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DIE LETZTE ZIGARETTE

Die letzte Zigarette rauchte ich im Stau auf der A7. Auf der Fahrt in die Gollwitzer-Klinik nach Bad Oeynhausen, bzw. im großen Warten dorthin. Eine letzte Verlangsamung, als ob das Schicksal mir noch einmal ins Gewissen reden wollte: bist du dir da sicher? Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?

Ja und nochmal ja!

Ich werde im Taxi abgeholt, die Krankenkasse übernimmt die Kosten dieser bedeutsamen Fracht, mein Taxifahrer ist ein gutgelaunter Türke, ebenfalls ein Raucher. Ich habe absichtlich nur noch den Rest einer Schachtel dabei, vier Zigaretten, die schnell weggequalmt sind während dieser angeregten Unterhaltung über das Nichtrauchen – und wie verdammt schwer das werden wird. Hasan ist von meinem Vorsatz beeindruckt, er hat es selbst ein paar Mal versucht – doch genauso oft kapituliert, wenn auch in Ehren. Bereitwillig liefert er Nachschub. Schicksalsgemeinschaft. Irgendwie hängen wir alle mit drin.

Draußen die frostige Herbstsonne und eine stehende Blechkolonne links und rechts, wie ein steckengebliebener Heerzug, dessen freigelassener Autobahn-Mittelteil die heranbrausenden Jeeps der Generalität, Rommel oder Lazarett-Autos, verheißt – mir ist nach dem Gefangenenchor aus „Nabucco“ (ich weiß, es sind die angeketteten Hebräer, die hier mehrstimmig singen; bevor mich hier jetzt wieder irgendwelche politisch überkorrekten Löschtrupps heimsuchen) – so sehr tobt in mir dieser herausgeschmetterte Freiheitswille! Ach, wie bin ich an die Sucht geschmiedet; gleich den Israeliten an die Eisen ihrer babylonischen Gefangenschaft – und mit ähnlichem Trost von Hoffnung und Gottvertrauen.

Als Internatskind, das ich mal war, schreckt mich keineswegs die Vorstellung, für drei Wochen in einen kasernierten Betrieb einzufahren, zumal dieser, die Gollwitzer-Meier-Klinik, ein moderner heller Zweckbau, an einen Park grenzt, dessen wilhelminische Gesundheits- und Bädertradition, ja die ganze schöne Großbürger-Pracht der Gründerzeit in den anmutigsten Pavillons und antikisiertesten Statuen Gestalt findet. Helles Kiefernholz, aquamaringrüne und sommerhimmelblaue Nierenformen im Foyer; aber auch Herzinfarkte, soweit weit das Auge reicht – und das Auge reicht weit in diesem nicht enden wollenden Speisesaal mit Versailles-Ausmaßen. Na ja, sagen wir dessen Kassenversion.

In der Mitte die rettende Insel mit dem Buffet – aller Sehnsüchte Anlaufstelle, die den Tag vorzüglich in drei Höhepunkte zu gliedern verhalf: Morgens von 7h-8h / Mittags von 12h30 bis 13h30 / Abends von 18h-19h.

Es handelte sich um Vierer-Tische, und so tastete man sich in Krankengeschichten und Lebensläufe und vermied Politisches. Mir gegenüber ein Sozialarbeiter aus dem Ruhrgebiet, ein paar Jahre jünger als ich, schräg gegenüber eine neunzigjährige Sportlehrerin mit der Körperspannung einer Olympionikin, die erst beim Arzt, fast en passant, von ihrem Herzinfarkt erfuhr, sowie neben mir eine Unternehmersgattin und Konzertveranstalterin, voller Tatendrang und Optimismus trotz ihrer auch schon zweiundachzig Jahre – mit dieser Szenerie, dieser Schar ebenso hochbetagter wie vitaler Tischnachbarn, hatte ich leibhaftig das vor Augen, was ich mir für mein eigenes Leben erhoffte und noch immer erhoffe: eine lange und erfüllte Zielgrade.

Lange Flure mit Zimmern auf zwei Stockwerken, von denen alle mit TV-Geräten ausgestattet waren – ein nachgerade altmodisch anmutender Luxus; ich kenne keinen, der noch fernsieht, denn Youtube oder Netflix spielen dir alles auf’s iPad, wonach dir gerade so ist – und dazu gehören eben keine Talkshows, Tatorte, Polizeirufe, Fernsehgärten oder gar TV-Festival-Filme mit Veronika Ferres.

Geraucht wird in diesen Filmen ohnehin nur vom Abschaum der Gesellschaft, dem Gossendreck, dem Säuferpack, oder auch einfach Siggi Gabriels „Pack“, dem sich die Drehbuchautoren aber immer wieder auf’s Neue mit öffentlich-rechtlicher Hingabe widmen.

Über all diese Trash-TV-Formate, Pilcher-Verfilmungen und Vorabend-Endlosserien, die ich mir seit Jahren ersparte, waren die Tischältesten bestens informiert und berichteten davon – nicht ohne Groll. So erfuhr ich tagtäglich höchst detailliert, welchen Ärger ich mir da wieder mal erspart hatte – auch ältere Jahrgänge ziehn sich beileibe nicht alles widerspruchslos rein, was ihnen als zwangsgebührenfinanzierte Programm-Pampe so aufgetischt wird.

Die Flure wurden in der Mitte zweigeteilt (durch eine medizinische Station mit Schwestern, die Blutentnahmen durchführten und morgens den Blutdruck maßen. Die Gewichtzunahmen notierte der Patient in Eigenverantwortung – in diesem Falle ich – , und ich verfolgte in diesen Wochen tatsächlich bedrückt, wie da bei mir die nach oben offene Skala erklettert wurde.

Ich ließ mich gründlich durchchecken, auf Herz und Niere und Prostata, und was nicht im Haus erledigt werden konnte (Prostata), wurde von Arztpraxen der Umgebung besorgt. Zum Beispiel dieser Urologin, der ersten in meinem Leben. In ihrem Wartezimmer stand ein altes Saba-Radiogerät, das mich an meine Jugend erinnerte – vor allem an die (mir noch immer verheißungsvoll klingenden) Sendernamen Stavanger und Hilversum 1!

Unser Saba-Radiogerät war eine damals sogenannte ‚Musiktruhe’. Sie stand im Musikzimmer und dort hörte ich Donnerstags abends um 19 Uhr die Frankfurter Schlagerbörse mit Frank Verres und nahm die Songs über Mikrophon auf, Union Gap mit „Young Girl“, Tommy Roes „Sheila“ (das Lieblingslied unseres süßen 16-jährigen au pairs), Barry Ryan „Dear Eloise“, und ich nahm sie auf meinem Philips-Bandgerät auf und niemand, aber auch niemand durfte in dieser mir so hochheiligen Stunde ins Musikzimmer.

Die Urologin war blond, nicht unattraktiv und in etwa so gefühlvoll wie ein Football-Coach. Und die Wände des Wartezimmers zierten Bilder und Schilder mit überschaubar originellen Sprüchen wie „Tritt ein, bring Urin mit rein...“ oder auch „Gott ist der Herr, der Arzt bin ich / wenn er es will, kurier ich dich.“

Und ja – selbstverständlich wächst nun der Appetit im gleichen Maße, in dem die den Hunger betäubenden Kippen schwinden. Was ebenso wegfällt, ist der Schnuller-Effekt – nun schiebt man sich was anderes in den Mund, Schokolade zum Beispiel, weniger oft rohe Karotten oder Selleriestengel, die ja auch empfohlen werden, aber wie soll man die transportieren? Und wieviele davon passen in eine Zigarettenschachtel?

Ich will nicht drumherum reden: Trotz aller ernährungsbewußtseinerweiternder Lebensmittelkunde (in der andächtig Joghurtbecher und Tütensuppen von Hand zu Hand reichten und lernten, die Kalorienwerte zu erkennen) hatte ich doch ziemlich schnell die 100-Kilo-Marke gerissen und war nur noch zehn Kilo von meinem all-time-Rekord von 110 kg entfernt – und das bei einer Körpergröße von gerade mal 185 cm. Das wären, in Hundejahren gerechnet, äääh – aber lassen wir das...

Und doch ist es erstaunlich, wie leicht das Rauchen, eine Angewohnheit, die man ein Leben lang einstudiert hat, fallen gelassen werden kann. Fast enttäuschend einfach. Du hast dieses Baby gehätschelt und großgezogen, eine ordentliche Sucht, die alleine loslaufen kann – und dann geht sie so ohne weiteres in die Knie. Und warum? Weil du es WILLST.

Die letzte Zigarette war kein bisschen dramatisch.

Sie wurde runtergepafft wie Hunderttausende vor ihr und weggeschnipst. Dann war Schluss. Ohne jedes Bedauern.

Du musst aufhören wollen – wirklich wollen! Das ist alles.

Ich meine, dein Wille zu rauchen war so unbändig stark, dass du die Wildheit hattest, in schlechteren Zeiten auf U-Bahn-Gleise zu springen, um dort Kippen aufzusammeln. Nun aber wendest du einfach diese fernöstliche Kampftechnik an, mit der du die Energie deines Gegners (die Sucht) gegen ihn selber wendest (die Sucht). Dazu gehört nichts als ein kurzer Moment. Bouuumm!

Das ist alles!

Wir haben also die Gleichung: Wille mal Sucht geteilt durch deine Alter-Hunde-Jahre ist gleich Nüchternheit – eine geradezu rauschhafte Nüchternheit. Du inhalierst anders. Du inhalierst neu! Du inhalierst... frische Luft!

Sicher, in den Wochen nach meiner Entlassung aus der Klinik gab es gelegentliche Momente, in denen ich hätte töten können für eine Zigarette – entweder jetzt oder ich krepiere!

Doch so ein Anfall geht vorüber, und dann ist es ein Segen, dass du eben keine Kippen in der Wohnung hattest! Das ist sooo wichtig, zumindest in den ersten Wochen sei deine Haus-Parole: Alle Zigarettenschachteln (!), alle Feuerzeuge (!), alle Aschenbecher(!) – weg damit!!!

Wenn der Anfall also kommt, lässt du ihn vorüberziehen – wie eine Gewitterwolke. Und erstaunt stellst du fest: Nichtrauchen bringt dich nicht um – im Gegenteil! Du lebst weiter – und das sooo viel leichter!

Denn es gibt da immer öfter dieses Glück, nicht mehr rauchen zu müssen! Was für eine Erleichterung! Wie der Moment der Entlassung aus dem Knast (darin kenne ich mich aus, doch davon später): Du packst deine Tasche fester, hältst eine Hand über die Augen, damit die Sonne dich nicht blendet, hörst die knirschend hinter dir die Tür ins Schloss fallen und spürst den Schotter unter deinen Schritten – in die Freiheit!

Und dort hinten, an den offenen roten Mustang gelehnt, steht dein Baby, enges schwarzes Etuikleid, schwarze Satin-Handschuhe bis zu den Ellbogen, kirschrote Lippen, kastanienbraune Locken, ja sie sieht noch genauso umwerfend aus wie vor, sagen wir: drei Jahren, als du eingefahren bist, und selbstverständlich hat sie treu über die Beute gewacht, die euch beiden jetzt das sorglose Leben in der Karibik beschert.

Du musst nicht mehr rauchen!

Aufatmen!

Obwohl: gerade jetzt wäre eine Kippe nicht schlecht, ganz einfach für den Illustrator, der diesen Comic gerade bebildert.

Gangster und andere schwere Jungs rauchen – das ist Ganoven-Standard! Outlaws und Underdogs qualmen auch – aber sowas von! Ja, und Desperados und Rebellen erst – ohne Glimmstengel im Mundwinkel sind all diese umstürzlerischen Herren gar nicht vorstellbar! Mit diesen und anderen unwiderstehlichen Kippen-Klischees beschäftigen wir uns im folgenden Kapitel und zwar: Mit den zehn überzeugendsten Rückfall-Gründen!

Sucht und Ordnung

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