: Sucht ist schön, auf Dauer allerdings bringt sie einen um – und manchmal schneller als Rainer Calmund sein Rumpsteak verdrücken kann.
In der mir mitgegebenen Krankenhaus-Broschüre lese ich: Bereits nach einem Jahr Nikotin-Abstinenz hat sich das Risiko einer koronaren Erkrankung (so nennen wir staatlich Ungeprüften Nichtraucherexperten den Infarkt) halbiert. Und nach nur fünf Jahren Abstinenz sinkt das Schlaganfall-Risiko auf das eines Nichtrauchers...
...und während ich dies hier aufschreibe, fällt mir ein: einen Schlaganfall hatte ich ja bereits – vor etwa zehn Jahren! (Gott, was habe ich für einen Raubbau an meiner Gesundheit getrieben; was habe ich all die Jahre mit mir gehaust – wie ein wilder Eber!)
Weiter im Text: Nach fünfzehn Jahren Abstinenz ist das Risiko einer koronaren Herzkrankheit in Etwa gleich gering wie bei einem lebenslangen Nichtraucher. Tja, da wäre ich dann achtzig!
Mein Freund Hans-Magnus Enzensberger, den ich nicht nur wegen seiner Gedichte schätze, hatte einmal, als ich ihn besuchte, eine Rauchpause eingelegt – mit den Worten: „Ich will einfach mal klarstellen, wer hier Herr im Hause ist!“
Nicht umsonst sieht er mit seinen kurzen, schneeweißen Haaren und diesen stets hellwachen Augen aus wie ein römischer Patrizier, wie Seneca, der Stoiker – ein hochbetagtes Wunder an Disziplin und Selbstbeherrschung! Denn als er das damals (vor nunmehr zehn Jahren) sagte, war er um die achtzig – und noch immer bringt er Jahr für Jahr ein Buch heraus.
Allerdings muss man, so wie er, schon von außerordentlich stoischer Natur sein, um den ‚Kampf mit der Sucht’ (denn es ist ein Kampf als Raucher – ein täglicher Kampf!) wohldosiert und wohltemperiert zu führen. Er scheint es zu schaffen, mit acht bis zehn leichten Zigaretten – pro Tag. (Nicht ‚pro Stunde’, wie weiland bei mir – an guten Tagen...)
Ich nicht. Ich bin, was Süchte angeht, kein Stoiker, sondern ein wilder Eber. Aber trotzdem: da will ich hin! Neunzig Jahre mindestens – wenn nicht hundertundelf! Eben, weil ich festgestellt habe, dass dieses Leben doch auch ohne Zigarette einen großen Unterhaltungswert besitzt. Und einer davon wäre die stolze Gewissheit, dass man Herr im eigenen Hause ist.
Zurück zur Klinik: Die dortige Anti-Rauch-Aufklärung brachte mir nicht viel Neues – wenngleich die Dame, die sie leitete, recht hatte mit ihrem Mantra: Entweder ganz oder gar nicht! Mitnichten aber hat jeder von uns die Selbstdisziplin eines Seneca (der sich im Übrigen – sehr selbstbestimmt auf Neros Geheiß hin – die Pulsadern öffnete; wäre es da nicht ungleich gesünder gewesen zu rauchen?).
Nein, die Reha war prima; die Gier nach Zigaretten wurde erstaunlich leicht von meinem Stolz über sie in Schach gehalten. Und stets aufs Neue lustig waren die fast stündlichen Begegnungen mit den vor der Klinik in der Kälte dort immer noch notorischen paffenden Teilnehmern unseres Anti-Raucher-Kurses – wie sie ihre Sucht zu kontrollieren suchten; die guckten da dann immer so... inflagranti.
Im Übrigen, so sage ich mir, liegt man heutzutage als Nicht-Raucher voll im Trend! Man ist woke! Man gehört mit dazu! – Geradezu tröstlich für einen öffentlich-rechtlich Zwangsausgegrenzten wie meinereiner, der gern immer mal wieder unter „Verschissmus“-Verdacht steht!
Ja, Raucher sind Ausgegrenzte in unserer Gesellschaft! Auf Flughäfen sieht man sie in diesen Glaskästen so erbärmlich ausgestellt wie die letzten Exemplare ihrer aussterbenden Spezies. Offenbar hat ihnen da jemand Futter reingestellt – so trotzig und hilflos starren sie dort, hinter den Trennglasscheiben, hinaus in diese, ihnen mittlerweile so unbarmherzig gesinnte Nichtraucherwelt. (Manchmal denke ich ernsthaft, man sollte sie von dort befreien!)
Da fällt mir Helmut Schmidt ein. Man hätte seine Lunge mal präparieren sollen, zugunsten der Wissenschaft! Teerpappe in ihrer robustesten Form! Geeignet auch für größere Schäden an Dach und Balkon! Schmidt war auch im hohen Alter noch hellwach, unser dauerquarzender Altkanzler, und in seinen Meinungen ungebeugt und von anmutigster Rücksichtslosigkeit auf die politisch-korrekte Etikette.
Im engen Wortsinn war Helmut Schmidt ein Junkie – der Prototyp eines Junkies! Seine Rauchfreiheit ging ihm über alles; wo immer ihm die nicht zugesichert werden konnte, sagte er seine Auftritte ab. Und auf wen oder was sollte dieser Weltkanzler auch Rücksicht nehmen – außer auf seine Sucht?
Ich werde in diesem Buch nicht nur über das Schmachten und die Gier nach Zigaretten und Nikotin schreiben, sondern auch über andere potente Süchte. Und ich werde sie nicht verteufeln, diese Süchte, denn es gäbe sie nicht, wohnte ihnen nicht diese ewige Glücksverheißung inne. Es gibt (um ein altmodischeres Wort zu verwenden) Laster, derer sich selbst der Hl. Augustinus eine beträchtliche Zeit lang nicht erwehren wollte, da sie zum Erfahrungsschatz eines Lebens gehören.
Ob Sie sich nach der Lektüre dieses Buches hinreichend ermutigt und motiviert fühlen, den überraschend einfachen Schritt in die Nichtraucherfreiheit zu wagen, das vermag ich nicht zu sagen. (Prognosen sind, wie Mark Twain schon wusste, immer etwas problematisch – besonders, wenn sie die Zukunft betreffen.)
Aber ich bin guter Hoffnung, Sie werden ihn sich ernsthaft überlegen, diesen Schritt – und auf dem Weg dorthin mit meinem Buch hier besser unterhalten sein als ohne!
Gelegentlich werden Ihnen wahrscheinlich Räucherstäbchen-Wolken oder Haschisch-Schwaden aus den unschuldigeren Zeitgefilden der 60er Jahre, der Hippiejahre, entgegenwehen. Die haben mit meiner Herkunft zu tun, mit meiner „éducation sentimentale“, meiner „Geschichte eines Jungen Mannes“, wie Flauberts Roman im Untertitel hieß, also mit meiner pubertären Gefühlsbildung.
Dann machen Sie es wie ich: Lächeln Sie gütigst über diesen Verrückten, der in seinen jungen, wilden Jahren kaum etwas anderes im Kopf hatte als diese sehr amerikanische Counterculture, die ohne Drogen überhaupt nicht vorstellbar war und ist – was übrigens ebenso gilt für das babylonische Berlin der 20er Jahre, in denen der heilige Hugo Ball mit der morphiumsüchtigen Kabarett-Sängerin und tieffrommen Gelegenheitsprostituierten Emmy Hennings zusammenlebte, die vom ebenfalls morphiumsüchtigen Johannes R. Becher umworben wurde.
Also – ein bisschen Gelächter und Gegröhle ist angebracht über diesen kiffenden Loser und Hippietrottel und Säufer und Gelegenheitsjunkie, der eine Zeit lang im Marxismus wie auch in vernünftig gebauten Joints die Mittel zur Behebung des menschlichen Elends gefunden zu haben glaubte, bevor er erwachsen wurde – und erst jetzt, hochbetagt, es endlich schaffte, das Rauchen aufzugeben.
Dass ausgerechnet aus diesem ehedem idiotisch-linken Hippie-Sumpf nunmehr also ein angejahrter Reaktionär hervorgekrochen kömmt, ist das ist nicht eine hinreißende Pointe der Evolution (nicht zuletzt auch für mich selber)? Für manch einen womöglich sogar eine Enttäuschung – dann aber auf beiden Seiten des politischen Spektrums; dies sei mir das Tröstliche daran!
Aber Scheiß auf die derzeit politisch angesagten Anstandsregeln, auf das ganze Kulturgewese, auf diesen staatlich betreuten Meinungsschnickschnack! Ich schreibe nicht für Merkel-Wähler und andere Herdenmenschen; Unabhängigkeit hatte schon immer ihren Preis.
Wahre Unabhängigkeit duldet ohnehin nur eine einzige Bindung, und die ist stärker als jedwede Sucht (und das Buch dazu habe ich bereits geschrieben; es heißt „Das katholische Abenteuer“).