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1. Auf der Suche nach dem Selbstgefühl: Das Instrumentarium

Der Mensch ist ein Mängelwesen. Wir sind nicht vollständig. Mängelwesen: So hat uns der Anthropologe Arnold Gehlen schon vor Jahrzehnten genannt.12 Der Mensch ist ein Mängelwesen – und das ist seine Stärke. Gemeint ist, dass wir, anders als die meisten anderen Lebewesen, ohne viele Hilfsmittel nicht überleben können und deswegen eine ungeheure Schöpfer- und Geisteskraft entwickelt haben. Wir haben kein Fell, also brauchen wir Kleidung. Wir haben keine Reißzähne, also erfinden wir Jagdwaffen. Wir haben keine Chance, ohne Mitmenschen zu überleben, also haben wir Familien, Clans und Gesellschaften, Sprache und Kultur. Wir haben, weil wir Beziehungswesen und uns unserer Sterblichkeit bewusst sind, Worte, Tätigkeiten und Institutionen entwickelt für Situationen, in denen es weder etwas zu sagen noch etwas zu tun gibt: Gesänge, Gebete, Rituale und Religionen. Sie geben uns Sicherheit im Angesicht von Zufall, Unfall, Glück und Unglück, im Angesicht des Todes.

Mit dieser komplementären, heißt auffüllenden Sichtweise lässt sich tatsächlich die Geschichte der menschlichen Kultur gut beschreiben: Wir haben zu wenig mitbekommen auf diese Welt und bauen uns durch menschliche Kreativität Ersatz, eine zweite Natur.

Im Spiegel: Unterwerfung und Vergötterung

Wie bei allen Dingen, die der Mensch erschafft und sich als Gegenüber setzt, laufen wir Gefahr, uns der uns selbst geschaffenen Struktur zu unterwerfen, ohne es zu bemerken.13 Wir setzen uns zum Beispiel Regeln, die zunächst sinnvoll sein mögen. Wenn die Zeiten sich ändern und der Sinn der Regeln abhandengekommen ist, bleiben sie meistens trotzdem bestehen, und es braucht eine gewisse Zeit, bis wir das registrieren und uns wieder davon emanzipieren, man denke an die Beharrungskraft von Alltagsvorschriften, wenn sie in heiligen Büchern stehen.

Wir bauen uns auch Werkzeuge und strukturieren, sollten wir mit ihnen Erfolg haben, unsere Tätigkeiten ihnen zuliebe um, man denke an die Umwandlung unserer direkten Umgebung in menschenfeindliche Verkehrsadern, dem Werkzeug Auto zuliebe. Wir schaffen uns ebenso geistige Hilfsmittel, die, wenn sie sich als hilfreich erweisen, unsere Wege fortan bestimmen und auf uns zurückwirken. Ludwig Feuerbach, einer der einflussreichsten Philosophen des 19. Jahrhunderts, meinte, das „Wesen des Menschen“ bestehe darin, sich das Ergebnis seines geistigen Schaffens als normatives Gegenüber zu denken – und im Extremfall sogar zu vergöttern und anzubeten.14

Früher, zu Zeiten, die uns mittlerweile vorkommen wie tiefstes Mittelalter, früher, also vor etwas mehr als zehn Jahren, früher, ja damals …, da war das Handy nur ein mobiles Fernsprechgerät. Ungeheuer praktisch, wenn man unterwegs war und jemanden anrufen wollte und keine Telefonzelle „zur Hand“ war. Heute ist unser zum Smartphone evolviertes Handy nur noch nebenbei ein Telefon. Es ist Briefkasten, Telegramm- und Funkstation, Adressbuch, Kalender, Notizbuch, Diktiergerät, Videokamera, Foto und Album, Spiegel, Wecker, Spielgerät, Zeitung, außerdem noch Taschenrechner und Taschenlampe, Navigator und Weltatlas, Lexikon, Wetterfrosch und Thermometer, Radio, Fernseher, CD-Player, Flohmarkt, Einkaufscenter, Kontaktbörse, Puff, Meinungsmacher, Zeitungsersatz, Newscenter, Stammtisch, Aufenthaltsraum, Büro, Meetingpoint, Marktplatz, Pranger, Gegenüber, Freund und Helfer – und ganz grundlegend ist das Handy unser Tor zur Welt, in der digital und analog längst verschränkt existieren, so dass man, wie man angesichts der Corona-Pandemie gesehen hat, das Analoge sogar ins Koma legen kann, ohne dass wir zusammenbrechen.

Mein weites Ich: Potenz in Reinform

Der prägende Denker der Medienwissenschaften des 20. Jahrhunderts, Marshall McLuhan, selbst Pop-Ikone seiner Zeit, bezeichnete jedes Medium als „Ich-Erweiterung“. Ganz konkret gemeint. Ich erweitere meinen Horizont. Das beginnt bei der Schrift und den daraus entstehenden Texten. Das funktioniert auch beim Radio und beim Fernsehen. Auch dort reisen wir in der Vorstellung durch Raum und Zeit. Allerdings bleiben wir dabei abhängig von dem, was gesendet wird.

Das Smartphone ist nun eine potenzierte, eine radikale Ich-Erweiterung in jede Richtung und mit völlig individuellen Möglichkeiten. Es entspricht damit der Plastizität des menschlichen Gehirns aufs Vortrefflichste. Oder, um es mal voller Pathos religiös auszudrücken, es entspricht der Welt- und Gottoffenheit des Menschen. Schon die smarte Oberfläche, der Touchscreen, ist Potenz in Reinform. Alles ist möglich! An jeder Stelle kann jedes beliebige Bild auftauchen. Und, mobile Daten vorausgesetzt, von jeder Stelle aus kann ich an jede Stelle der digitalen Welt tauchen. Eine radikale Ich-Erweiterung ist möglich!

Was ist mit den Fotos deiner Lieben auf dem Handy? Genügt es, sie auf der Card zu haben? Druckst du sie auch noch aus? Hängst du sie auf oder gestaltest ein Fotoalbum? Vergleiche dich mit vor zehn Jahren!

An wie vielen Tagen genügt es dir, kurz und knapp mit ein paar Leuten zu chatten, und an wie vielen Tagen triffst du dich wirklich mit einem realen Menschen? Vergleiche dich mit vor zehn Jahren! Vergleiche vor und nach dem Lockdown!

Fühlst du dich erst so richtig in der Arbeit angekommen, wenn du deinen Rechner hochgefahren hast und die Programme laufen? Wann machst du das Handy am Morgen an – und wann machst du es aus?

Innerhalb weniger Jahre haben wir uns auf diese Weise individuell verknüpft, verbunden und uns selbst ausgelagert – und wähnen uns dabei frei. Weil wir auf den ersten Blick so viel selbst bestimmen und wählen und googeln können, erleben wir die Zwänge und Gesetzmäßigkeiten des neuen Mediums nicht als Fremdsteuerung oder Einschränkung unserer Freiheit. Wir haben ja unseren hilfreichen Begleiter nach unserem Willen und Gusto gestaltet, haben Klingeltöne ausgewählt, den Hintergrund und den Sperrbildschirm bestimmt sowie ein persönliches Passwort erfunden. So was fühlt sich frei und machtvoll an. So was lieben wir, weiß die Handyindustrie.

Perspektivwechsel: Die Botschaft fühlen

Von Marshall McLuhan stammt auch der Slogan: „The medium is the message.“ Das Medium ist die Botschaft. Was bedeutet: Jedes Medium verändert seine Nutzer. Um herauszufinden, wie und auf welche Weise, muss man die Blickrichtung ändern und den Möglichkeiten des Mediums nachspüren. Dann erst haben wir die Botschaft begriffen.15 Darum sollte es uns gehen, wenn wir die „digitalen Endgeräte“ betrachten.

Wer gedacht hatte, mit einigen Unterrichtsstunden in Medienkompetenz bekäme man das Universum Smartphone in den Griff, wird seit einiger Zeit eines Besseren belehrt. Medienkunde ist nur ein, wenn auch wichtiger Baustein, was fehlt, ist vor allem Menschenkunde. Wir müssen unser Selbstgefühl wiedergewinnen, um zu beschreiben, was mit uns passiert, wenn wir das Handy und über das Handy die weltweite digitale Maschinerie nutzen. Das Medium ist die Botschaft, und das heißt auch: Es schafft die Bedingungen, unter denen wir als Medien-User leben, es ist, noch einmal, zum einen Ausdruck, zum anderen kraftvoller Motor eines neuen Lebensgefühls. Vieles von dem, über das in den kommenden Kapiteln nachgedacht wird, lässt sich daher nicht nur diskutieren und sachlich beschreiben. Man muss es auch erfühlen.

Erfühlen? Schwierig, wirst du vielleicht sagen. Bleiben wir doch lieber bei den harten Fakten! Aber warte. Vielleicht ist das Fühlen-Können ja genau eine der Fähigkeiten, die uns von der digitalen Sicht auf uns Menschen unterscheidet. Wir sind fühlende Denker. Oder denkende Fühlende. Als Einheit. Das ist schließlich auch die Hoffnung der Hoffnungsvollen, dass wir am Ende durch die Auseinandersetzung mit Künstlicher Intelligenz und den digitalen Welten einen neuen, geklärten Blick aufs Menschlich-Sein und In-der-Welt-Sein bekommen. Es gilt nicht nur der Kampfruf der Aufklärung sapere aude, wage zu denken! Es gilt auch sentire aude – trau dich zu fühlen!

Korrektur des Verstandes: Sentire aude

Denn von allen Seiten wird derzeit eine neue Aufklärung gefordert, durchaus im Kant’schen Sinne, von dem der Kampfruf sapere aude bekanntlich stammt. Wir sollen wieder mündig werden. Wir sollen uns aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien, aus dem Diktat der neuen Gesetzmäßigkeiten der Digitalisierung. Die Stimmen sind durch die Diskussion über die Reanimierung der Gesellschaft mit oder nach Corona gerade in den Hintergrund getreten – auf bedenkliche Weise. Denn dass uns das Digitale über manche Ausgangsbeschränkung hinweggeholfen hat, ist noch kein Argument, es weiterhin unbedarft zu umarmen.

Geistesgeschichtlich betrachtet, hat die Epoche der Aufklärung schon wenige Jahrzehnte später durch die Romantik eine notwendige Korrektur erfahren. Als die Aufklärung in der Folge Immanuel Kants alles auf den Prüfstand des rationalen Denkens stellen wollte, alles in Frage stellte, alles, was bisher geglaubt wurde, erklären und damit relativieren wollte, wurde schnell die Kehrseite des Unterfangens deutlich. Eine nur rationale Welt hat keinen Sinn mehr. Sie ist kaltes Gehäuse. Sie funktioniert nach Mechanismen. Und der Mensch in ihr funktioniert auch nach Mechanismen. Nicht, weil er Sinn macht. Auch die großen Erzählungen, wozu die Welt und wir in ihr da sein könnten, wurden ja dekonstruiert, in Einzelteile zerlegt und historisch eingeordnet. Alles lässt sich seither wegerklären, sogar der Glaube an Götter oder einen Gott. Und auch der Mensch lässt sich wegerklären. So funktioniert der Körper eben. Oder das Gehirn. So funktioniert Biologie.

Knapp zwei Jahrzehnte nach Kants berühmter Maxime sapere aude formierte sich daher Widerstand gegen die totale Skelettierung des Sinns, der Münchner Theologe Hermann Timm hat die Romantik daher „heilige Revolution“16 genannt. Sie hat eine wichtige Korrektur geschaffen, um das Leben und alles, was ist, zu beschreiben: Das Leben trägt, so würden wir es heute vielleicht ausdrücken, den Sinn in sich. Und wir haben die „heilige“ Aufgabe, uns ganz individuell diesen Sinn zu erschließen. Die Romantiker griffen zu den Mitteln der Dichtung, der Poesie, die eben genau das Erspüren und Fühlen fördern sollte. Joseph von Eichendorff in seinem berühmten Gedicht „Wünschelrute“ bringt es so auf den Punkt: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“17

Uns neu erzählen: Methode Übertreibung

Dieses Zauberwort zu treffen ist bis heute die Aufgabe, die du und ich zu lösen haben, und das, ohne dabei wieder naiv, vorrational auf die Welt zuzugehen. Das geht, wenn wir Welt und Leben nicht „wegerklären“, sondern unsere Lebenswelt und unser Leben ganzheitlich „wahrnehmen“. Denken wir also nach und fühlen uns dabei zugleich. Durchleuchten wir unseren Leib und spüren in die Veränderungen hinein. Unserem Net-Doktor wird einiges Neuartige an uns auffallen, von dem wir noch nicht so recht wissen, ob es gutartig oder bösartig oder beides ist. Wenn uns eines die Corona-Pandemie wieder in Erinnerung gerufen hat, ist es das, dass wir Sterbliche geblieben sind, ungeachtet aller Rationalität.

Eine wichtige Methode dabei ist die Übertreibung, wie es schon Günther Anders vorschlug, denn sonst würden die Phänomene „unidentifizierbar“ oder „unsichtbar“ bleiben.18 Und das ist in unserem Fall manchmal paradox: Es bedarf der Übertreibung dessen, was „zu groß“ ist, als dass wir es im Normalfall wahrnehmen. Es übersteigt unseren Horizont. Oder die Veränderungen sind zu minimal, als dass wir darüber im Normalfall nachdenken. Übertreiben, überspitzen, überpointieren wir es also, dann merken wir, was „es“ mit uns macht und was wir mit dem neuen digitalen Lebensgefühl machen wollen, können, dürfen oder lieber bleiben lassen sollten. Fangen wir an, uns neu zu erzählen.

Mit dem ganzen Leib: Phänomenologie

Du könntest diese Anmerkungen zur Anatomie des Handy-Menschen auch „Phänomenologie des Handy-Menschen“ nennen. Denn mit Edmund Husserl teile ich folgende These der philosophischen Schule, die sich Phänomenologie nennt: Der Sinn und die Bedeutung von irgendetwas liegt nicht dahinter verborgen, sondern mitten darin. Er geht uns nicht auf, indem wir das Phänomen, um das es geht, (psychologisch, biochemisch, soziologisch etc.) erklären und damit letztlich zum Verschwinden bringen, sondern indem wir es genau und immer präziser beschreiben, in Zeitlupe nachverfolgen oder bewusst vergrößern. Sodass wir das, was wir beobachtet haben, in Worte fassen, um es erst mal richtig sichtbar zu machen. Wir müssen, um „zu den Sachen selbst“ zu kommen, gerade alle Theorien, Vormeinungen, ja unser „Wissen“ ausklammern.

Mit Hermann Schmitz, dem Begründer der neuen Phänomenologie, der jahrzehntelang an einer Phänomenologie des menschlichen Leibes gearbeitet hat, teile ich den Gedanken, dass wir Menschen uns nicht in Körper und Seele auftrennen sollten, nicht in Verstand und Gefühle, um uns zu verstehen. Wir sind ein Ganzes, wir nehmen uns und die Lebenswelt als Ganzheit wahr. Wir erfahren uns und die Welt nicht rein körperlich, nicht rein seelisch, nicht rein sinnlich, nicht rein gedanklich, sondern mit dem ganzen „Leib“, wie Hermann Schmitz es nennt. Er fügt hinzu: Es sind daher auch gar nicht die Gedanken, die uns zu dem machen, was wir sind, sondern die Gefühle, die uns gleichsam von irgendwoher ergreifen und maßgeblich in unser Leben eingreifen. So kommt Schmitz auf ganz neue Schlüsselszenen dessen, was uns ausmacht und was uns bestimmt.19

Und schließlich finde ich den Gedanken des Philosophen und Soziologen Max Scheler sehr plausibel, dass sich auch das Gute intuitiv „erfühlen“ lässt. Dass sich „Werte“ erfühlen lassen. Dass wir uns zu ihnen hingezogen fühlen, mit dem ganzen Leib, unmittelbar, intuitiv, so dass es uns kalt den Rücken runterläuft oder sich uns die Haare aufstellen, wenn etwas unseren Werten zuwiderläuft. Und dass wir sehr wohl unterscheiden können: zwischen persönlichen Vorlieben und „höheren Werten“, die dauerhaft sind, Einheit stiften, eine überindividuelle tiefe Befriedigung bringen oder die sogar so absolut erfahrbar werden wie die Würde. Und dass es gerade deshalb darauf ankommt, das Fühlen zu trainieren und mögliche Abgestumpftheit zu überwinden, um zu merken, was guttut und was gut ist.20

Illtümer: Was wir glauben, muss nicht stimmen

Es gibt bei unserem Zusammenleben mit dem Smartphone nicht nur Abstumpfungen, sondern auch grundlegende Verunsicherungen. Für Erstere habe ich bei dem österreichischen Sprachakrobaten Ernst Jandl das treffende Wort ILLTUM gefunden. Illtum ist eines der schönsten Worte, die es gibt bzw. nicht gibt. Es stammt aus Jandls Gedicht „lichtung // manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht / velwechsern. / werch ein illtum!“21

Illtum ist für mich eine folgenreiche Mischung von Irrtum und Illness. Ein krankmachender Irrtum, mehr zu fühlen als zu definieren. Gut gemeint, aber damit das Gegenteil von gut – doch, und das ist das Entscheidende, wir bemerken es nicht. Einfaches Beispiel: Das Internet, der digitale Weltinnenraum, ist u. a. geboren aus dem Aufbruchsgeist der Hippies, verknüpft mit dem Fortschrittsgedanken, die Welt zu einer besseren, gleicheren, global zugänglicheren zu machen. Endlich sollte jede mit jedem hierarchiefrei, vom Du zum Du zum Ihr, zu allen mit jedem kommunizieren können, über alle Grenzen hinweg! Ziel war der freie, gleiche, geschwisterliche Zugang zum Weltwissen und zu uns selbst! Und das unabhängig von Verdienst, Bildung und sozialem Status! Ein befreiender Gedanke, wahrhaft revolutionär! Mittlerweile halten viele, sogar die Pioniere des Internets selbst, all das für einen Riesenirrtum. Einer der Gründer, Tim Berners-Lee, arbeitet 30 Jahre nach Einführung des WWW sogar an einer Alternative mit dem Namen Solid, kurz für Social Linked Data.22 Demokratien werden gegenwärtig nicht gestärkt, sondern bedrängt, die Netzmacht ist in den Händen weniger, demokratisch nicht legitimierter Mega-Konzerne, und wir werden nicht als Weltbürger, sondern meist nur als potentielle Kunden angesprochen. Doch wir nehmen dies in der Praxis allenfalls zur Kenntnis, ignorieren es aber in der Regel oder merken es gleich gar nicht. Wir sind bei der Grunderzählung geblieben, das Internet sei erlösender Fortschritt pur. Das ist eine Verwechslung. Ein Illtum.

Zersplintert: Wo sind wir, wenn wir ins Smartphone schauen?

Noch eine zweite Verunsicherung macht uns zu schaffen, und wir werden ihr immer wieder begegnen. Auch dafür habe ich ein Wort gefunden, das es nicht gibt, das wir aber gut brauchen können. Wir verdanken es Klaus Fritz, dem deutschen Übersetzer von Harry Potter. Er übersetzt das englische to be splinched mit zersplintert sein oder zersplintert werden. Es bezeichnet missglückte Teleportationen, wenn also Bein, Hand oder Fuß sich an einem Ort, der Rest des Menschen an einem anderen Ort befinden. Ich beschreibe damit die Verwechslung von Ort und Anwesenheit. Wo sind wir, wenn wir in der U-Bahn sind und zugleich in den digitalen Welten hinter dem Touchscreen? Wo ist deine Partnerin, wo ist dein Partner, wenn sie oder er jemand anderem schreibt, während du ein Gespräch führen willst? Diese grundsätzliche Frage wird uns immer wieder beschäftigen.

TINA: Alternativlos ausgeliefert?

Die dritte Verwechslung, die uns durch diese anatomischen Betrachtungen begleiten wird, ist ein eigenartiger Defätismus. Ein Sich-Ergeben. Eine Art Lähmung. Seit längerem wird diese Denkstruktur als TINA bezeichnet. TINA ist die berühmt gewordene Abkürzung für There Is No Alternative. Ein Satz, der im Politischen von Margaret Thatcher geprägt wurde und sich in den vergangenen Jahren auch gesamtgesellschaftlich zu einer beliebten Argumentationsstrategie entwickelt hat, 2010 wurde „alternativlos“ zum Unwort des Jahres gewählt. Der US-amerikanische Philosoph Francis Fukuyama hat dieser Lebenseinstellung ein philosophisches Denkmal gesetzt, indem er das „Ende der Geschichte“ ausrief und im Wesentlichen keine Alternativen zum Kapitalismus mehr erwartete. Susan George oder Carl Amery haben dem entgegengehalten: Es gibt tausende Alternativen.23 Dieses TINA-Syndrom durchzieht auch unser persönliches Empfinden, wenn es um die digitale Welt geht. Die stellt sich uns ja – unter anderem in ihrer Undurchschaubarkeit – auf den ersten Blick als alternativlos da. Klassisches Beispiel: Das Internet ist kostenfrei, dafür werden unsere Daten abgesaugt und verkauft – es zeigt sich uns keine Alternative und so schlucken wir es. Wir können es nicht ändern. Oder: Wir stimmen allen AGBs aller Apps zu, in der Regel, ohne sie zu lesen. Wir können sie nicht ändern, wollen aber unbedingt mitspielen. Wer bei Google gefunden werden will, muss sich den Google-Regeln unterwerfen – sonst kommt man nicht vor. Solches TINA-Denken hat auch so manche Denker der Digitalisierung und Propheten der Künstlichen Intelligenz so sehr im Griff, dass es genügend gibt, die behaupten, der point of no return sei schon längst überschritten, und die Schreckvisionen der sich selbstständig machenden Megaintelligenzen und der Weg der Weltherrschaft von KIs seien nicht mehr abzuwenden. Doch: Alles könnte anders sein, schreibt der Zukunftsforscher Harald Welzer.24 Das Gegenmittel gegen das TINA-Denken kann nur Infragestellung der Selbstverständlichkeiten sein, nach dem Motto: Alles kann, nichts muss.

Damit ist das Instrumentarium umrissen. Jetzt geht’s ans Eingemachte. Wir können mit dem Scan des Handy-Menschen beginnen.

Anatomie des Handy-Menschen

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