Читать книгу Gonzo - Matthias Röhr - Страница 7
ОглавлениеEin Schwein und
ein Mann ohne Geschichte
sind das Gleiche
(Irisches Sprichwort)
Die Sonne sank langsam über die grünbewachsenen Hügel Irlands. Es war ein Anblick, den ich, der noch nie zuvor in Dublin war, das erste Mal zu sehen bekam und der mich nachhaltig beeindruckte. Man kam sich vor wie in einer dieser modernen Fantasy-Serien. George R. R. Martin oder Tolkien, wenn es beliebt. Wanderte man auf einen Hügel (davon gab es dort zahlreiche) und die Sonne stand günstig, hatte man das Gefühl, man könne über das ganze Meer sehen. Unendliche Weite. Regnete es und hingen die Wolken wieder einmal grau, voller Wasser und so tief, dass man förmlich nur die Hand ausstrecken brauchte, um sie zu berühren, gaben sie der Szenerie einen beinahe phantastischen Anstrich. Mich wunderte es nicht, dass man Kindern dort gern von Feen und Kobolden, von wilden Kreaturen und allerlei Sonderbarem erzählte.
Dieses Land atmet. Es sind Geschichten von alten Frauen und alten Männern. Geschichten vom Saufen und Jagen. Vom Fressen und Gefressen werden. Weitererzählt – immer wieder – von Generation zu Generation. Pure Magie. Kein Harry-Potter-Hokuspokus. Keine Aleister-Crowley-Schwarzzauberei, sondern der Zauber der Wälder, der Hügel und der Wiesen und Weiden, auf denen Tiere und Menschen leben.
Man konnte einen ganzen Abend und eine halbe Nacht lang Bücher über die Mysterien und Geheimnisse Irlands wälzen, und wenn der neue Tag anbrach, hatte man das Gefühl, nur einen klitzekleinen Bruchteil der Wunder und Sagen dieses Landes entdeckt zu haben.
Man erzählt über Irlands Natur, dass sie Kranke heilen und Gesunde inspirieren könne. Sie versöhne einen Städter wieder mit seinen Wurzeln, erde die Menschen, die dort lebten, und hole einen erfolgsverwöhnten, ehrgeizigen Musiker auf den Boden der Tatsachen zurück.
Wie viele hippe Menschen schreiben noch im Jahr 2019 über die großen Themen der noch hipperen Gesellschaften, in denen sie sich verlustieren. In Berlin, Düsseldorf, Köln, München und anderen Metropolen hocken sie über ihren MacBooks und geben Tipps zur besseren Lebensgestaltung in Blogs und Netzwerken.
Entschleunigung. Zeitmanagement.
Wer sich in Dublin länger aufhält als einen Augenblick lang, der entschleunigt von allein. Der braucht keinerlei Experten, die einem dazu raten. Die einem zeigen, wie man sich ausruht.
Zeitmanagement spielte hier überhaupt keine Rolle, weil die Zeit vermutlich auf keinem Flecken der Erde weniger Bedeutung besaß als in Irland. Hier lebte jeder nach seiner eigenen Uhr. Kühe und Schafe weideten auf schier unendlich großen Wiesen, und irgendwo, ganz weit weg, hörte man Autos fahren. Allerdings nur dann, wenn man sich auf sie konzentrierte.
Mir schoss beim Anblick unseres Hotels, das den ganz wunderbaren Charme eines mittelalterlichen Schlosses besaß, unmittelbar durch den Kopf, dass wir uns an einem Ort befanden, an dem man sowohl das Leben in jungen Jahren genießen als auch sich ganz hervorragend im Alter zur Ruhe setzen konnte. Ich kannte ähnlich prächtige Bilder nur von meinem privaten Schottland-Urlaub, der aber zu diesem Zeitpunkt schon ganze einundzwanzig Jahre zurücklag. Hier war das Leben so leicht und schwerelos wie eine Feder im Wind.
Dublin bot im Spätsommer gemäßigtere Temperaturen als zu anderen Jahreszeiten. Die Schwere des industriellen, die Leichtigkeit des urbanen und die Zeitlosigkeit des maritimen Charakters der Stadt goutieren Touristen besonders gern im September und Oktober. Dann neigt sich die Hochsaison gerade ihrem Ende entgegen, die Pubs leeren sich, und die Chance, einen Mietwagen zu bekommen, ist weitaus größer als im Sommer.
Zu viert saßen wir auf einer großen, steinernen Terrasse bei Familie Röhr. Matthias und seine langjährige Frau Verena, liebevoll Vreni genannt, hatten eingeladen, und gemeinsam redeten wir über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Es duftete ganz vorzüglich nach gutem Essen. Der Geschmack eines süffigen Weins lag mir noch auf der Zunge. Es war der Abend unseres ersten Tages, und ich überlegte, wie das, was wir in den vielen zurückliegenden Stunden besprochen hatten, adäquat zu Papier gebracht werden könnte. Jedes der zahlreichen Gespräche zu diesem Buch galt es, gewissenhaft aufzuzeichnen. Die essentiellsten der unzähligen Informationen, Anekdoten und kleinen, aber feinen Erinnerungen wurden verarbeitet und ergeben das große Ganze.
Ich erinnere mich noch sehr gut an eines der ersten Gespräche, die wir mit Matthias führten. Natürlich ging es irgendwann auch um den Hintergrund seines Spitznamens, der ihn schon seine komplette Karriere über begleitet. Der an ihm hängt und immer mit ihm verbunden sein wird. Ob er will oder nicht.
Kein Matthias und auch kein Röhr ohne „Gonzo“. Nach ein paar Gläsern Rotwein und dem üppigen Essen Vrenis lockerte sich die Stimmung. Es brauchte immer ein paar Anläufe, um in einen Redefluss zu kommen, der ermöglichte, frei und ungezwungen zu erzählen. Und meistens funktionierte das besser, wenn man sich dabei sah. Wenn man Auge in Auge beieinandersaß. Der eine redete, die anderen hörten zu.
Es war schon spät. Müdigkeit hatte sich breitgemacht. Marco und ich waren, nach einer langen Wanderung, dem Besuch einer ganz außergewöhnlichen Kirche inmitten Dublins und vielen Anekdoten – eine besser als die andere –, müde. Dass Rotwein und herzhafte Speisen noch zur leichten Dösigkeit beitrugen, konnte ebenfalls nicht geleugnet werden. Es war dennoch nicht die Zeit, um schlafen zu gehen. Nicht nach Matthiasʼ Ansicht.
„Hier geht niemand ins Bett. Ich habe euch doch noch gar nicht erzählt, wie ich an meinen Spitznamen gekommen bin“, sagte er und lachte dabei. Es war die Sorte von Versprechen, bei dem man wusste, dass es da jemandem sehr wichtig war, was er mitteilen wollte. Ein schelmisches – „Ihr habt das Beste doch noch gar nicht gehört!“ – Grinsen. Man erwartete von seinem Gegenüber, dass es die Ohren spitzte. Na gut, dachte ich mir, erschöpft und eher wenig gespannt, erzähl uns die Geschichte, die eigentlich jeder schon kennt. Die man schon Hunderte Male gelesen hat. Nur zu. Leg los. Matthias musste mein Gesichtsausdruck aufgefallen sein, denn noch bevor sich mein Mund öffnen konnte, sagte er: „Es ist eben nicht so gewesen, wie ihr vielleicht bislang immer geglaubt habt. In Wirklichkeit, und ihr seid tatsächlich die Ersten, die das erfahren werden, war es ganz anders.“
Damit triggerte er mein Interesse. Mit „die Ersten, die es erfahren werden“ und „in Wirklichkeit war es ganz anders“ hatte er mich beim Schopfe gepackt. Jetzt war von Müdigkeit keine Spur mehr. Marco erging es ähnlich, das sah ich ihm sofort an.
Wir wollten mehr wissen!
1976 wurde ein Schlüsseljahr für Matthias Röhr. Mao Zedong starb im September, und mit ihm verreckte eine lang andauernde chinesische Kommunisten-Diktatur, die zwar keinen Fortschritt, dafür aber den Tod Hunderttausender Menschen brachte.
Im Westen hingegen nichts Neues. Helmut Schmidt blieb, mit einem Siegeslächeln auf und einer Kippe zwischen den Lippen, Bundeskanzler der Bundesrepublik.
Jimmy Carter wurde zum Ende des Jahres zum neuen US-Präsidenten gewählt, und nur Monate vorher, im Sommer 1976, suchte man in Jugoslawien den Fußball-Europameister. Der Traum der Titelverteidigung, er war für die Elf von Helmut Schön zum Greifen nah. Man kämpfte sich bis ins Finale und dort bis ins Elfmeterschießen vor, das man – unter anderem aufgrund eines Unglücksschusses von Uli Hoeneß – schlussendlich 5:3 gegen die Tschechoslowakei verlor. Randnotizen. Mehr nicht.
Das alles spielte seinerzeit in der hessischen Provinz kaum eine Rolle. Matthias fieberte natürlich mit der deutschen Mannschaft mit, das Interesse an Politik generell und China im Besonderen hätte allerdings kaum geringer sein können.
Entsprechend des Alters, er war jetzt vierzehn (die mächtigen Jahre hatten begonnen), fingen auch die schulischen Leistungen an, abzusacken. Oder besser noch: Sie befanden sich im freien Fall. Physik, Chemie (das von einem Ausbilder der Höchst AG unterrichtet wurde, der ihm dabei half, dieses Fach fast noch schlimmer zu finden als jedes andere) und Mathematik waren ihm ein absoluter Graus.
Wofür werde ich den ganzen Scheiß jemals brauchen, fragte er sich unentwegt, währenddessen sein Kopf, bleischwer und unter Schmerzen, über kryptischen Formeln und bizarren geometrischen Figuren brütete, die sich ihm partout nicht erschließen wollten.
Niemals und für gar nichts werde ich diesen Quatsch brauchen, war die einzig richtige Antwort. Das wusste Matthias sicher. Und ebenfalls, dass er unbedingt – besser heute noch als morgen – Kontakt zu Gleichgesinnten aufnehmen musste, deren Interessen sich mit seinen deckten: Gitarren, Amps, lauter Rock.
Matthias wollte spielen. Musik machen. Ein bisschen die Luft der großen weiten Welt schnuppern. Aber zum Teufel, er gab einen Scheiß auf binomische Formeln. Der Satz des Pythagoras durfte ihn am Arsch lecken. Gravitation kannte er von alten Frauen, deren Brüste so tief hingen, dass sie den Erdboden berührten. Und das Periodensystem? Konnte das bluten?
Der Realschulzweig, für den sich seine Eltern entschieden hatten, erwies sich spätestens ab der neunten Klasse als fieses, autoritäres Monster mit scharfen Zähnen, das immer dann zubeißen wollte, wenn jugendliche Unbeschwertheit, Rebellion und Liebe zur Musik die Oberhand gewannen.
Dann wurde seitens des Lehrpersonals gedroht, getadelt und gemaßregelt. Einschüchterungsversuche erwachsener Personen, deren Auffassung von Pädagogik eine ganz andere war als heute. Anstrengend und enervierend. Leistung wurde verlangt und abgerufen. Man bekam keine einzige gute Note geschenkt. Lernen und Erfolg waren Kopf- und Konzentrationssache, außerdem musste man sich zusätzlich gut (durch-)quälen können.
Ferner gab es keine Ausreden für Faulheit.
Doch trotz aller schulischen Probleme und Matthiasʼ zweitgrößtem Talent, dem Hinterfragen und Provozieren von Autoritäten, gab es auch coole Pauker. Schon damals.
Herr Ullrich, Matthiasʼ Musiklehrer, war von diesem ganz neuen, progressiven Schlag. Er weckte Interesse, er erkannte und förderte bestehendes Talent. Ein Mann, so ganz anders als das damalige Kollegium.
Jung, aufgeschlossen, fast einer von ihnen. Er sprach die Sprache der Schüler. Mit viel Verständnis und Geduld. Elvis Presley, die Beatles und selbst die, zur damaligen Zeit, höchst anrüchigen Rolling Stones wurden durchexerziert. Im Unterricht sezierte Ullrich alles. Die Songs, die Texte, ja selbst die Bandmitglieder.
Unter der Lupe ergab alles nur noch mehr Sinn. RockʼnʼRoll hieß ab sofort der Heilsbringer – und zu jenem, das war die nächste große Erleuchtung im Leben des noch ganz jungen Matthias Röhr aus Liederbach am Taunus, würde er sich in Windeseile hinbewegen. Und wenn das nicht passieren sollte, aus welch bescheuerten Gründen auch immer, dann hatte der RockʼnʼRoll gefälligst zu ihm zu kommen.
Amen.
Außerdem: Der gerade flügge werdende junge Matthias Röhr hörte zu jener Zeit immer öfter auch das American Forces Network (AFN). Die Amerikaner hatten den deutschen Kids ein gutes und großes Stück ihrer Kultur auch als Radiosender mitgebracht.
Die vielen in und um Frankfurt stationierten GIs mit ihren fetten Fliegerjacken, ihren Kurzhaarfrisuren, den coolen US Cars und ihrem Way of life übten eine große Faszination auf die Jugend aus. Und die Musik der „Amis“ erst recht.
„Hey Dude. Whatʼs up?“, fragten die großen, breitschultrigen Guys freundlich die Kids, sobald sie welche sahen. Und sie sprachen viel schneller, als dass man sie hätte verstehen können. Im Laufe der Jahre mischte sich zum amerikanischen Englisch noch ein weicher hessischer Akzent. Das klang nicht nur cool, das war es auch.
Hier, auf AFN, gab es neben Ted Nugent, Aerosmith und Boston alle angesagten Bands zu hören. Geile Übersee-Mucker, die damals auf dem Weg nach ganz oben waren, oder solche, die den Gipfel bereits erklommen hatten. Als Matthias checkte, dass sich das Radioprogramm von Tag zu Tag nur noch verbesserte, statt an Qualität zu verlieren, gehörte das AFN zum tagtäglichen Pflichtprogramm – oft bis spät nachts. Sogar sonntagmorgens, denn dann gab noch diese unfassbar guten Gospelgottesdienste, die live – irgendwo aus dem Delta kommend –, auf diesem feinen Sender übertragen wurden.
Hier taten sich plötzlich noch einmal ganz neue Welten auf. Es war, als putze jemand ein großes, aber sehr dreckiges Fenster. Plötzlich wurde der Blick auf immer mehr Musik in der großen weiten Welt klar. Und sie erfüllte jeden Raum, in dem sich Matthias gerade aufhielt.
Wolfman Jack war extrem beliebt. Dieser eigenartig aussehende, immer gut gelaunte Discjockey, dessen Sendungen vom American Forces Network übernommen und gesendet wurden, hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, zwischen seinen Songs Wolfsgeheul einzubauen.
Und er spielte sie. Alle. Die fetten, neuen Sounds. So andersartig, aber wunderschön. Es gab keine Genre-Grenzen. Blues, der direkt aus der berühmten Beal Streat in Memphis, Tennessee, kam und vom „King of Blues“, von B.B. King, gespielt wurde. Musik, die tief unter die Haut ging. Außerdem schürender Chicago Blues von Muddy Waters, Willie Dixon und Buddy Guy. John Lee Hooker. Auch den Blues Rock von Johnny Winter, diesem legendären Gitarristen aus Texas, der, neben dem irischen Gitarristen Rory Gallagher, noch in den wilden Siebzigern zu Matthiasʼ größtem Idol an der Gitarre avancierte. Die Musikszene der amerikanischen Südstaaten kannte er bald aus dem Effeff.
Aber ebenso die größten Hits von Neil Young, Crosby, Stills, Nash and Young, den Byrds, Jimi Hendrix und vom geilen Rockabilly der Marke Link Wray. Grandioses, süchtig machendes Zeug wurde auf diesem Radiosender gespielt. Keine deutsche Provinzscheiße. Echte Weltmusik.
Schloss man die Augen, während im Hintergrund die heisere Stimme von Johnny Cash zu hören war, konnte man sicher sein, dass es keinen besseren Ort auf der Welt gab als jenen, auf dem diese Musik produziert wurde.
Das Live-Album One More From The Road der epischen Lynyrd Skynyrd rotierte während dieser unbeschwerten Jahre Hunderte Male auf dem Plattenteller Röhrs. Viele große Interpreten lernte Matthias – ausschließlich aufgrund dieses Senders – bereits zu so früher Zeit kennen.
Sie zogen ihn in ihren Bann. Die Jeff Beck Group, Jimmie und Stevie Vaughan und – natürlich – Mister Eric Clapton, der noch heute von ihm verehrt wird. Durch seine Liebe zum Rockabilly eignete er sich schon in den ganz jungen Jahren seines Gitarrespielens Licks an, deren Grundessenz man noch viele Jahre später in einigen Onkelz-Songs („Gehasst, verdammt, vergöttert“, „Finde die Wahrheit“, „Terpentin“ und anderen) wiederentdecken konnte.
Herr Ullrich vermochte die Musikbesessenheit seines jungen Schülers förmlich in dessen Augen zu sehen. Da bemerkte er immer stärker dieses Lodern, das er selbst sehr gut kannte. Weil er es einst selbst besaß. Ein Funkeln, das nur Menschen hatten, deren wahre Bestimmung die Kunst und nichts anderes ist. Das Flackern der Entschlossenheit derjenigen, die wollten, aber noch nicht konnten, weil sie noch an der Leine der Gesellschaft hingen. Irgendwo auf offener See, während der ach so wichtigen Lebensmissionen.
Geh deinen Weg, Sohn. Pass ja gut in der Schule auf, finde eine Ausbildung, eine Arbeit, und gründe eine Familie. Baue ein Haus.
Meistens kenterte genau dort das Schiff. Orientierungslos schwammen schon damals unzählige Teens und Twens um ihr Leben, auf der Suche nach einem Strohhalm. Nach einem kleinen Funken Hoffnung.
Ullrich nutzte die Gunst der Stunde, auch weil er wusste, dass ungenutztes Talent, das zu lange brachliegt, irgendwann zu faulen beginnt, und schubste Matthias in die Schulband der Realschule Kelkheim.
Fortan wurden Mini-Konzerte in der Aula oder der Kirche gegeben. Es fanden sogar kleinere Band-Casting-Wettbewerbe in den Vorräumen der Schule oder in Pfarrhäusern statt.
Und während einer dieser Auditions tauchte René auf. Ein Klassenkamerad von Matthias, der seiner Zeit eine ganze Armlänge voraus war. Oberlippenbart mit fünfzehn und einer der ersten Halbstarken mit einer echten Bomberjacke, frisch aus London importiert, von wo aus gerade die Subkultur der Punks ihre Finger nach der Jugend ausstreckte.
René war im Allgemeinen ein etwas zu alt aussehender Typ, dessen Aura Ernsthaftigkeit und Wahnsinn ausstrahlte. Er besaß zwar Gitarre und Verstärker, jedoch scheinbar kein großes Interesse, Teil der Schulband zu werden. Dennoch folgte er dem Lockruf des Castings. Und dort, in der großen, halligen Aula der Eichendorffschule angekommen, stellte er seinen Amp auf, schloss seine Gitarre an, und brachte – wortwörtlich aus dem Stand – viele der Anwesenden zum Staunen und Grübeln. Der Junge war ein Naturtalent.
Das damals noch gar nicht geläufige „Downbending“ der Gitarre, also die abrupte Höhenänderung des Tons mit Hilfe eines Vibratos während eines laufenden Songs, das auch, viel später, gern von Eddie Van Halen als Stilmittel eingesetzt wurde, gelang René – diesem verrückten Hund – völlig mühelos. Und das ganz ohne Vibrato, sondern ausschließlich durch die Verwendung der Stimmmechaniken an der Kopfplatte der Gitarre.
Und so setzte dieser Teufelskerl zum Solo an, wechselte auf die E-Saite, kurzer Kniff an der Mechanik, und schon klang der Ton aus heiterem Himmel völlig anders. Und wieder ein kurzer Dreher, schon ging es rauf mit dem Laut. Und dann tiefer. Und wieder höher. Technisch einwandfrei, ohne Störgeräusche oder Irritationen. Während Matthias dasaß und perplex war, gaben sich die „wahren“ Musik-Virtuosen aus dem Lehrerkollegium und der streberhaft-besserwissenden Mitschülerschaft ob der „Schändung der musikalischen Ästhetik“, die René dort „frivol zum Besten gab“, entsetzt.
Ne Kleiner, komm jetzt. Das war ja ganz nett, aber geh besser wieder heim.
So schickte man dieses Genie wieder nach Hause, hat ihn eiskalt abblitzen lassen. Mindestens ein Jahrzehnt war dieser Typ mit dem Oberlippenbart und der viel zu großen Bomberjacke den großen Gitarristen voraus. Modisch war er eh längst in den Achtzigerjahren angekommen, obwohl diese Dekade noch gar nicht begonnen hatte.
Der Moment, viele Jahre später, in dem das damals anwesende Kollegium und die Mitschüler angesichts der aufstrebenden Glam-Rock-Bands gemerkt haben dürften, was für ein Talent sie dort, an jenem Nachmittag, in der Schulaula mit Nichtbeachtung gestraft hatten, muss umwerfend komisch gewesen sein …
Das alles war für Matthias Motivation genug, noch tiefer einzusteigen. Eine eigene Band zu gründen. Und auch endlich den Plan, die über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Musikszene in Kelkheim abzuchecken, in die Tat umzusetzen. Raus aus der Taunus-Liederbach-Reihenhaus-Idylle, rein in die „echte Welt“, die in seiner Vorstellung von Menschen bevölkert wurde, die so drauf waren wie er selbst. Deren Lust und Treiben in der Musik einen großen, gemeinsamen Nenner fand.
Und die zum heiligen Geist des RockʼnʼRoll beteten. Vor seinem Altar der Riffs, Licks, Soli und tretenden Bässe niederknieten und seine Bibel, die Songtexte, verinnerlichten. In allen Facetten. Das war keine langweilige Fachsimpelei über Akkorde oder Noten, die eh kaum jemand lesen konnte, sondern echtes Herzblut und Engagement. Autodidaktischer Erwerb verschiedenster Spielarten. Tonleiter rauf und Tonleiter runter.
Doch die ersten Begegnungen verliefen anders, als Matthias gedacht hatte. Hier, im Herzen einer jungen, dynamischen Künstlerszene, interessierte man sich nicht sehr für den jungen Röhr. Die älteren und erfahreneren Musiker, Aficionados allesamt, orientierten sich an Bands und Musikern wie Black Sabbath, Deep Purple, ELP, Focus, Johnny Winter, UFO, Fleetwood Mac, Bob Dylan, David Bowie oder Led Zeppelin. Die Stones gingen schon auch klar – von allen geliebt wurden sie deshalb noch lange nicht.
Jagger und Richards spalteten die Gemeinde und wurden kontrovers diskutiert. Manche mochten sie aufgrund ihres Erfolges und des damit verbundenen Arschtritts in das Hinterteil der englischen Upper-Class, andere wiederum lehnten sie genau deshalb ab. An Glaubwürdigkeit mangelte es ihnen aber keineswegs.
Generell konnte man der Kelkheimer Szene eine große Offenheit bescheinigen. Es gab keinerlei Einschränkungen. Jeder hörte das, was er hören wollte.
Und jeder gab Plattentipps. Auf modernen Schallplattenspielern wurde das neue Zeug aufgelegt. Es wurde analysiert und verglichen. Was spielte der Gitarrist von Chicago? Was spielte Tony Iommi von Black Sabbath. Und, wichtiger, wie spielten die?
Nach der kurzen, aber durchaus intensiven Phase des gemeinsamen Abtastens mit den neuen Bekanntschaften in Kelkheim fing Matthias schnell an, Konzerte zu besuchen. Die Pubertät brachte natürlichen Freigeist mit, der durch die steten Erzählungen von Musiklehrer Ullrich, seiner Klassenkameraden und der älteren Teenager in Kelkheim nur noch genährt wurde.
Die Haare wuchsen. Sie wurden immer länger, und Matthias weigerte sich vehement, einer Friseurschere zu nahe zu kommen. Schon nach wenigen Wochen trug er eine schulterlange Matte. Weniger zur Freude der Eltern, die nicht nur seine haarige Entwicklung jeden Tag mitbekamen, sondern auch den Leistungsabfall in der Realschule höchst sorgenvoll zur Kenntnis nahmen.
Die Hoffnung, dass sich Matthias irgendwann für ein geregeltes Leben entscheiden und diese ganze Taugenichts-Ästhetik hinter sich lassen würde, wurde immer geringer.
Und was war, wenn ihr Sohn auch noch anfangen sollte, Drogen zu nehmen? Haschisch und Marihuana gehörten zum guten Ton und zur Grundausstattung vieler neuer Freunde von Matthias, der es – nach einigem Probieren – jedoch vorzog, beim Alkohol zu bleiben. Weed, Dope, Spliffs und Bongs interessierten ihn nicht.
Dennoch, ein undurchdringlicher Hanfnebel, der schon meterweit vom Ort des Kiffens entfernt gerochen werden konnte, hing fortan über allem und fast jedem. In den Pfarrhäusern roch es wie auf einer Grasplantage. Hier probten die ersten Studentenbands, deren Mitglieder wiederum der ersten Hippie-Bewegung in Deutschland zugerechnet werden konnten. Die Proberäume in den Gotteshäusern waren schnell Umschlagplätze für bestes Dope. Und Walt- und Schaltzentrale der Kreativität. Was sich nach einem furchtbaren Siebziger-Klischee anhörte, war allerdings ziemlich exakt das, was sich dort abspielte.
Im Sommer 1976 lernte Matthias Röhr, quasi im „Vorbeigehen“, den ebenfalls musikbegeisterten Norbert Nebenführ kennen. Matthias war gerade dabei, den Hund der Familie Gassi zu führen, als er Nebenführ auf einer Parkbank in Liederbach sitzen sah. Das Treffen war von Thomas G. arrangiert worden, der – zusammen mit Nebenführ – eine Band gründen wollte, dringend einen Bassisten benötigte und den langhaarigen Matthias kannte. Röhr kam ihnen gerade recht. Dessen musikalisches Know-how war bekannt und ebenso, dass er gut Bass spielen konnte.
Es vergingen keine zwei Tage, bis Matthias der Gruppe beitrat.
Norbert Nebenführ erinnert sich: „Ich war, genau wie fast jeder andere Teenager zu jener Zeit, total der Gitarrenmusik verfallen. Perfekt war auch, dass sich gerade die lokale Musikszene in Hofheim, Liederbach und Kelkheim herausbildete, die wirklich großartig war. Thomas G. war damals sehr umtriebig, hatte Verstärker und eine E-Gitarre und spielte mir in der Garage seiner Eltern etwas vor. Es dauerte keine zehn Minuten, bis ein schwarzer G.I. hinzustieß, der im Nachbarhaus wohnte, und uns fragte, ob er sich an der kleinen Jam-Session beteiligen dürfe. Als er ‚Voodoo Chile‘ von Hendrix coverte, war es um mich geschehen. Ab diesem Tag bekniete ich meine Eltern, dass sie mir auch eine Gitarre kauften. Es wurde dann die ‚Les Hertie‘ aus dem Main-Taunus-Zentrum.“
Matthias, Thomas und Norbert probten fortan pausenlos im Keller von Thomasʼ Familie. Nach ein paar Wochen standen vier, fünf brauchbare Songs. Genug Material, um es auf Schulfeiern und privaten Feten aufzuführen. Material, das allerdings auch relativ schnell offenlegte, wer etwas an seinem Instrument konnte und wer nicht.
Thomas, das stellte sich schnell heraus, war kein begnadeter Gitarrist. Einer, der gut reden konnte und noch besser darin war, Kontakte zu knüpfen, aber kein Vollblutmusiker. Es dauerte nicht mal ein Vierteljahr, da verließ er die Band und ging seines Weges.
Norbert Nebenführ und Matthias Röhr freundeten sich in Folge dessen noch stärker an, und schon bald waren sie beste Kumpels, die das ehrgeizige Hobby verband, Musik zu machen. Röhr wechselte vom Bass zur Gitarre, und ab da merkte Nebenführ, wie krass sein Kumpel unterwegs war und wie gut er die Saiten bespielen konnte. Er war ein Naturtalent und endlich ein Partner, der kreativ genauso tickte, wie er selbst. Sie kümmerten sich nicht mehr um Mädels oder Partys (auch wenn sie kaum eine ausließen, wenn sie eingeladen waren), sondern übten, bis ihnen die Finger bluteten. Oft fuhr Norbert zu den Röhrs, und gemeinsam rockten die beiden den Keller, in dem der langhaarige Matthias sein Zimmer hatte.
Norbert aus der Erinnerung: „Ich weiß noch gut, wie das Zimmer aussah: Tür rein, links Schrankwand, davor Sofa, und wenn der Zug vorbeifuhr, rumpelte es immer.“
Gemeinsam nahmen sie Gitarrenunterricht bei einer Frau, die bei Röhrs in der Reihenhaussiedlung wohnte. Zwei, maximal drei Tage hielten sie es aus, dann beendeten sie die Stunden. Weder Matthias noch Norbert hatten länger darauf Lust, „Im Frühtau zu Berge“ nach Noten einzustudieren. Noch während der ersten Übungen und spätestens beim „… fallera“ brachen beide in schallendes Gelächter aus.
KISS waren Matthiasʼ Lieblingsband, und auch, wenn die hiesige Musikszene die Band nicht mochte, so liebt er Gene Simmons, die Schminke, das Outfit und – vor allem – die Songs dieser Gruppe noch immer heißblütig. Und hin und wieder malte er sich auch seine Stiefel golden an, genauso, wie es diese Rocker, die sich augenzwinkernd „Knights in Satanʼs Service“ nannten, auch taten. Norbert wurde ebenfalls zum KISS-Fan. Er konnte gar nicht anders. Die Band lief praktisch rauf und runter.
Manchmal passieren die komischsten Dinge zur merkwürdigsten Zeit. Zwei einschneidende Geschehnisse brachten Matthias Röhr und den Rock zusammen. Die Sterne standen günstig. Durch die Schule (endlich, sie war doch für etwas gut) lernte Matthias den zukünftigen Bassisten ihrer Band kennen. Ralf Jaklin war mindestens genauso besessen von den großen Bands jener Zeit wie Röhr und Nebenführ und passte menschlich perfekt. Und deshalb bewegte sich tatsächlich schon bald der RockʼnʼRoll hin zu dem jungen Mann mit den vielen Flausen im Kopf wie der sprichwörtliche Berg zum Propheten.
Jaklin war ein Klassenfreund und musikbegeistert. Einer, der eher etwas introvertiert war. Coole Jeans, T-Shirt, keine gebügelten Hosen. Schulterlanges Haar. Kein Streber, dafür sagte er zu wenig, aber jemand, der schlauer war als viele Gleichaltrige. Seine große Liebe war das Bassspiel. Und irgendwie fanden sich Röhr und Jaklin sympathisch. Sie trafen sich immer öfter, um bei Ralf daheim abzuhängen und über Musik zu diskutieren.
Matthias erinnert sich noch gut an diese Momente: „Ralf hatte einen älteren Bruder. Wahrscheinlich war er damals schon Student. Und der hatte eine unfassbar große Plattensammlung, an der wir uns immer zu schaffen gemacht haben. Neben Johnny Winter, den ich für mich entdeckte, lag auch ein Album von Ted Nugent rum. Als ich das erste Mal ‚Stranglehold‘ gehört habe, wusste ich, das rockt! Das ist es. So geht’s, so muss es sein!“
Was jetzt noch fehlte, war ein Schlagzeuger. Den Part übernahm tatsächlich Thomas G., der kurze Zeit vorher noch leidlich versuchte, durch seine Gitarrenkünste zu überzeugen. Das Schlagzeugspielen lag ihm mehr. So sehr, dass Matthias, Norbert und Ralf begeistert waren, nachdem sich Tommy einfach während der Musik-AG, an der sie alle vier teilnahmen, an die Schießbude setzte und loslegte.
Es war nicht zu fassen. Der Typ, der kaum einen Song seiner Lieblingsbands auf der Gitarre fehlerfrei nachspielen konnte, war der geborene Drummer.
Headliner. Der Name der frisch gegründeten und komplettierten Band stammte von Matthias. Und gemeinsam fühlte man sich schon jetzt unsterblich. Der Keller der Nebenführs war fortan an der Reihe. Dort wurde geprobt und geschnackt, lamentiert, palavert und komponiert. Norberts Vater richtete ihn sogar noch ein bisschen her, sodass die Jungs Platz zum Musizieren hatten. Neben Einmachgläsern und einer Kühltruhe wurde ab sofort hessische Musikgeschichte geschrieben.
Norbert Nebenführ erinnert sich: „Meine Eltern hatten das Haus aus eigener Kraft gebaut. Mein Vater war Fabrikarbeiter und hätte samstags, wenn wir immer probten, ganz sicher auch ein bisschen Ruhe gebraucht. Nie hat er gemeckert. Im Gegenteil: Er hat uns immer unterstützt. Er ist 2008 gestorben, und ich verdanke ihm vieles. Dafür aber, dass wir immer unserem geliebten Hobby nachgehen konnten, werde ich ihm auf ewig dankbar sein.“
Man kann es Herrn Nebenführ nicht hoch genug anrechnen, dass er die Leidenschaft seines Sohnes (und die seiner Freunde) mit aller Kraft unterstützte, dabei sogar auf seine eigenen Ruhezeiten verzichtete und merkwürdige, teilweise verächtliche Blicke der Nachbarschaft in Kauf nahm.
Harter Rock war zu jener Zeit nicht Teil der Gesellschaft. Die großen Bands, die ihn spielten, waren Außenseiter – wenn auch extrem erfolgreiche. Die kleinen Bands, die dem RockʼnʼRoll nacheiferten, waren hingegen der öffentlichen Kritik ausgesetzt. Dem Getratsche und Geläster von Nachbarin Schmidt, Herrn Bauer oder Fräulein Baumann. Im gutbürgerlichen Liederbach trat man der freiwilligen Feuerwehr bei, oder man spielte im Verein Fußball, Tischtennis und Handball, aber man gründete sicher keine Bands, die infernalischen Krach mit gotteslästernden Texten am Fließband produzierten. Und man hörte auch keine Musikgruppen, die sich selbst „Ritter im Dienste Satans“ nannten. Und das zur Mittagszeit am heiligen Wochenende. Maria hilf!
Headliner bestanden aus Matthias Röhr, der sang und die Leadgitarre spielte, Ralf Jaklin zupfte den Bass, Tommy G. saß am Schlagzeug, und Norbert Nebenführ zockte die Rhythmusgitarre. Zunächst wurden Songs der Stones und von Chuck Berry („Johnny B. Goode“) gecovert, doch schon nach kurzer Zeit schrieben die Jungs eigene Stücke. Alle auf Englisch und alle den großen Bands der Endsiebziger huldigend. Ein bisschen AC/DC und KISS, eine Prise Rolling Stones und ein Schuss Deep Purple.
Der örtliche Handballverein überließ Headliner die Halle, um eine erste eigene Show zu spielen. Tommy ließ DIN-A4-Plakate über seinen Vater drucken, die anschließend wild um Liederbach und Kelkheim herum aufgehängt wurden. Der Eintrittspreis betrug neunundneunzig Pfennig. Irgendjemand hatte Norbert im Vorfeld gesagt, dass ab einer Mark Eintritt die GEMA auf der Matte stehe, und das wollte nun wirklich niemand riskieren.
Die Halle hatte eine kleine Bühne, und es wurde sogar noch ein „Support Act“ aus dem Umkreis an den Start gebracht. Fast zweihundert musikinteressierte Menschen wohnten dem ersten Gig von Headliner bei. Ein Erfolg, der Matthias, Ralf, Tommy und Norbert stolz machte. Damit hatte niemand gerechnet. Nebenführs Vater, der an jenem Abend auch anwesend war, fiel direkt Matthiasʼ Art und Weise auf, mit dem Publikum zu interagieren. Dass der sich außerdem als Gitarrist pudelwohl fühlte, war offensichtlich.
Wenig später stieß Andreas B. als neuer Sänger hinzu. Man lernte ihn auf einer der unzähligen Partys kennen. B. sang damals Songs von Pink Floyd rauf und runter. Seine hohe Stimme begeisterte. Das war der perfekte Mann, um die Gallionsfigur von Headliner abzugeben.
Nun konnte sich Matthias voll und ganz darauf konzentrieren, ein waschechter Gitarrist zu sein. Er konnte von links nach rechts laufen, grinsen, seine Axt in den Händen halten und die Gitarre wie ein richtiger Rockstar hochreißen. Soli spielen, die Crowd anfeuern und lauthals mitgrölen. Aber ohne Mikrofon. Singen war seine Sache nicht.
B. konnte das besser und hatte obendrein noch echte Entertainer-Qualitäten, die das Publikum mitreißen sollten.
Norbert erinnert sich gut an die Monate, in denen Headliner richtig anfingen zu wachsen: „Im Proberaum ging es teilweise gut ab. Matthias hatte einen Song für seine damalige Freundin geschrieben, dessen Text er aber irgendwie nicht mochte. Also hat er einfach den Zettel samt Ketchup gefressen und wenig später ausgekotzt. Wir haben immer zusammengesessen, Bier getrunken, geraucht und Pommes gegessen. Langsam wurde auch das Equipment besser. Matthias und ich haben uns dann Stratocaster-Nachbauten von Ibanez gekauft. Die klangen deutlich geiler.“
Andreas B. hatte eine Connection zu einem Aufnahmestudio klargemacht, in dem die Jungs ein bisschen die Luft professioneller Bands einatmen sollten. Die Besitzer waren schmierige Typen, die eher mit Schlager oder Discomusik gerechnet hatten, weniger mit Hard Rock. Und als die Matthias und dessen Aussehen sahen, witterten sie die Chance, aus ihm einen Schlaghosen tragenden Discotypen zu machen, den sie managen wollten.
„Vergesst es, ihr spinnt wohl“, sagte der. Damit hatte sich das Thema der Studioaufnahmen erledigt.
Der große Traum, Headliner würde es irgendwann aus der hessischen Provinz rausschaffen, wurde im Laufe des Jahres zerschlagen. Es gab noch einen Gig während des Schulfests in Kelkheim-Fischbach, und man hing zusammen viel ab, schaute gemeinsam die ersten Rocknächte im Fernsehen, während derer man schwer von Motherʼs Finest und Rory Gallagher begeistert war, aber langsam ging es bergab.
Erledigt hatte sich bald auch die Schulzeit. Zumindest für Norbert, der unmittelbar nach der Schule eine Lehre begann.
Matthias durfte noch eine „Ehrenrunde“ drehen.
Es half alles nichts, und als auch noch Tommy die Band verließ und man auf die Schnelle keinen Schlagzeuger finden konnte, sahen sich Headliner mit dem Beinahe-Ende konfrontiert.
Norbert: „Matthias war schon damals ein Typ, der seine Freunde brauchte und schätzte. Er war ein prima Kumpel, auf den man sich immer verlassen konnte, der aber auch den unbedingten Willen hatte, sich musikalisch weiterzuentwickeln. Er kam auch mit unserem neuen Schlagzeuger nicht zurecht, es entstanden Spannungen. Matthias hat Headliner dann 1979 verlassen. Wenig später ist er nach Frankfurt gezogen. Ab da hat man sich dann leider komplett aus den Augen verloren. Dennoch: Ich erinnere mich mit Genuss an die gemeinsame Zeit mit dem späteren ‚bösen Onkel‘.“
Spätestens ab Ende des Jahres 1979 war Matthias oft Gast in der Offenbacher Stadt- oder der Frankfurter Jahrhunderthalle. AC/DC wurden besucht, damals noch Vorgruppe von Rainbow, deren Musik Kultstatus besaß. Später, noch ehe Bon Scott viel zu früh das Zeitliche segnete, kam es sogar zu einem kurzen Treffen mit Bon, Malcom und Angus während ihres Gastspiels in Offenbach.
Led Zeppelin, Rush und unzählige weitere Bands wurden auf deren Shows abgefeiert und angefeuert. Vor allem aber wurden sie beobachtet. Matthias stand selten mitten im Publikum, noch viel seltener oben auf den Rängen, sondern nahezu immer direkt vor der Bühne und betrieb fleißig „Augenklau“. Fasziniert wanderten dann seine Blicke von links nach rechts. Vom Bassisten zum Gitarristen, und dann, wenn es richtig im Magen kribbelte, weil die Bassdrum drückte, schaute er ganz genau auf den Drummer.
Im Geiste speicherte er alles ab, was er hörte und ihm eine krasse Gänsehaut bescherte, um es anschließend zuhause nachzuspielen. Darin konnte der junge Röhr eine fast schon pedantische Geduld und Genauigkeit an den Tag legen. Erst, wenn das Solo oder das Lick einwandfrei reproduziert werden konnten, wurden sie für Zuhörer adaptiert. Die Kunst lag allerdings darin, sie nicht bloß eins zu eins zu kopieren. Die Gefahr, die im reinen Covern der Lieblingskünstler lag, erkannte er schon damals. Das katastrophale Ergebnis der Bands, die ausschließlich so agierten, konnte man auf vielen Dorffesten, bei Scheunenfeten und in diversen Jugendzentren hören. Null Prozent eigene Kreation, hundert Prozent Kopie.
Das war nicht das, was Matthias wollte. Sein Bestreben lag nicht im Kopieren. Nicht 1979, nicht 1999 und auch nicht 2019. Unselbstständigkeit und Stillstand waren ihm schon als Jugendlicher verhasst. Der Kelch des Nachspielens und der damit verbundenen schleichenden Mutation zum Cover-Gitarristen ging glücklicherweise an ihm vorüber. Und das hatte einen einfachen Grund. Beherrschte man die Songs einmal gründlich, legte man sie einfach erneut auf und improvisierte selbst, während im Hintergrund der Original-Track auf dem Plattenteller seine Runden drehte. Matthias spielte dann seine ureigenen Interpretationen der glorreichen Mid-Seventies-Rockbands. Die schon erwähnten Black Sabbath und Stones waren genauso dabei wie Sweet, Slade, Lynyrd Skynyrd oder die Faces. Und er war schnell darin, zu lernen und zu improvisieren.
Irgendwann zu Beginn des Jahres 1979 spielte er in der Band Sinner. Zu jener Zeit warf der Punk schon seine Schatten voraus. Lange schwarze Haare, Lederjacken, Wrangler-Jeans mit 45er-Schlag, Sonnenbrille und ein dahinter lauernder „Leckt mich alle am Arsch“-Blick.
Herr und Frau Röhr entzündeten kein Tischfeuerwerk, als sie ihren Sohn das erste Mal so nach Hause kommen sahen. Seine Bandkollegen sahen ähnlich wie er, aber doch anders aus. Grauer Parker, Kiffer-Scheitel, rote Jeans, Adidas-Sneakers.
Oliver, Schulkamerad und Drummer von Sinner, schminkte sich das Gesicht weiß, zog die Mundwinkel mit schwarzem Kajalstift nach unten und gab den desillusionierten, traurigen Clown zum Besten. Zwei Jahrzehnte, bevor Brandon Lee als „The Crow“ mit einem ähnlichen Outfit zur Kultfigur wurde.
Martin Röhr, heute Schlossermeister und seit vielen Jahren verheiratet, wurde 1965 geboren und ist Matthiasʼ kleiner Bruder. Einer von drei „kleinen Brüdern“. Bis zum großen Durchbruch der Onkelz 1991 arbeiteten die beiden Röhrs bei derselben Firma in Frankfurt. Heute wohnen er und seine Frau Anna in einem kleinen, beschaulichen Vorort von Frankfurt am Main. Martin erinnert sich heute gern an diese Zeit zurück, in der alles möglich war. Die mittleren Siebzigerjahre tauchten während unserer Gespräche immer wieder sonnenwarm vor seinem inneren Auge auf. Sprach man mit ihm, veränderte sich leicht, aber hörbar, seine Stimmlage. Er erzählte frei über seinen Bruder Matthias, den Rockstar.
„Für mich war Familie immer das Wichtigste. Und ich habe eigentlich immer versucht, die Familie zusammenzuhalten“, sagt er. „Die wilden Jahre und die langen Haare. Das hat oft für wenig Gelächter bei uns zuhause gesorgt. In Liederbach gab es sonntags beim Mittagessen eigentlich immer die Gespräche mit Matthias. Unser Vater konnte da schon sehr penibel sein, wenn ihm was nicht gepasst hat. Das lief dann so ab, dass wir uns, nachdem mein Vater von der Arbeit zurück war (sonntags war die Gaststätte des Vaters immer von morgens bis mittags für den Frühschoppen geöffnet), zum Mittagessen zusammensetzten und nach kurzer Zeit die ‚Moralpredigt‘ losging: ‚Junge, die Haare müssen ab‘, sagte er immer. Und mein Bruder hat dann immer genickt und so getan, als höre er ihm zu. Tat er natürlich nicht. Wenn man Matthias kannte und wusste, was ihn interessierte, dann sah man auch schnell, dass bei ihm die Standpauken und Belehrungen unseres Vaters eher weniger taugten. Das ging sogar so weit, dass unser alter Herr bei ihm selbst Hand anlegen und die Haare schneiden wollte. Im Grunde genommen war es Joachim ein Graus, seinen ältesten Sohn so zu sehen. Und da war natürlich auch diese beständige Angst mit im Spiel, dass Matthias jetzt oder irgendwann Drogen nehmen könnte. Unsere Eltern waren ja nun vom Fernsehen und den Zeitungen vorgewarnt. Die wussten, dass eine lange Mähne und amerikanische Rockmusik dazu geeignet waren, die damalige Jugend zu verderben …“
Martin erinnerte sich auch an die Versuche seiner Eltern, das Bild der heilen Familienwelt nach außen hin zu wahren: „Wir waren eine klassische deutsche Familie, in der alle Kinder so einen Topfschnitt hatten. Gerader Pony, Topf auf den Kopf, rundherum abschneiden. Und Matthias war derjenige, der irgendwann niemanden mehr an seine Haare ranließ. Er war da auch eigentlich Vorreiter bei uns im Dorf, denn jeder der Gleichaltrigen hatte noch diese 0815-Frisur. Auf jeden Fall war das Phase eins in der Rebellion meines Bruders, zu der sich noch – wie wir alle wissen – jede Menge weiterer Phasen dazugesellen sollten. Für meine Eltern war immer total wichtig, was andere Leute über uns dachten. Dieses typische Nachkriegsding eben: Man wollte um jeden Preis vermeiden, dass schlecht über die Familie geredet wurde. Sauberer Vorhang. Das war extrem wichtig. ‚Mach dies nicht, tu jenes nicht. Was sollen Oma und Opa dazu sagen? Dreh die Anlage leiser, und überhaupt, was sind das denn für primitive Typen, denen du da zuhörst?‘ Das war Matthias aber, der zu der Zeit ja schon mächtig am Pubertieren war, schnell scheißegal. Da wurden dann auch gern mal mit Absicht die Zimmertüren zugeknallt oder vor der Haustür, damit es alle Nachbarn deutlich mitbekamen, Widerworte gegeben.“
Auf die Frage, wie er das Verhalten seines Bruders zu dieser Zeit bewerte, sagte Martin: „Schwierig. Matthias hatte ja bei uns im Haus im Keller sein Zimmer. Und man hat ihn innerhalb des Hauses verhältnismäßig wenig gesehen. Im Grunde genommen gab es für ihn schon zu dem Zeitpunkt nichts Wichtigeres als Musik. Da waren schon die Jeans angemalt, da stand auch schon AC/DC auf seinem Rucksack. Als ich dann älter wurde, bin ich auch gern mal mit in den Proberaum von Headliner und Sinner gefahren und habe mir dort angeguckt, was die Jungs so treiben. Das hat Matthias auch schon so ein bisschen Spaß gemacht, das hat man gemerkt. Es gab Phasen, da haben wir viel zusammengesessen und in seinem Zimmer abgehangen, und dann gab es wieder Momente, wo wir uns fast gar nicht gesehen haben. Aber ich wusste eigentlich immer, dass ich mich auf meinen großen Bruder verlassen konnte. Das hat sich bis heute nicht geändert.“
Matthias blühte auf. Seine ganze Galaxie verschob sich, dehnte sich aus, und plötzlich, so schien es ihm, gab es keine Grenzen des Vorstellbaren mehr. Der Horizont des Musikalischen, er war noch lange nicht in Sicht- und ebenfalls nicht in Hörweite. Er expandierte. Und mit ihm sein Umfeld.
Kelkheim wurde ab 1979 immer wichtiger – falls das überhaupt noch möglich war. Hier wurde getanzt, hier wurde getrunken und gesoffen, hier wurde gekifft und gebumst. Erste Freundinnen kamen und gingen, kurze Bekanntschaften wurden geschlossen und wieder verworfen.
Immer, wenn der inzwischen siebzehnjährige Matthias Röhr das Haus in Liederbach verließ, um sich auf den Weg nach Kelkheim zu machen, hatte er einen Stapel Platten unter seinen Arm geklemmt. Nach ein paar Monaten, die Anzahl der Platten, die er mitnehmen wollte, wuchs beständig, steckte er das Vinyl in Einkaufstüten. Und immer wieder trug er auch Double Live Gonzo! von Ted Nugent spazieren.
Das Album wurde rauf- und runtergehört. Beinharter Rock, tiefer gestimmte Gitarren (gern eine untypische Gibson Byrdland, die zu Teds Markenzeichen avancierte), wilde und absolut unangepasst aussehende Typen, die ziemlich ernst nahmen, was sie sangen. Lange Haare, Bärte, Lederjacken. Und dazu auch noch live. Den Begriff des Stoner Rock gab es seinerzeit noch nicht, aber eigentlich passte er zu der Musik wie die Faust aufs Auge.
Nur war Nugent nie „stoned“. Drogen verabscheute der Detroiter Rocker schon von Beginn an. Waffen (viele, viele Waffen), die Jagd und frische Pelze hingegen, die mochte er. Dennoch war Theodore Anthony Nugent 1979 noch viele Jahre von den skandalösen und antisemitischen Aussagen entfernt, die er über zwei Dekaden später tätigen sollte.
Der „Motor City Mad Man“ hatte zur Mitte der ausgehenden Siebzigerjahre seine Solokarriere gestartet und sich direkt mit großem Erfolg in den USA etabliert. „Stranglehold“, einer der bekanntesten Songs von Nugent, stammt gar von seinem Debütalbum. Von 1975 bis 1980 wurden insgesamt fünf Studio- und ein Live-Album veröffentlicht, von denen sich alle in den Top 30 und vier in den Top 20 der Billboard Charts einreihen konnten, ehe Nugents Solokarriere ab 1982 zu stagnieren begann.
Double Live Gonzo! war eines dieser Alben, das Matthias faszinierte. Schnell breitete sich das Nugent-Virus in Kelkheim aus, und noch schneller wurden sich die größten Hits des Detroiters draufgeschafft.
Und während 1978 der 1. FC Köln deutscher Meister, Argentinien Fußball-Weltmeister und der Mount Everest von Messner bezwungen wurde, mutierte Matthias Röhr langsam, aber stetig zu „Gonzo“. Auch, aber eben nicht nur, weil „The Nuge“ omnipräsent war, denn eigentlich war das nur ein Drittel der Wahrheit.
Privatpartys waren ein essentieller Bestandteil der Jugend zur damaligen Zeit. Noch viel mehr als in den Neunzigern, und erst recht als in den Zweitausendern, wurde oft und gern dort gefeiert, wo man sich am besten auskannte: daheim.
Zehn, maximal fünfzehn Jungs und Mädels, die man mochte und mit denen man eh schon die ganze Zeit abhing, rauchte und trank, wurden eingeladen, und die meisten brachten ihre Lieblingsplatten mit. Jedes Wochenende bei jemand anderem. Die Aussage „Bei mir ist am Freitag sturmfrei“ reichte, um die Synapsen vor lauter Vorfreude zum Durchbrennen zu bringen.
Im Partykeller, oft (aber längst nicht immer) unter der Aufsicht einer erziehungsberechtigten Person, wenn sich das versprochene „sturmfrei“ doch als Ente entpuppt hatte, wurde dann das Teenager-Dasein in vollen Zügen genossen. Unter der wärmenden dreilampigen Lichtorgel, nach dem Genuss einiger alkoholischer Getränke oder von Cannabis, wurden die Mädels, wenn man Glück hatte, schmusig. Discofox, Nazareth („Love Hurts“), die Beatles („Hey Jude“) oder Schnulzenmusik aus Italien („Ti Amo“ von Umberto Tozzi war die musikalisch vollstreckte Kastration eines jeden jungen Mannes) wurden aufgelegt, um eng aneinandergeschmiegt miteinander zu tanzen.
Und wenn der Pflichtteil vorbei war, die Mädchen glücklich und die Kerle genügend angeheitert waren, wurden die härteren Geschosse auf die Turntables gelegt. Dann hieß es: Kein Halten mehr bei KISS, Banging bis zur Nackenstarre bei Black Sabbath, Luftgitarre bei Deep Purple, Led Zeppelin und – natürlich – andächtige Bewunderung des Könnens von Ted Nugent. Das war das zweite Drittel.
Auf einer dieser Partys lernte Matthias dann auch den erweiterten Freundeskreis seines damaligen Klassenkameraden und Bandkollegen Oliver kennen. Der hatte schon 1978 seinen Führerschein gemacht. Mit seinem orangefarbenen VW Käfer fuhren also er und Matthias Röhr, so oft es eben ging, von Liederbach und Kelkheim nach Hofheim am Taunus, direkt zum Proberaum ihrer Band.
Öfter mit an Bord: Sabine, Matthiasʼ damalige Freundin, Ute, die beste Freundin von Sabine, und der weibliche Dunstkreis von Oliver, der immer aus mindestens zwei Damen bestand. Eben jene Mädels waren, das konnte man ihnen deutlich ansehen, sehr froh darüber, mit derart harten Jungs unterwegs zu sein. Und wenn dann mal, nach vielen Kippen und noch mehr Dosenbier, angefangen wurde zu proben, waren Sabine, Ute und die anderen immer am Start. Die erste Reihe, direkt vor Sinner aufgebaut.
Eines dieser Mädchen hieß Tanja. Siebzehn Jahre. Langes blondes Haar. Vollbusig. Ultra-heiß. Enge Schlagjeans, Lederjacke, stets einen frechen Spruch auf den Lippen und immer mit dabei.
An besagtem Abend hatte sie einen echten Geistesblitz. Einen, der so naheliegend war, dass es schon beinahe albern wirkte.
Die Muppet Show erfreute sich 1978 nicht nur größter Beliebtheit, sondern war regelrecht der „heiße Scheiß“. Brandneu und urkomisch. Und weil es bei vielen Bands gerade trendy war, der Besatzung Spitznamen zu verpassen, zeigte Tanja mit dem Zeigefinger auf die spielenden Sinner. Zuerst auf Oliver. Natürlich. Das wird Fozzie Bär.
Dann auf den Sänger. Der wurde zu Scooter. Der sah auch ein bisschen so aus. Wild, leicht durchgedreht. Ein zappeliger Typ.
Matthias bekam den populärsten Namen verpasst.
„Ok, gut. Naja, dann bin ich ab jetzt eben Gonzo“, hatte er schulterzuckend gesagt, und dabei mussten alle anfangen, lauthals zu lachen.
Das war das letzte Drittel. Fortan gab es nur noch Matthias „Gonzo“ Röhr.