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SUCHT & ORDNUNG

Mein ganzes Leben lang war ich süchtig – auf die ein oder andere Art neugierig bis gierig! Gierig nach irgendetwas! Gierig nach mehr! (Denn spätestens seit Mae West wissen wir: Zuviel des Guten kann wundervoll sein! Und überhaupt: Nicht weniger ist mehr; mehr ist mehr!)

„Please Sir, I want some more“ sagt Oliver Twist, als er sich beim Essen im Waisenhaus dort ein zweites Mal anstellt, für einen Nachschlag – eine graue Pampe, die kaum sättigt – und löst damit einen Skandal aus. Köchinnen und Schwestern trauen ihren Ohren nicht! Den beleibten Honoratioren fällt der Zwicker von der Nase! Der Prinzipal schwingt den Rohrstock!

Diese Bitte nach „Mehr“ ist ein Aufstand gegen die Ordnung. Doch „Mehr“ ist noch mehr – so weiß der Koch, dass ebendiese Forderung ein paar Jahrzehnte zuvor die Französische Revolution auslöste – ja, dieses „Mehr“ hat die Welt verändert! Also verschlägt’s dem Koch die Sprache, Oliver bekommt eins mit dem Löffel auf den Kopf, der Kirchendiener Bumble erstattet den Vorständen schwer atmend Bericht, und das Folgende ist der satirische Sound jenes Dickens, der sich selber „unnachahmlich“ genannt hatte.

„Mehr?“, rief Mr. Limbkins. „Kommen Sie zu sich, Bumble. Antworten Sie mir klar und deutlich. Verstehe ich recht? Er hat mehr gefordert als die ihm von der Vorstandschaft festgesetzte Ration?“

„Jawohl, Sir.“

„Der Bursche kommt noch an den Galgen“, ächzte der Gentleman mit der weißen Weste. „Denken Sie an mich, der Bursche kommt noch an den Galgen.“

Dickens‘ Figuren wollen mehr vom Leben, als die Gesellschaft ihnen zuteil werden lässt – das ist der Motor, der sie antreibt, der Optimismus, der sie beflügelt. Die Dickens-Waisen – vom frühen Oliver Twist bis zum späten Pip in „Große Erwartungen“ –, sie sind revolutionärer als jede Gewerkschaft.

Lebenshungrige Anarchisten sind sie! Unschuldig wie Kinder! In eine Welt geworfen, die ihnen auf den ersten Blick alle Chancen verwehrt. Deshalb sind sie universell. Denn sie sagen: Ich will mehr!

Ich schrieb für den Spiegel über Dickens, zu seinem 200. Geburtstag, und ich suchte Dickens-Figuren im London von 2012, kurz nachdem dort Jugendliche in einer Revolte (der Anlass war der Schuss eines Polizisten auf einen Schwarzen) im East End Läden geplündert hatten.

Ich sprach mit der schwarzen Bianca, die ihre eigene Dickens-Geschichte lebte, ihr prügelnder Vater hatte sich aus dem Staub gemacht („Gottseidank!“), die Mutter schuftete als Putzfrau, sie versuchte, aus ihrem Leben etwas zu machen – wenngleich auch ‚irgendwas mit Medien’. Ebenso sprach ich mit Complex, dem ehemaligen Koksdealer und Grime-Music-Produzenten und mit seinen jungen

Rappern – und einer von den Kiffern auf der Matratze in diesem Council-House auf der Anhöhe über Lewisham hatte einen jüngeren Bruder, der hätte Oliver Twist sein können.

Soviel erst mal zur gegenwärtigen Drogenkultur und wie selbstverständlich sie heutzutage ins Leben eingebaut ist; machen wir uns bitte nichts vor, nicht nur die Kids; die ganze Gesellschaft säuft oder kokst oder schmeißt Pillen ein – darüber lasst uns hier mal unmißverständlich reden! (Allerdings ohne zu rauchen – Raucher mögen dies draußen tun!)

Zum Beispiel ich jetzt mal! Von Ärzten und diversen Psychologen höre ich, dass meine Veranlagung zur Sucht (wie auch zur Depression) damit zu tun haben könnte, dass ich ein 7-Monats-Kind bin, also ein sogenanntes „Frühchen“. (Nicht zu verwechseln mit ‚Früchtchen’; das rief man mir erst nach, als ich laufen konnte...)

Ich bin einfach der Suchttyp und habe mich damit abgefunden. Doch hier kommt der Clou: Am Ende des Buches werden Sie, lieber Leser, sich sagen: Wenn so ein Typ es schafft, mit dem Rauchen aufzuhören – mit dieser stärksten aller Drogen (und ich habe durchaus ein paar spannende Drogengeschichte auf Lager), dann wird es für mich ein ‚piece of cake’ sein!

Zunächst einmal: Sucht dramatisiert das Leben! Sucht hebt uns in schwindelerregende Höhen – sie lässt uns aber auch abstürzen in schwindelerregende Abgründe. Bisweilen führt sie auch zu aufregenden bis bizarren Doppelexistenzen. Als ich in meinen Anfangsjahren als Journalist soff und von meiner Fahne mit Pfefferminzbonbons abzulenken suchte – wer soff da nicht? –, sprachen mich in den Redaktionen höchstens die darauf an, die es schon hinter sich hatten.

Als ich in der Herz-Reha erfuhr, die Nikotinabhängigkeit sei noch schwerer zu bekämpfen als die Heroinabhängigkeit, konnte ich da durchaus mitreden, doch davon später.

Zunächst die Nikotinsucht, denn die ist die purste aller Süchte – das Zen der Sucht! Warum? Sie produziert nichts anderes als – Sucht. Sie schenkt keine angenehmen Gefühle wie Heroin, keine Über-Wachheit oder gar gesteigerten sexuellen Appetit wie Koks oder irgendeinen kreativen Quatsch wie Marihuana, sondern einzig und allein das Wonnegefühl, das sich einstellt, wenn der Abhängige seinen Entzug kurzfristig befriedigt.

Nun gut, Nikotin hat sich offenbar auch als erfolgreich im Kampf gegen Blattläuse bewährt, aber die halten sich selten bei mir auf dem Schreibtisch auf – geschweige denn im Berliner Szene-Restaurant Borchardt nach 24h, wenn dort gepafft werden darf.

Also wenig bis gar nichts auf der Haben-Seite.

Betrachten wir nun mal die Soll-Seite:

Das Lungenkrebs-Risiko für Raucher erhöht sich um das 15-fache im Vergleich zu Nichtrauchern. Weltweit sterben jährlich bis zu acht Millionen Menschen an den Folgen des Rauchens – in diesem Todeszigarettendunstkreis befinden sich sogar ein Millionenheer unbescholtener Passivraucher. Beispielsweise meine Mutter, sie erkrankte im Alter an Lungenkrebs und sie war die einzige in unserer vielköpfigen Familie, die nicht rauchte.

Warum also tun wir Raucher uns (und anderen) das an? Denn abgesehen von einem frühen Tod, sind es zu Lebzeiten ja oft Kreislaufprobleme, Herzrhythmusstörungen, Kurzatmigkeit, schlechter Körpergeruch, nikotingelbe Finger, ganzjährig entzündetes Zahnfleisch, Ausschlag, gelegentlich auftretende Raucherbeine und noch so dies und noch so das.

Das alles – plus sieben Euro pro Schachtel – nehmen wir billigend in Kauf, einzig um eine Sucht in uns zu erzeugen, die wir mit dem Suchtmittel befriedigen können, nämlich der Zigarette; darin liegt ihr einziger Zweck.

Ist das nicht die purste Droge, die es gibt.

Eine, deren Sinn nur in ihrer Befriedigung besteht?

Blicke ich durch die Zigarettenrauchschwaden von 50 Jahrenn zurück, kann ich folgende Rechnung aufmachen: Als ich damit begann, kostete im Automat eine Packung mit 20 Zigaretten 2 Mark, heute mehr als das fünffache, Tendenz steigend. Kalkuliert man die frühen Billigjahre und die spätere Teuerung mit ein, kommt da locker ein Porsche bei raus.

Teilen wir nun diesen Porsche durch vier Personen (denn es ist ein Panamera) und addieren ihr Alter, berücksichtigen dabei das jeweilige Geschlecht, multiplizieren wir dieses dann mit den gestiegenen Benzinpreisen, könnte ich in diesem Moment hier und jetzt für alle Ewigkeit vergessen, warum ich eigentlich geraucht haben musste...

In der Tat wird das Rauchen zur Gewohnheit, zum Automatismus, zum Inhalations-Perpetuum-Mobile; Rauchen verpflichtet – wenn du Raucher bist!

Wenn du es nicht bist, kann es passieren, dass du dich in merkwürdigen Kopfrechnereien wie im vorlertzten Absatz verlierst. Oder dass du an einem dieser hellen Herbsttage ein Apfelbäumchen erblickst, wie angewurzelt stehen bleibst und auf dies sonnendurchflutete Wunder aus grünem Blätterdickicht schaust, in dem die rotbackigen Äpfel prächtig schwer hängen wie Gaben am Weihnachtsbaum – und du hältst inne und staunst über diese verschwenderische Schönheit von Mutter Natur. In diesen Momenten fehlt dir NICHTS zu deinem Glück, du hast ganz unerwartet all diese Pracht geschenkt bekommen, diese Fülle, dieses ‚MEHR’ – und das OHNE Glimmstengelkick!

Zugegeben, es hält nicht lange vor, aber immerhin: Du meditierst regelrecht (ohne dass die Hand in die Hosentasche fahren muss, dort nach der Schachtel zu kramen – und das Feuerzeug ist mal wieder... – verdammt! – in der anderen Hose, und jetzt kannst du diese Schönheit bestimmt nicht genießen, wenn nicht sofort eine durchgezogen wird).

Tja, was haben wir uns da all die Jahre angetan! Wie haben wir unsere Weltwahrnehmung verengt, unsere Prioritätenliste umgeschrieben, nur um an die erste Stelle ein derart banales Beschaffungsproblem zu setzen! Man kann es auch Komplexitätsreduktion nennen; ist der Nachschub geregelt, lässt sich auch alles andere regeln.

Die Welt ist plötzlich sehr klein und übersichtlich geworden – auch das hat sein Gutes! Du behältst die Kontrolle in dieser Welt, solange du die Kontrolle über den Nachschub behältst.

Sucht stört unsere innere Ordnung, wie sie Aristoteles in seinen nikomachischen Tugenden niedergelegt hat, die auf Ausgleich angelegt sind und auf Temperamente, welche nicht zu heiß laufen sollten, aber auch nicht in Gleichgültigkeit zurückfallen; der goldene Mittelweg hier ist das Ideal.

Nun gibt es aber auch Typen, die lieber auf dem Gras neben der Straße laufen oder auf der Böschung – was um Himmelswillen soll aus denen werden?

Aber halt – ich wollte ja von meiner letzten Zigarette erzählen...

Sucht und Ordnung

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