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ОглавлениеDenn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen
(Johann Wolfgang von Goethe)
Rückblick. Sechzehn Jahre zuvor. Matthias erblickte am Montag, den 16. April 1962, als Ältester von vier Brüdern der Familie Röhr das Licht der Welt. Zur selben Zeit wurde etwa 6.500 Kilometer westlich, in Washington D.C., Ian MacKaye geboren. Beide kannten sich nicht. Sie würden sich auch niemals kennenlernen. Doch verband sie nicht nur dasselbe Geburtsdatum, sondern auch die spätere Liebe zur Musik. Insbesondere zum Punk, zu Ted Nugent und zur Gibson SG.
MacKaye sollte in den kommenden Jahren eines der ersten Punklabels in Washington gründen, während jemand, der sich Gonzo nannte, in Frankfurt fast zeitgleich auf drei Jungs traf, deren Band Böhse Onkelz hieß. Doch bevor Geschichte überhaupt zu Geschichte werden konnte, musste zunächst mal die Gegenwart zur Vergangenheit werden.
Die sechziger Jahre galten gemeinhin als das Jahrzehnt des Aufbruchs, des Widerstands und der Veränderung. Drei Schlagwörter. Sie klangen gut. In ihnen lag so viel Freiheit und der Wille, sich weiterzuentwickeln. Wenn man ein Ausrufezeichnen hinter sie setzte, konnte man sie gar als direkte Aufforderungen verstehen, die es dringend umzusetzen galt.
Wie ein roter Faden zogen sie sich durch das Leben von Matthias „Gonzo“ Röhr. Ein Leben, das nicht nur zu Beginn permanent in Bewegung war. Schon als die ersten Schritte selbstständig gegangen werden konnten, begann er damit, die Welt um sich herum noch viel genauer zu erkunden. Eine Welt, die auch noch ohne Tablet, UHD-Sender und Smartphones ganz wunderbar funktionierte.
Ein Kind durfte noch ganz und gar ein Kind sein. Ohne Eltern, die wie Helikopter um die Kleinen herumflogen. Die dabei immer besorgt aussahen. Immer aufpassten. Immer ängstlich waren. Die Familie war stets die kleinste Einheit des Daseins. Sie bildete das zentrale Element, an der sich jedes Familienmitglied ausrichtete und die Sicherheit gab. Die entbehrungsreiche Zeit nach dem Krieg, die Flucht der Eltern und Großeltern aus Schlesien und Thüringen hatte die Sippen ohnehin zusammengeschweißt. Eine Verbindung von Generationen, die so stark war, dass kein Blatt Papier dazwischen passte und keine Krise das Fundament zum Wanken bringen konnte.
„In meiner Kindheit waren wir den ganzen Tag unterwegs“, erinnert sich Matthias. „Erst wenn die Straßenlaternen angingen und meine Mutter uns vom Balkon zum Abendessen rief, sind wir nach Hause gegangen.“
Kind sein bedeutete nicht App-Store, sondern unbeschwert die Welt zu entdecken. Wenn der Fernseher überhaupt angemacht wurde, dann allerhöchstens einmal die Woche, um Flipper zu gucken. Ansonsten traf sich Matthias mit seinen Freunden, und das bei jedem Wetter. Sie spielten Cowboys & Indianer, voll ausgestattet mit Pfeil und Bogen, und lernten dabei spielend, wie man Lagerfeuer machte, sich in der Natur verhielt und dass ein Schnitt mit dem Messer beim Schnitzen stark bluten konnte. Keiner fragte, ob dieses Treiben politisch korrekt sei. Sie bauten Seifenkisten, bei denen ihnen erst während der Fahrt auffiel, dass sie die Bremsen vergessen hatten. Alle tranken aus einer Flasche, und niemand starb an den Folgen. Das Leben kannte kein Netz und keinen doppelten Boden. Jeder gebrochene Zeh, jede Schnittwunde und jede Beule gehörte dazu und war Teil des Kindseins.
In den Grundschulen in Eschborn und ab der dritten Klasse in Kelkheim war das Tablet noch eine kleine Tafel mit Griffel und Schwamm. Erst in der zweiten Klasse in Kelkheim kamen die ersten Hefte zum Einsatz. In den Sommermonaten trugen die Jungs jeden Tag kurze Lederhosen. Die Dinger waren praktisch, bequem und mussten eigentlich nie gewaschen werden. Mit einem kleinen Fahrtenmesser in der Tasche fühlte man sich stets für alle Hindernisse der Natur bestens gerüstet.
Die ersten Lebensjahre verbrachte Matthias in der Eschborner Lilienthalstraße. Dort standen in diesem Neubaugebiet, dicht an dicht, dreistöckige Häuser. Und direkt gegenüber lag eine große, fette G.I.-Kaserne.
Die Eschborner Bevölkerung bestand damals noch zu einem Teil aus Amerikanern, die dort stationiert waren. Auch einige Nachbarn von Matthias hatten amerikanische Wurzeln. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war etwas über zwei Dekaden vorüber, und aus den Feinden wurden langsam Freunde. Die größten Schutthaufen waren längst weggeräumt, und der Wiederaufbau der zerbombten Städte war fast abgeschlossen. Krauts und Amis passten gut zusammen, und so manche von den Schrecken des Krieges alleingelassene und traumatisierte Witwe verliebte sich in die großen, starken Jungs.
Matthiasʼ damals bester Freund und unmittelbarer Nachbar hingegen war kein Amerikaner, sondern Pakistani und hieß Gigi Dorani. Bei Familie Dorani gab es Lebensmittel, die der junge Matthias Röhr nur aus Erzählungen kannte. Cornflakes und Erdnussbutter zum Beispiel. Beim Probieren dieser Köstlichkeiten jagte eine Geschmacksexplosion die nächste, und alles schmeckte für ihn nach der großen, weiten Welt. Eine ferne Welt, die ihn noch Jahre später magisch anziehen sollte.
Matthiasʼ Vater Joachim war gelernter Kaufmann, der in Frankfurt-Höchst einen kleinen Lebensmittelladen führte. Wenige Jahre später wechselte er zu einem zentraleren Büdchen im Westend – direkt an der Messe. Die damals in Westend ansässigen Fabriken waren voller Arbeiter, die schon morgens mit einem anständigen Herrengedeck (ein belegtes Brötchen und eine Flasche Bier) von Vater Röhr versorgt wurden.
Seine Mutter kümmerte sich aufopferungsvoll um die Familie, die – neben Matthias als Ältestem – zu dieser Zeit noch zwei weitere Söhne umfasste. Den ein Jahr jüngeren Stephan und den drei Jahre jüngeren Martin. Der vierte Sohn Karsten wurde erst ganze zehn Jahre nach Matthias, im Jahr 1972, geboren.
Joachim Röhr arbeite viel und war fast nie zuhause. Sein Tag begann früh morgens um fünf und endete meist erst spät abends gegen dreiundzwanzig Uhr. Der gleiche Trab, von montags bis samstags und sonntags noch einmal halbtags. Matthias und seine Brüder bekamen ihren Papa kaum zu Gesicht. Für das familiäre Oberhaupt war das zwar bitter, aber alternativlos, schließlich hatte er eine damals fünfköpfige Familie zu ernähren. Und fünf Mäuler aßen eine ganze Menge. Die Butterbrote schmierten sich nicht von allein, sondern mussten sauer verdient werden. Das war kein Blumenpflücken. Nicht damals und auch nicht heute.
Ganze zwei Urlaube sprangen dank dieser Schufterei heraus – einer zu Besuch bei Verwandten in der DDR und einer an der Nordsee. Die restlichen Jahre war Matthiasʼ Vater, den er als konservativ, aber weltoffen beschreibt, in seiner Trinkhalle am Schuften. Arbeitszeiten, die es praktisch unmöglich machten, auch noch die Erziehung der Söhne zu managen.
Das erledigte seine Frau. Ein großes Herz voller Mutterliebe, das hin und wieder wütend wurde, wenn der alte Herr am Wochenende den Teilzeit-Vater heraushängen ließ und gern auch ein Wort bei der Erziehung mitreden wollte. Schließlich waren das stolze Jungs – echte Röhrs, und wenn er nicht wusste, was für seine Söhne am besten war –, wer dann?
Matthias war kein einfaches Kind. Schon in den Kinderschuhen ein kleiner Rebell, sorgte er früh für die ersten grauen Haare seiner Mutter. Hatte er wieder einmal etwas ausgefressen, bestand ihre letzte Möglichkeit nur in der Drohung, dass es „vom Vadda, sobald der zuhause ist, richtig Ärger geben wird“!
Wenn der allerdings das Büdchen abgeschlossen hatte und daheim eintraf, war es meistens viel zu spät, um irgendjemanden auszuschimpfen. Das wusste Matthias nur zu gut. Dementsprechend sorglos verschob er die Grenzen des Sag- und Machbaren. Manchmal aber, da ließ sich eine Standpauke einfach nicht vermeiden. Lange Arbeit hin oder her. Und nicht selten war dieses Gewitter für Matthias reinigend und nachhaltig. Die Autorität des Alten konnte nicht angekratzt werden. Es genügte ein böser Blick, um seinen Ältesten zum Schweigen zu bringen.
Handgreiflichkeiten gab es selten. Selbst, wenn zu dieser Zeit innerhalb der Familien noch oft die Hand ausrutschte, ruhte sie bei Joachim Röhr meistens in der Hosentasche.
Ohnehin genossen die Jungs viele Freiheiten, die sie in und mit der Natur auslebten. Alle Röhrs liebten das Land, die Wälder und die Wiesen ringsherum. Und Hessen hatte von derlei viele im Angebot.
Die Großeltern, die in der Umgebung wohnten, waren genauso gern an der frischen Luft. Und schon früh zeigte der gesamte Familienverband diesen Söhnen, welcher Wert in ihrer Umwelt lag und wie sie damit umzugehen hatten. Das, was andere Gleichaltrige bei den Pfadfindern oder im Rahmen einer „Stadtranderholung“ – selten freiwillig – lernen mussten, sogen Matthias, Martin und Stephan aus eigenem Antrieb auf. Baum- und Pflanzenkunde, Pilze. So viele verschiedene Pilze. Waldwanderungen. Spaziergänge bei Wind und Wetter.
Bald kannte Matthias jeden Stein und hatte mindestens einmal seinen Namen in jede Rinde eines jeden Baumstammes geritzt, den es weit und breit gab.
Sonntagnachmittag war ein beliebter Ausflugszeitpunkt. Wenn der Vater den Kiosk an der Messe geschlossen hatte, wurde nachmittags den Söhnen Kultur vermittelt. Dann ging es oft zum Niederwalddenkmal am Rande des Landschaftsparks Niederwald. Das am 28. September 1883, nach sechs Jahren Bauzeit eingeweihte Denkmal, erinnerte an die Einigung Deutschlands 1871. Seit 2002 ist es sogar Teil des UNESCO-Welterbes.
Das Deutsche Eck – der Zusammenfluss von Rhein und Mosel, dem Koblenz seinen Namen verdankte – war ebenfalls ein beliebtes Tagesziel der Familie. Das Ehrendenkmal für Kaiser Wilhelm I., das im August 1897 eingeweiht wurde und den majestätischen Hintergrund der Landzunge von Koblenz bildete, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Übrig blieb nur der Sockel, der allerdings noch immer für viel Aufmerksamkeit sorgte. Erst später, 1993, konnte eine Kopie des alten Reiterstandbilds auf selbigen gehoben werden.
Matthiasʼ Vater liebte die gemeinsamen Unternehmungen mit seiner Familie. Wo Vater Rhein auf Mutter Mosel traf, waren Vater und Mutter Röhr mit ihren Söhnen nicht weit.
Er selbst war gegen Ende des Zweiten Weltkrieges mit seiner Familie geflüchtet und hatte später von Pfungstadt, südwestlich von Frankfurt, aus regelmäßig wochenlange Fahrradtouren über Koblenz und Mainz mit seinem Bruder unternommen. Diese Liebe zur deutschen Kultur und Natur gab er später auch an seine Kinder weiter.
Obwohl er durch die Selbstständigkeit nur sehr wenig Zeit hatte, nutzte er die ihm verbleibende an den Sonntagen intensiv mit den Menschen, die er liebte. Das glich ein bisschen das spärliche Zusammensein unter der Woche aus. In Matthiasʼ Erinnerung waren das die Tage, an denen er seinem Vater so nahe war wie sonst nie.
Die erste große Liebe im Leben des Matthias Röhr war eine, die er auch direkt von seinem Vater Joachim und dessen Brüdern Horst und Helmuth geerbt hatte. Eine, die nach Benzin und verbranntem Gummi roch. Die Lust auf alles, was vier oder zwei Räder besaß und von ihm gelenkt werden konnte.
Matthiasʼ Lieblingsauto war, neben den Mercedes-Modellen, die sein Onkel Horst bevorzugt fuhr, der von 1938 bis 1970 produzierte Opel Kapitän. Zunächst als Mittelklassewagen gestartet, stieg der Sechszylinder im Jahr 1964 in die Oberklasse der deutschen Automobil-Landschaft auf. Der 2,6-Liter-Motor mit 125 Pferdestärken erschien in drei Ausstattungsvarianten, deren Spitzenmodelle „Admiral“ und „Diplomat“ waren.
Der Opel „Diplomat“ war ein absoluter Hingucker und für Matthias ein unfassbar großes Auto. Selbst zu fünft auf der Rückbank fand sich noch Platz für Gepäck. Matthias liebte dieses lässige Auto. In der Regel erneuerte sein Vater alle zwei Jahre seinen Fuhrpark, und Matthias nahm jedes Mal, wenn der Alte einen fabrikneuen Schlitten das erste Mal vor der Einfahrt parkte, begeistert auf dem Fahrersitz Platz und stellte sich vor, damit in die große, weite Welt zu fahren.
Die Röhrs waren eine große Familie. Der Opa und die Oma väterlicherseits lebten in Frankfurt-Westhausen. Der Großvater war Zöllner gewesen. Ein Beruf, der es ihm und seiner Gattin ermöglichte, eine nagelneue Dienstwohnung zu beziehen. Auch wenn es nur drei knapp bemessene Zimmer gab, so war die Wohnung ein echter Glücksfall und in den Nachkriegsjahren keine Selbstverständlichkeit des Mittelstandes.
An den Wochenenden bewirtschafteten beide zwei Kleingärten einer Gartenkolonie. Genau dort, wo heute das Rödelheimer Autobahnkreuz entlangführt. In einem Garten gab es so ziemlich alle Früchte, die man auf heimischem Boden ernten konnte, und im anderen eine große Scheune, in der Kleinvieh untergebracht war.
Die Familie von Matthiasʼ Vater bestand neben ihm noch aus zwei weiteren Söhnen und einer Tochter. Alle vier hatten später fast zu selben Zeit geheiratet und wurden wiederum, im Abstand von wenigen Jahren, ihrerseits Eltern. Daraus entstand eine Gruppe nahezu gleichaltriger Jungen und Mädchen, die sich regelmäßig bei Oma und Opa zuhause oder im Garten trafen. Während die Frauen gemeinsam kochten, die Väter im Wohnzimmer saßen und ihr Bier tranken, spielten die Kinder zusammen nebenan. Es war ein bisschen so wie im Lied „Haus am See“ von Peter Fox.
Regelmäßiges Schlachten der herangezüchteten Karnickel gehörte genauso zum familiären Leben wie die Karnickelpfote, die Matthias von seiner Oma als „Glücksbringer“ in die Hand gedrückt bekam.
Um das familiäre Dickicht besser durchschreiten und deren Mitglieder einigermaßen auseinanderhalten zu können, hatten Matthias und seine Brüder die jeweiligen Omas und Opas nach Wohnorten unterteilt. Die „Rödelheim-Oma“ war Helena Röhr, geborene Jakubowsky. Die Großmutter mütterlicherseits wurde liebevoll „Zeilsheim-Oma“ genannt.
Eines Tages brachte es die „Zeilsheimer-Oma“ fertig, Matthias für drei Wochen zu „kidnappen“. Dass er darauf so gar keine Lust hatte, störte seine Granny herzlich wenig. Aus welchem Antrieb es geschah, weiß er bis heute nicht genau. Vermutlich mochte es die Oma gestört haben, dass der Junge, ihrer Meinung nach, nichts von seiner Mutter hatte. Oder aber ihre Motivation rührte von ganz anderen Dingen her. Vielleicht traute sie ihrem Schwiegersohn und ihrer Tochter zu wenig zu? Oder sie befand, dass die Familie mit den beiden anderen Söhnen schon schwer genug zu schuften hatte. Die Auflösung dieses Rätsels blieb jedenfalls für immer ein Geheimnis.
Matthiasʼ Vater und seine Mutter hatten große Mühe, ihren Sohn wieder mit nach Hause nehmen zu dürfen. Die Oma wollte das Kind partout nicht hergeben und lenkte nur durch jede Menge gutes Zureden ihrer Tochter ein. Das Ganze zog familiär derart große Kreise, dass das Verhältnis zwischen der „Zeilsheim-Oma“ nebst Familie und der „Rödelheim-Oma“ nebst Familie fortan zerrüttet war. Keine Entschuldigung konnte dieses Zerwürfnis wieder geradebiegen. Fortan sahen alle Röhr-Söhne ihre Großmutter nur noch sehr selten.
Matthias war in der Grundschule ein guter Schüler. Seine damaligen Zeugnisse schmückten fast ausschließlich Bestnoten. Zensuren, die darauf zurückzuführen waren, dass er die Schule noch sehr ernst nahm. Gewissenhaft und fokussiert lernte er die ersten Jahre seiner schulischen Laufbahn all das, was von ihm verlangt wurde. Und er hörte auch noch zu.
So gut, dass Matthias einst gar als einziger Schüler die Anweisungen seiner Lehrerin verstand. Eine Mitteilung, die ganz klar besagte, dass der Unterricht am darauffolgenden Tag erst um zehn, statt um acht Uhr beginnen würde. Matthias tat, wie ihm geheißen, und betrat um Punkt zehn das Klassenzimmer. Doch, und bei dem Anblick wurde ihm kurz übel, war selbiges schon bis auf den letzten Platz mit seinen Mitschülern gefüllt. Alle Augen richteten sich auf ihn. Getuschel von Klaus-Peter, hinter vorgehaltener Hand lautes Gekicher von Andrea und Daniela.
Kurz bevor Matthias im Erdboden versinken konnte, nahm ihn Fräulein Meier in den Arm und versicherte ihm, dass er offenbar der Einzige sei, der ihr richtig zugehört habe. All seine Klassenkameraden seien hingegen schon um acht Uhr erschienen. Das war ein Rampenlicht, in dem er dort stand, das ihm ganz und gar nicht schmeckte.
Nach dem Umzug seiner Eltern und dem dazugehörigen Schulwechsel von Eschborn auf die Kelkheimer Pestalozzischule in der zweiten Klasse hatte er seinen ersten großen Auftritt. Ein Umstand, den er seiner Mutter zu verdanken hatte.
Frau Röhr hatte als gelernte Schneiderin zwar ein Auge für Kleidung, verfehlte an jenem Tag jedoch den üblichen Klamottenstil der Kelkheimer Grundschule um Längen, indem sie Matthias an seinem ersten Schultag in der neuen Schule mit Anzug und Krawatte dorthin schickte. Was das für ein achtjähriges Kind bedeutete, das dringend Anschluss suchte, kann man sich mit wenig Phantasie ausmalen.
Baldo Bauer, seines Zeichens Klassenstärkster und „Leader of the pack“, kam oberlässig daher. Schulterlange Haare, Jeans und T-Shirt. Baldo überholte Matthias auf dem Weg zur Schule regelmäßig mit einem geklauten Mofa. Knatter, knatter, knatter.
Der Typ musste einem Hippie-Elternhaus entsprungen sein, so alternativ war der drauf. Auf jeden Fall beeindruckte er auf ganzer Linie. Eines Tages geriet er ins Visier Bauers. Vor der versammelten Klasse entbrannte ein ausgewachsener Ringkampf, an dessen Ende der kleine Röhr, zu seinem eigenen Erstaunen, Baldo mit einem gekonnten Fausthieb aus dem Nichts ins Tal der Tränen schlug. Der blieb kurz benommen liegen, akzeptierte ihn aber fortan, und beide wurden sogar Freunde.
Die Eichendorffschule, eine Gesamtschule in der Lorsbacher Straße in Kelkheim, auf der Matthias ab der fünften Klasse den Realschulzweig besuchte, war ein großer grauer Klotz. Hässlich, keinerlei Fröhlichkeit ausstrahlend. Vielmehr das genaue Gegenteil: morbider Bunkerstil-Charme, der wenig einladend aussah. Für damalige Verhältnisse galt das Gebäude jedoch als die Crème de la Crème unter den hessischen Schulbauten. Versehen mit elektrischen Türen und Jalousien, der modernsten Ausstattung und einem riesigen Pausenhof. Man benötigte fünfzehn Minuten bei normalem Gehen und, je nach konditioneller und körperlicher Verfassung, mindestens vier Minuten vierzig im Sprint, um ihn einmal komplett zu umrunden.
Was in Knästen Usus war, galt auch auf dem Schulhof. Es gab klare Strukturen, anhand derer man erkennten konnte, welche Schüler zu welcher Klasse gehörten, wer die schlimmsten Krawallmacher und populärsten Wortführer waren, welche Mädels begierig angehimmelt und, ganz so wie heute, welche Außenseiter von allen gehasst wurden. Rechts, am Eingang, standen die kleineren Jahrgänge. Seilchen springend, gegen Torwände schießend, kichernd. Ab der achten Klasse zog es die älteren Schüler zumeist weiter hinter das Gebäude, gut geschützt vor nervenden Blicken der Pausenaufsicht. Hier wurde gerne auch mal eine Kippe rumgereicht. Dort wurde von den Zehntklässlern gefummelt, geknutscht und gelästert. Und dort schrieb das Leben eines Teenagers ganz eigene Dramen.
Unmittelbar vor der Schule befand sich die Haltestelle für den Bus, den die Röhr-Brüder tagtäglich von Liederbach aus nahmen. Für Martin war das später, als Matthias schon kurz vor seinem Rauswurf stand, eine privilegierte Situation. Begleitet von seinem drei Jahre älteren Bruder konnte ihm nichts passieren. Er war vor den großen Rüpeln der eigenen Klasse geschützt, und sollte doch mal ein Vollidiot wagen, das Wort (oder schlimmer: die Faust) gegen ihn zu erheben, konnte sich dieser Dummkopf sicher sein, dass er schon in der darauffolgenden Pause eine gepfefferte Schelle von Matthias verpasst bekommen würde. Eine sehr beruhigende Konstellation. Eine, die Martin hin und wieder schelmisch ausnutzte, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Was nicht bedeutete, dass dieser Zustand immer anhalten konnte. Irgendwann, das wusste jeder der beiden Röhrs, würden sich deren schulischen Wege trennen. Und ab da kämpfte dann Martin für sich allein.
Im Laufe der Jahre, vor allem aber gegen Ende hin, hatte sich Matthias an der Eichendorffschule einen Ruf erarbeitet. Er galt als jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte. Niemand, der auf Stress aus war, aber ganz bestimmt ein Junge, der sich zu wehren wusste, sollte es darauf ankommen.
Ihm wurde Platz gemacht, wenn er irgendwo durchwollte. Rempelte ihn jemand an, versehentlich oder provokant, genügte ein böser Blick (dessen Durchschlagskraft er ebenfalls von Joachim geerbt hatte), und schon glotzte der Rempler eingeschüchtert zu Boden. Standen er und Martin für den Bus an, ließ man die Röhrs vor. Wurde eine Gruppenarbeit verlangt, stritt sich niemand mit Matthias um sein Recht.
Da, wo andere Jugendliche in diesem Alter unter der schweren Last der Pubertät zu leiden hatten, mithin geplagt von Selbstzweifeln und Scham den Unterricht über sich ergehen ließen, war der älteste Röhr ein Musterbeispiel an Selbstvertrauen.
Familie Röhr war zur Mitte dieses Jahrzehnts, einige Jahre, bevor Matthias die Schule verließ, vom Berliner Ring in Kelkheim nach Oberliederbach gezogen. Eine Doppelhaushälfte im Fasanenweg wurde das neue Heim, das noch zum Schulbezirk gehörte. Das Haus stand auf einem kleinen Grundstück, das unmittelbar an befahrene Bahnschienen grenzte. Der Umzug nach Oberliederbach erwies sich schon als Glückstreffer, das Haus jedoch war der echte Jackpot. Hier entwickelte sich Matthias zu Gonzo – und auf dem Dachboden des Hauses wurde auch, sehr zum Leidwesen der Eltern, sein erster Gitarrenverstärker ausprobiert.
Es dauerte eineinhalb Minuten, bis jemand unten an der Tür klingelte. Frau Röhr hatte alle Hände voll zu tun, die aufgebrachte Nachbarin zu beschwichtigen.
„Was ist denn bitte in Ihren Sohn gefahren, dass er mittags solch einen Lärm macht?!“, schrie sie Matthiasʼ Mutter an. „Wenn Sie sich nicht sofort darum kümmern, dass hier Ruhe einkehrt, kann sich Ihr Sohn gern mit der Polizei unterhalten!“
Die Nachbarin mochte Matthiasʼ erste Gehversuche an der Gitarre nicht. Das hätte sie nicht deutlicher zum Ausdruck bringen können. Den jungen Mann, der dort oben seit ein paar Tagen mit E-Gitarren und selbstgebauten Verstärkern und Lautsprecherboxen experimentierte, kratzte das aufgeregte Spießbürgerpack aber überhaupt nicht. Im Gegenteil.
Wenn er ein paar Stunden für sich war, die Mutter zum Einkaufen fuhr und seine Brüder die einzige Gesellschaft ausmachten, drehte er gern extra laut. Auch mal gegen Mittag. Nein, besonders gegen Mittag, direkt nach der Schule.
Spätestens jetzt hatte ihn ohnehin die Rockmusik gepackt. Nicht, dass er sich nicht schon seit längerem intensiv mit ihr beschäftigte, aber nun wollte er sie auch erlernen und leben. Das Bespielen der verschiedensten Gitarren bestimmte fortan sein Denken und Handeln. Nichts und niemand konnte dem einen Strich durch die Rechnung machen. Kein Lehrer, kein Vater, erst recht keine Nachbarn von nebenan. Entwickelte Matthias Interesse an einem Thema, wollte er darüber alles wissen, schon damals. Wurde aus dem Interesse eine waschechte Leidenschaft, gab er fortan alles dafür und ordnete ihr alles unter, setzte alle Kraft und jede freie Kapazität ein, um sein Ziel zu erreichen.
Matthias, Helmuth T., Oliver und Sebastian W. (den alle nur „Graf Porno“ nannten) waren seit der neunten Klasse gute Freunde. Graf Pornos liebstes Hobby und schulischer Zeitvertreib war es, eine gut sortierte, frivole Sammlung feinster Wichsheftchen zu besitzen, die er immer dann aus dem Ranzen fischte, sobald Algebra oder Englisch auf dem Stundenplan standen.
Zusammen teilten die fünf nicht nur die Liebe zum RockʼnʼRoll, sondern auch das Schicksal, allesamt in der Neunten sitzengeblieben zu sein. Die fünf waren zu der Zeit echte Mofa-Rocker. Man konnte sie schon von weitem mit ihren Zweitaktern hören, noch bevor sie am Horizont in Erscheinung traten. Fuchsschwanz, Jeans, oben eng und unten weit, lange Haare und alles weitere verschafften auf der einen Seite Respekt und weckten auf der anderen Seite die Aufmerksamkeit der Mädchen.
Sebastian, dessen Eltern bei der Höchst AG arbeiteten und nach Australien versetzt wurden, sollte noch die Realschule fertigmachen, bevor er ebenfalls zu den Eltern umzog. Er lebte in der Zeit bis zu seinem Abschluss in einem Wohnheim der Höchst AG, in dem die Auszubildenden der Firma untergebracht waren.
Als Matthias von der Schule geflogen war (was seine Eltern erst etwas später mitbekamen, da er die entsprechenden Briefe der Schule abgefangen hatte), verließ er morgens sein Elternhaus zur gewohnten Uhrzeit, begab sich aber nicht zum Schulbus, sondern in das Wohnheim zu Sebastian und dessen Bruder, wo er sich erst noch einmal gemütlich hinlegte.
Gegen zehn verließen Matthias und Sebastians Bruder dann gemeinsam die Herberge und trafen sich mit Helmuth, Oliver und den anderen von der Schule Geflogenen sowie „Graf Porno“ im Elternhaus Helmuths. Dort probte die Bande den ganzen Tag im Keller, was wiederum die dortigen Nachbarn alarmierte und auf den Plan rief.
Das Ende des Nachkriegsbooms war auch gleichzeitig das Ende der Selbstständigkeit von Joachim Röhr. Die Industrie in und um Frankfurt zog sich zurück und reduzierte sich auf das Wesentlichste. Das hatte unmittelbar zur Folge, dass kaum noch Gäste in die von Röhr Senior geführte Gaststätte kamen, die er einige Jahre zuvor übernommen hatte.
Wegen der plötzlich einbrechenden Einnahmen sah er sich gezwungen, sein Lebenswerk zu verkaufen. Deutlich unter Wert, von dem ideellen ganz zu schweigen. Der Familie fehlten fortan die Einnahmen des Vaters. Von diesem Zeitpunkt an war die schöne Doppelhaushälfte im Fasanenweg finanziell nicht mehr zu stemmen, und ein Umzug stand an. Nach einigen Überlegungen fiel die Wahl Anfang des Jahres 1981 schließlich auf Bonames, einen berüchtigten Stadtteil im Norden Frankfurts.
Der Name des Viertels ging auf das alte Rom zurück und bedeutete, dass dort, an der Nidda, eine „bona mansio“ („Gute Gaststätte“) gewesen sein musste. Die Struktur des Stadtteils wandelte sich damals entsprechend der generellen Stimmung im Land.
Nun war schon allein die Idee, aus dem beschaulichen Oberliederbach nach Frankfurt-Bonames zu ziehen, wenig vielversprechend. Als sich herauskristallisierte, dass Bonames immer wahrscheinlicher und irgendwann unausweichlich wurde, ging ein großes Raunen durch die Familie.
Dieser Unmut war allerdings nichts im Vergleich zum Gefühl der Trostlosigkeit, das Matthias und seine Brüder verspürten, als feststand, dass sie – von allen beschissenen Ecken dieser beschissenen Gegend – ausgerechnet in die allerbeschissenste Straße ziehen mussten. Der Ben-Gurion-Ring, eine Hochhaussiedlung mit absurd hohem Migrantenanteil, der bis heute für seine weitreichenden sozialen Probleme bekannt ist, wurde das neue „traute Heim“ der Röhrs.
Dort standen Hochhäuser, die schweigend Zeugnis vom Größenwahn der Städteplaner abgaben. Bis zu zwanzig Stockwerke hoch, grau in graue Tristesse. Mini-Balkone, die, mit einem kleinen Grill und einem Wäscheständer verstellt, keinen weiteren Platz mehr boten.
Der größte Irrsinn war jedoch die zutiefst fragwürdige architektonische Bauweise der Plattenbauten. Alle Häuser wurden zu einem fast geschlossenen Kreis angeordnet, dessen Mitte ein nur aus Beton bestehender Innenhof bildete. Wegen Anordnung und Höhe der Häuser fiel nur sehr wenig Licht in die Durchgänge. Hier herrschte an 365 Tagen im Jahr das Regiment der Schatten.
Selbst dann, wenn es über zwanzig Grad warm war, fror man dort. Die soziale Kälte, die durch diese Wohnungen kroch, spürte jeder Besucher oder Anwohner direkt am ganzen Leib. Man musste sich nur lange genug in dieser Gegend aufhalten, um den schleichenden Wahnsinn zu teilen, der dort von Hochhaus zu Hochhaus zog und den Menschen ins Hirn krabbelte.
Wen die Hoffnung endgültig verließ, konnte durch einen Sprung über die viel zu klein gehaltene Brüstung seinem Dasein ein Ende setzen. Das passierte immer wieder. Der Aufschlag der Selbstmörder hinterließ sodann, wenn auch nur für kurze Zeit, etwas Farbe in den Innenhöfen.
Retrospektiv betrachtet war die Entscheidung seiner Eltern, nach Bonames zu ziehen, aus vielerlei Hinsicht eine folgenschwere. Sah man von dem Kontrast zwischen der Reihenhaus-Idylle im Fasanenweg und dem brutalen, einem Ghetto nicht unähnlichen Leben am Ben-Gurion-Ring mal ab, war die Frage, ob es überhaupt eine andere Wahl gegeben hatte, nicht leicht zu beantworten. Bonames schien der unausweichliche Kompromiss aus finanzieller Machbarkeit und räumlicher Notwendigkeit zu sein.
Matthias sah man kaum noch zuhause. Wenn überhaupt, dann nur zum Schlafen. Er hielt es nicht lange dort aus. Er musste raus. Raus aus diesem Moloch, in dem man sich nur oberflächlich umzugucken brauchte, um zu verstehen, dass es eigentlich ziemlich schlecht um die Mittelschicht in Deutschland bestellt war. Dass dieses Land – wenn man weiter so wirtschaftete und den Menschen ins Gesicht spuckte – irgendwann nur noch zwischen zwei Kasten unterscheiden würde: bettelarm und superreich.
Röhr nutzte jede freie Minute, um auszureißen. Frankfurt war nicht nur Bonames oder der Frankfurter Berg, sondern eben auch Sachsenhausen, das West- und Nordend. Gegenden, in denen man sich deutlich besser aufhalten konnte und die über ein stattliches Nachtleben verfügten.
Der Rausschmiss von der Eichendorffschule und das damit einhergehende Verfehlen des Realschulabschlusses war für Matthias indes gut zu verkraften, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits einen Lehrvertrag in der Tasche hatte.
Es zog ihn damals immer mehr in die Nacht und damit auf die Konzerte, die es rund um Frankfurt zu erleben gab. Die bessere Mobilität hatte den Vorteil, dass sein Erlebnisradius nicht mehr nur auf Kelkheim beschränkt war, sondern Frankfurt und das gesamte Main-Taunus-Gebiet einschloss.
Karsten, sein kleinster Bruder, geriet in Bonames zunehmend, und schon sehr früh, in die falschen Kreise. Dort machte er schon mit dreizehn Jahren erste Erfahrungen mit Alkohol und Drogen. Die Krallen der Sucht packten ihn von Tag zu Tag mehr und rissen ihn in einen Strudel aus Rausch und Depression, denen er trotz aller Hilfe viele Jahre später, 2016, erliegen sollte.
Es war bei ihm genauso wie bei vielen anderen Menschen, deren Weg durch Drogen fremdbestimmt wurde. Das große Ziel am Ende der Rauschmittelkarriere schien unaufhaltsam auf ihn zu warten, er musste nur schnell genug laufen, um es pünktlich zu erreichen. Doch es waren keine Jubelschreie, keine Gratulanten und Medaillen, die auf der Ziellinie warteten, sondern ein knochiger Typ mit schwarzem Umhang und Sense. Karsten Röhrs Abstieg in die Sucht- und Drogenhölle begann mit dem Umzug der Familie nach Bonames.
Martin erinnert sich heute noch sehr gut an die vielen Verstrickungen, die damals zu den immer seltener werdenden Kontakten zwischen ihm und seinem großen Bruder geführt hatten. Und er resümiert: „Es ist schon ein krasser Umstand, ihn auch so deutlich noch mal vor Augen geführt zu bekommen, aber man kann sehr klar und nüchtern festhalten: Wäre meine Familie damals nicht nach Bonames gezogen, was wir Kinder als furchtbar und unverständlich empfunden haben, so hätte es vermutlich keinen Gonzo bei den Böhsen Onkelz gegeben, weil Matthias dann viel von der Wut und Umtriebigkeit, die ihn nach Frankfurt geführt haben, gefehlt hätte.
Unser kleiner Bruder Karsten hingegen wäre vermutlich noch am Leben.“