Читать книгу Gonzo - Matthias Röhr - Страница 8
ОглавлениеYou can’t arrest me,
I’m a rock star
(Sid Vicious)
Irgendwann kam jeder Mann an den einen, entscheidenden Punkt in seinem Leben, der ihn unweigerlich dazu zwang, alles zu hinterfragen, was bislang als feststehendes Gesetz (moralischer oder ethischer Natur) in ihm schlummerte.
Veränderungen, die ihn dazu nötigten, seine bisherige Vita komplett zu hinterfragen.
War ich bislang wirklich frei? Mache ich mir eigentlich irgendetwas vor, indem ich mir kontinuierlich einredete, ich sei glücklich? Was wäre wohl aus mir geworden, wenn ich diese oder jene Abzweigung nicht gewählt hätte?
Diese Fragen mochten für manche von geringerer, für andere von größerer Bedeutung sein, aber keiner konnte sich wirklich vor ihnen verstecken: Sie führten dich auf die Straße der Selbsterkenntnis, übernahmen dein Lebenssteuer, und wenn du es zuließt, brachten sie dich ein Stück näher ans Ziel. Egal, welches das auch immer war oder wo dieses auch immer liegen mochte.
Und was ebenfalls stimmte: Die Fragen nach den essentiellen Bausteinen des eigenen Lebens tauchten bei manchen später, bei wenigen zu spät, bei anderen hingegen sehr früh auf.
Matthias stellte sich diese Fragen schon zu einer Zeit, als Gleichaltrige noch auf der Suche nach sich selbst im Treibsand der Pubertät stecken blieben. Und er beobachtete genau, wie manche dieser Mitschüler sich erst mit ausgetreckten Armen und wild um sich schlagend aus dem Klammergriff der Schule befreien konnten. Oder aus dem Würgegriff der Eltern.
Junge, es wird langsam sehr ernst. Du musst dringend eine Ausbildung finden. Aber wie willst du das ohne Abschluss schaffen? Meinst du, dafür haben wir dich auf die Realschule geschickt? Dass du keinen Abschluss bekommst?
Nachdem dieser Junge in den Jahren 1976, 1977 und 1978 alles an Gitarrenmusik konsumierte, was nicht schnell genug vor ihm davonlaufen konnte, und nachdem er eifrig und mit unstillbarem Durst den Texten der großen amerikanischen Rockkünstler gelauscht hatte, verspürte er den Drang, sich weiterzuentwickeln.
Dazu passte, dass diese Welt der Erwachsenen, die sich vor ihm auftat und in die er jetzt eigentlich hineingleiten sollte, irgendwie nach Fäulnis roch. Erst war es ein leichter, süßlicher Geruch, den man nur mit jeder Menge Konzentration wahrnehmen konnte. Doch mit der Zeit wurde er präsenter. So lange, bis sich dieser Mief nicht mehr ignorieren ließ. Kein Sagrotan konnte übersprühen, was derart stark verrottete. Ein Gestank, der von nun an immer über den Dingen hing, die ihm eine Lehr- oder anderweitige „Respektsperson“ erklären wollte.
Waren die Schuljahre zuvor schon kaum auszuhalten, glichen sie jetzt, so kurz vor dem Ende der zehnten Klasse, purer, menschenverachtender Folter. Matthias kam alles, das Autorität und Obrigkeitsgehorsam ausstrahlte, komisch vor.
Er mochte keine Lehrer, keine Staatsgewalt, keine Parteipolitik, aber noch viel weniger hatte er Verständnis für diejenigen, die sich all diesen Irrungen und Wirrungen unterwarfen, ohne sie zu hinterfragen.
Von acht Uhr morgens bis dreizehn Uhr fünfzehn war krassestes Aus-dem-Fenster-gucken-und-Träumen angesagt. Auch der Musikunterricht konnte ihn nicht mehr retten, so gern er auch Herrn Ullrichs Ausführungen zuhörte. Ihm würde Matthias auf ewig dankbar sein. Dafür, dass dieser eine coole Lehrer ihn an die progressiven Rockbands herangeführt hatte, unter denen Deep Purple noch die zu ihrer Zeit harmloseste war.
Die neunte Klasse musste er schon zwei Jahre zuvor wiederholen, und die Mittlere Reife stand im Sommer ʼ79 mehr als nur auf der Kippe. Es gab gutes, kaltes Dosenbier in den Pausen, auf die er immer so sehnsüchtig wartete wie der Häftling auf den Besuch seiner Liebsten. Diese kurzen zwanzigminütigen Momente der Freiheit rochen zwar noch immer grauenhaft-übel, besonders dann, wenn man den Jungentoiletten zu nahe kam, aber diese Momente gaben Matthias auch die Möglichkeit, seine ganze Ablehnung dem System gegenüber zur Schau zu stellen.
Und wie er das genoss.
Direkt angrenzend an das Schulgelände lag der Sportplatz mit seiner angeschlossenen Vereinsgaststätte. Hier trafen sich dreimal wöchentlich die Ingos, Kalles, Günters, Haralds und Dietmars des Ortes, um ordentlich abzupumpen und um zwischen zwei Schoppen die Ballkünste der eigenen Söhne zu kommentieren.
„Nimm ihn nisch mit de Pick, verdomm nochmoar!“
„Bub, jetzt schieß endlisch!“
„Eieiei … aus deinem Jung wird nie ei gescheider Fussballeeer, gloob mir.“
Der Wirt hieß Klaus W. und war eigentlich ein ganz guter Typ. Nach ein paar Wochen des Abtastens dauerte es nicht mehr lange, da hatte W. – pünktlich zum Große-Pause-Klingeln –, das Bier für Matthias und seine Kumpels auf der Theke stehen. Und dann wurde der Kopf in den Nacken gelegt, das Maul weit geöffnet und das Bier geext.
Nachdem man festgestellt hatte, dass man auch in weniger als zwanzig Minuten mehr als einen Liter Gerstensaft trinken konnte, hatte sogar die Lehranstalt etwas Gutes.
Die Realschule hörte unwiderruflich nach der zehnten Klasse auf, doch blieb man als Schüler in den Vorjahren mindestens einmal „kleben“, so war man automatisch immer ein Stückchen älter, stärker und größer als der Rest. Und man gab den Ton an.
Zusammen mit Oliver, der schon immer als der Klassenstärkste galt, und einigen anderen „Null-Bock-Typen“ wurde geraucht, gepöbelt und gesoffen. Pünktlichkeit? Das Einzige, was Matthias zu dieser Zeit pünktlich wahrnahm, war das Klingeln zum Schulschluss.
Und weil das begierige Warten auf den Nachmittag auch unweigerlich dazu führen musste, dass man sich kaum noch mit zu machenden Hausaufgaben beschäftigen wollte, war die logische Konsequenz klar. Und sie bedeutete eben nicht nur, dass man ihm den Realschulabschluss im Sommer 1979 verweigerte, sondern auch, dass man diesen ungehobelten, immer nach Nikotin und Alkohol riechenden, in Jeans und US-Army-Hemden gekleideten, langhaarigen, unerziehbaren Halbstarken zusammen mit fünf weiteren Krawallmachern von der Eichendorffschule schmiss.
Das hatte gesessen.
Damit sah es für das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland nach einem Sieg innerhalb von nur wenigen Runden und für Matthias „Gonzo“ Röhr nach einem Knock-out aus. Das Land verpasste dem rebellischen Teenager hier, der partout weder hören, geschweige denn zuhören wollte, einen ersten harten Schwinger, der ins Schwarze traf. Das war schon kein Warnschuss mehr. Die Faust traf direkt auf den Solarplexus.
Daheim gab es eine Standpauke vom Allerfeinsten.
„Ist das dein Ernst, Sohn? Wie soll es jetzt weitergehen?“
Eigentlich war Matthiasʼ Rausschmiss aus dem Schulsystem nur folgerichtig. Besonders, wenn man die Entwicklung berücksichtigte, die er bis hierhin genommen hatte. Weniger als Trost, sondern vielmehr aus der Not heraus überreichte man ihm zähneknirschend einen Hauptschulabschluss, mit der Bedingung, sich in den letzten Wochen nicht mehr in der Schule sehen zu lassen.
Das Zeugnis fiel genau so aus, wie man es erwartete. Und schon damals war der Abschluss der Hauptschule nicht unbedingt der Garant für einen Ausbildungsplatz. Joachim Röhr war nicht amüsiert. Ganz und gar nicht.
Die letzten Schulwochen über ließ Matthias, der sich von nun an immer häufiger einfach Gonzo nannte, seine Tarnung fallen. Er gab einen Scheiß auf den Abschluss, den man ihm nicht geben wollte. Ihn kümmerten jetzt überhaupt keine Noten mehr, keine Klausuren, keine Hausaufgaben. Der gezielte Treffer der Eichendorff-Realschule in Kelkheim wurde von Matthias zwar registriert, aber danach konsequent ignoriert.
Was andere Schüler schon bereut hätten, nachdem ihre Eltern ihnen die Hölle heißgemacht hatten, löste bei ihm nur ein desinteressiertes Schulterzucken aus. Ein kurzes „Abbutze und weidermache“, das warʼs.
So was kam zuhause nicht gut an. Das konnte nicht sein Ernst sein, nicht als ältester Sohn der Familie. Nicht als der, der seinen drei Brüdern als Vorbild dienen und mit ihnen in die Zukunft schreiten sollte. Der Unfrieden kehrte in die eigenen vier Wänden ein – und Matthias? Der nahm das Gezeter und die Ermahnungen seines alten Herrn nur als weißes Rauschen von ganz weit weg wahr.
Es war zum Haare raufen. So hatte sich das Familienoberhaupt der Röhrs die Pubertät des ersten eigenen Sprösslings ganz bestimmt nicht vorgestellt. In ihm keimte zwar noch Hoffnung, dass es Karsten, Martin und Stephan Matthias nicht gleichtäten, aber eigentlich reichte das schon. Ein langhaariger, vermutlich Drogen nehmender Unterrichts- und Leistungsverweigerer, der zu allem Überfluss noch von der Schule geworfen wurde, war genug.
Egal, wie viele „ernste Wörter“ Herr Röhr mit seinem Sohn sprach, sie alle waren letztlich für Matthias doch nicht mehr als redundante Lehren über sein Leben, das nur er zu leben hatte. Darin hatte sich niemand einzumischen, auch nicht sein Vater.
„Mach dir keine Sorgen, ich komm schon zurecht.“
Und weg war er.
Eigentlich verständlich, dass Herrn Röhr die Geduld ausging, denn zu allem Überfluss begann das Fernsehen seit geraumer Zeit damit, Matthiasʼ Interesse für sich zu gewinnen. Disco mit Ilja Richter im ZDF, der von Radio Bremen produzierte und in der ARD ausgestrahlte Musikladen sowie ein paar andere Musiksendungen, die bislang eher das schlager- und popverwöhnte Publikum mit leichtverdaulicher Kost zufriedenstellten, änderten auf einmal ihre Marschrichtung.
Für die Bundesbürger gänzlich neue Bands, frisch aus dem United Kingdom eingeflogen, wurden vor den Kameras positioniert. Und nachdem das rote Licht aufleuchtete, durften diese Männer ihre Wut und ihr Anderssein im deutschen Fernsehen ausleben. Bundes-Michel und Biedermann lernten so ganz schnell, was die Jugend von damals tat, trennte man erst mal ihre Nabelschnur durch.
The Damned, The Stranglers und wie sie alle hießen … Und sie gaben ihre größten Hits zum Besten. Zwanglose Gedanken, Rebellion und eine unkontrollierbare Freude an der bedingungslosen Provokation. „Love Song“, „New Rose“ (The Damned), „No More Heroes“ (The Stranglers), natürlich „Tommy Gun“ und das immer junge „London Calling“ von den allmächtigen The Clash flimmerten über westdeutsche Mattscheiben.
Einmal empfangen, gaben sie einen ersten Eindruck davon ab, was in den nächsten Jahren als größte bislang gekannte Welle der jugendlichen Subkultur von der Insel aufs Festland schwappen sollte.
Und irgendwo sah der junge Matthias Röhr, dessen Gedanken an seine berufliche Laufbahn erst einmal warten mussten, die heiligen Sex Pistols im Fernsehen. Ob es bei einer der oben erwähnten Sendungen, während einer Reportage oder eines Fiebertraums war, weiß er nicht mehr.
„Während des Musikladens oder während Disco kann es eigentlich nicht gewesen sein“, sinniert er im Gespräch. „Die Pistols waren den verantwortlichen Redakteuren meiner Erinnerung nach zu heiß.“
Sei es, wie es sei. Es spielte keine Rolle, denn feststand: Irgendwo kam Matthias das erste Mal mit Johnny Rotten, Steve Jones, Paul Cook und Sid Vicious in Berührung.
Mit einem einzigen Ausschnitt auf dem alten Röhrengerät explodierte vor seinem inneren Auge etwas und half dabei, dass der musikalische Kosmos Röhrs weiter expandierte. Wie gern hatte er noch vor wenigen Jahren vor dem Fernseher gehockt und die absurd guten Gospel- und Johnny-Winter-Shows geguckt. Voller Faszination für die dargebotene Kunst.
Er liebte die Musik damals schon so sehr, dass er es nicht ertragen konnte, auf die Sendezeiten der Öffentlich-Rechtlichen angewiesen zu sein. Mit seinem Kassettenrecorder (damals so etwas wie der heilige Gral der musikbegeisterten Jugend) zeichnete er die Sendungen analog auf. Mit Störgeräuschen, mit Gerede im Hintergrund, mit allem, was eigentlich unerträglich war.
Für Matthias nicht. Es war erträglich, weil sein Gehör, einmal in Gang gesetzt, alles herausfiltern konnte, bis nur noch die Musik übrig blieb.
Und dann folgte die Erleuchtung. Diese englischen Bands hatten etwas, das er nicht beschreiben, sondern nur fühlen konnte. Die britischen Medien, hysterisch und panisch, wie sie immer waren, wenn eine neue Subkultur die Monarchie schockierte, brauchten dringend ein Wort, um den Krach der Instrumente und die Impertinenz der Texte zu beschreiben, die sie hörten: Punk!
Die Etymologie des Begriffes war eigentlich viel älter. Erste Aufzeichnungen gingen sogar auf das Jahr 1596 zurück, in denen man altes, faulendes Holz als „Punk“, als etwas Wertloses, bezeichnete. Den heute gebräuchlichen Sinn des Wortes rechnete man der Musikjournalistin Carolin Coon zu. Coon liebte viele Jahre Paul Simonon, den Bassisten von The Clash. Und als man sie fragte, wie sie denn den Musikstil ihres Freundes und seiner Freunde bezeichnen würde, fiel ihr dieses alte Wort ein.
„Well, I guess, this is Punk Rock.“
Die Tatsache, dass es Coon war, die den Begriff etablierte, interessierte in den Massenmedien kaum jemanden. Die waren noch viel zu sehr damit beschäftigt, laut zu mosern oder angeekelt zu kotzen. Punk. Rock. Punk Rock.
Oh Jesses.
Das war sie also, die Zukunft der Musik. So viel Energie, so viel Wut und so viel Authentizität hatte Gonzo nie zuvor gehört. Und das trotz oder gerade wegen des Umstands, dass die Mucker der Punkbands nicht gerade die Talentiertesten ihrer Zunft waren. Bei genauerem Hinhören und Hinsehen jedoch war das eigentlich wiederum geil. Nichts oder nur wenig an den Instrumenten zu können, schien urplötzlich kein Hemmnis für Erfolg zu sein. Und das war noch nicht alles.
Jetzt schien es sogar en vogue, derbe Texte zu schreiben, über die sich die alten, zerknitterten, ungevögelten Frauen und aristokratischen Männer aufregen konnten. Und wie genüsslich und inbrünstig sich das Establishment zu echauffieren vermochte, wusste man spätestens, wenn man die schockierten Kommentare des Feuilletons über den Pistols-Hit „God Save The Queen“ las.
Doch trotz aller Aufreger platzierte man diese Bands im Fernsehen. Und dort ließ man sie vor einem Millionenpublikum auftreten. In den Charts landen. Und ab da regnete es für die populärsten Punk-Rock-Bands tausendfach britische Pfund.
Also, wenn das nicht krass war, wusste Matthias auch nicht weiter. Hier wurde den Bands der Busen gereicht, nach dessen Milch sich die Jugend die Finger leckte und an der die Medien, Manipulatoren, Politiker und Monarchen ersticken sollten.
Von nun an liebte Matthias „Gonzo“ Röhr den Punk. Er stieg in die Rakete, nahm Platz und ließ sich auf einen neuen musikalischen Planeten schießen. Ein unbekannter Ort im bekannten Sonnensystem. Dasselbe, in dessen planetarischen Umlaufbahnen er Jahre zuvor noch Chuck Berry, Elvis, die Stones, Nugent und alle anderen großen Künstler entdeckt hatte, kannte ab diesem Moment vorerst nur noch die drei dicken P: Punk, Pogo und Provokation.
Fragt man Gonzo heute nach den ersten Tagen in der Subkultur, nach dem „Wie alles begann“, gerät er nicht selten ins Schwärmen: „Für mich war das plötzlich wie das Eintauchen in eine neue Blase. Man hat diese Bands im Fernsehen gesehen, The Stranglers, The Damned und alle anderen, und ja, das war mit einem Mal etwas völlig Neues. Es gab vorher ja größtenteils nur diese ganzen ‚Superstar‘-Bands. Also Genesis, Emerson, Lake and Palmer, die Stones. Alles Bands, die mit riesigen Produktionen durch die Lande zogen und für die Jugend aber immer uninteressanter wurden. Da vermisste man irgendwann den RockʼnʼRoll in der Rockmusik, die im Begriff war, zu einem Kunstprodukt zu werden. Das war schon großes Business, an dem sich Hunderte Manager, Veranstalter und Künstler sattaßen. Und mit den englischen Punkbands gab es plötzlich – aus dem Off – eine völlig neue, krass inspirierende Form des musikalischen Ausdrucks. Wild abstehende Haare, so neue Frisuren, wie sie damals Eddie Cochran oder Link Wray in den Fünfzigern trugen. Manche kurzrasiert, manche gefärbt. Dazu eine Lederjacke, die Gitarre tiefhängend, drei Akkorde spielend. Das hat gereicht, die haben abgerockt und gute Songs geschrieben. Das hat mich natürlich vom Fleck weg begeistert. Also bin ich losgezogen, ein paar Tage, nachdem ich die Bands im Fernsehen für mich entdeckt hatte, und habe mir im Schallplattenladen von Olivers Bruder einen Punk-Sampler gekauft. Frisch aus dem Königreich importiert. Und plötzlich sah man da auch auf einmal Freunde und Bekannte, denen es ganz ähnlich ging wie mir. Mit diesem neuen Schwung an Energie kamen auf einmal Mädels an und hatten sich die Haare abrasiert oder grün gefärbt. Dazu noch gern eine kaputte Jeans und die Ersten, die Doc Martens trugen. Manche Mädchen, von denen man bislang immer dachte, dass die doch noch total unter der Fuchtel ihrer Eltern stehen und zum Lachen in den Keller gehen, haben sich plötzlich auch der Welle angeschlossen. Vieles lief über die Musik. Die Platten-Stores waren die Treffpunkte, um sich auszutauschen. Und so bin ich langsam, nicht mit einem Rutsch, immer mehr zum Punk geworden.“
Die Geburtsstunde der aus England kommenden wütenden Untergattung des RockʼnʼRoll faszinierte die Jugendlichen. In Frankfurt und seinen Vororten, in Hamburg, Berlin, dem Ruhrpott, Bremen und Düsseldorf war es am krassesten. Hier schlug das Punk-Beben mit voller Härte zu und begeisterte unzählige Kids aus dem Stand. Mit einem Mal wurde über diese spezielle Musik gefachsimpelt, als wäre Punk das Wichtigste im Leben.
Schallplattenläden, deren größter Absatz noch bis dato die großen Popbands und Interpreten der USA, ABBA aus Schweden, die Beatles oder Stones aus England waren, sortierten ihre Verkaufsräume um und platzierten die Sex Pistols, The Clash und Co. gut sichtbar im Schaufenster.
Michael, Olivers älterer Bruder, tat es den anderen Plattenladen-Besitzern gleich. Sein Geschäft wurde über die Jahre immer wieder von Matthias und anderen jungen Erwachsenen aufgesucht, um sich echte Schätze der Rockmusik zu sichern. Der Mann hatte und kannte alles. Er selbst war immer auf der Suche nach neuen, schrillen Tönen und nach dem nächsten großen Importhit aus Übersee. Als die Bee Gees noch als Geheimtipp galten, man die Sex Pistols noch für ein frivoles Liebesspielzeug und The Clash für einen Romantitel hielt, hatte er deren Veröffentlichungen, verpackt in große Vinylschachteln, schon bei sich im Laden stehen.
Seit gefühlten Ewigkeiten dealte er das gute Zeug. Die heiße Ware wurde direkt an die Jugend weiterverkauft. So hielt auch dort ab 1979 „das dicke P“ Einzug in die Schaufenster. Und weil es großen Spaß machte, ein bisschen mit dieser unverbrauchten Attitüde zu kokettieren, gab es für jeden Punk, der sich den neuen Scheiß kaufte, noch ein paar Aufkleber und Patches obendrauf. Das allein war schon ein Faustschlag ins Gesicht der stockkonservativen Spießbürger, die in dieser neuen Bewegung nun endgültig den Untergang des Abendlandes sahen.
Die Generationen, die dieses Land zuerst in den Untergang marschieren ließen, um es hinterher wiederaufzubauen, hatten schon die Nazis, die Befreiung durch die Siegermächte, die Teilung der jungen Republik, den Aufbau des „antifaschistischen Schutzwalls“, die kiffende, wütende 68er-Bewegung und den Terror der RAF überlebt. Aber am Punk, da herrschte nun große Einigkeit, würde dieses schöne Land endgültig verrecken.
Doch nicht nur die Spaßbremsen der elitären, beamtenmentalitätsvertretenden Langweiler hatten ein großes Problem mit der Subkultur. Auch gleichaltrige Besserwisser aus gutem Hause, von denen man einige später den „Poppern“ zuordnen konnte, Musikerkollegen aus anderen Bands und Schulkameraden rümpften über diesen primitiven Krach die Nase.
Witzigerweise wurde selbst AC/DCs legendäres erstes Album, High Voltage, von diesen Typen abgelehnt und weggelächelt. Die Platte gab es seinerzeit nur in Europa und war eine Zusammenstellung der ersten beiden Longplayer der Australier.
Auch deren Nachfolger erging es nicht besser. T.N.T., Dirty Deeds Done Dirt Cheap und Let There Be Rock waren für die Nullpeiler nicht viel mehr als Lärm mit sinnfreier Lyrik. Die Band aus Down Under kratzte das allerdings überhaupt nicht. Im Gegenteil. Das war mehr Segen als Fluch. Als die Punk-Welle, in England startend, ihren Siegeszug quer durch Europa hinlegte, kamen AC/DC glimpflich davon. Deren Musik war weder zahn- noch eierlos, sondern wütend, aggressiv und obrigkeitsverneinend. Eigentlich so, wie die der Punk-Rock-Bands, nur mit deutlich höherer Qualität in den Produktionen und mit viel mehr Skill an den Instrumenten.
„Auf der ersten AC/DC-Single, die ich mir damals gekauft habe und an deren Namen ich mich heute leider nicht mehr erinnern kann, war so ein kleines, aber gut lesbares Banner draufgedruckt“, erzählt Matthias. „100 Prozent Punk-Rock stand da drauf.“
Ein Kulturschock für all die Vollblutmusiker, die sich zeitlebens mit der Perfektion ihrer Kunst auseinandergesetzt hatten.
Das soll Musik sein? Alter, mach dich nicht lächerlich! Nach dem Mist kräht in einem Jahr kein Hahn mehr.
Oder: Junge, ich hatte dich bislang echt respektiert und für jemanden gehalten, der Ahnung von dem hat, was er sagt. Aber du willst mir doch jetzt nicht ernsthaft erzählen, diese Scheiße wäre gut?
Es wurde geschimpft, gemosert, geklagt. Von oben nach unten, links nach rechts, doch die Welle war störrisch, schlicht nicht interessiert daran, was man über sie zu klagen hatte, und bewegte sich mit großem Tempo immer weiter vorwärts. Sie war nicht mehr aufzuhalten.
Die elitären Musikerkreise, die sich für die Krone der Schöpfung hielten, mussten fortan auf Partys miterleben, wie das Virus des Punk immer weiter um sich griff, die Inkubationszeit immer kürzer wurde und ein bundesweiter Ausbruch der „Seuche“ bereits im vollen Gange war. Die DJs änderten ihre Musik in den Clubs, die Gastgeber die Musik auf ihren Privatpartys und die Punks ihre Musik auf den heimischen Schallplattenspielern.
Einzig die deutschen Radiostationen wollten nicht mitmachen. Das war ihnen nichts. Zu heiß, zu schmutzig, ordinär und nicht zu ertragen. Doch statt das Phänomen damit zu bekämpfen, sorgten sie dafür, dass es immer größer wurde.
Der unausgesprochene Boykott hatte genau die gegenteilige Wirkung. Ein ähnliches Paradoxon, das bei genauerer Betrachtung nur logisch war, konnte man dreizehn Jahre später bei den Böhsen Onkelz feststellen, die dann mit Heilige Lieder ein ihrerseits ganz neues Virus verbreiten sollten.
„Und so sind wir zu Punks geworden“, sagt Gonzo.
„Das ganze Ding zog immer größere Kreise. Es entstanden wirklich innerhalb kurzer Zeit, vielleicht nur binnen eines Sommers, richtige Netzwerke in Frankfurt und den Orten ringsum. Man traf sich dann plötzlich auch mit neuen Leuten, mit Gleichgesinnten, die man vorher noch gar nicht so richtig auf dem Schirm hatte, weil die sich natürlich dann auch zu erkennen gaben und der Szene zugehörten. So bildeten sich neue Cliquen. Ich hatte viele Freunde, die in der Umgebung wohnten, mit denen ich eine verdammt gute Zeit verbracht habe. Heiko, Frankie Frosch und wie sie alle hießen. Die kamen teilweise aus dem gesamten Taunus-Umland und haben meine ‚Szene‘ gebildet. Einige kamen auch aus Orten, in denen Menschen gewohnt haben, die alles waren – aber ganz sicher nicht arm. Aus Königstein, Neuenhain, stellenweise aus Kelkheim-Hornau. Millionäre, die in ihren großen Villen oder in Bungalows lebten. Grundstücke so riesig, dass ich damals dachte, in einer Siebzigerjahre-Tatort-Kulisse zu stehen, wenn man da drin war. Und die Töchter und Söhne dieser Millionäre sind dann auch auf einmal Punks geworden. Das waren bislang ‚nur‘ Schulkameraden von uns, vielleicht – im besten Fall – entfernte Bekannte. Aber auf keinen Fall Freunde, die man oft sah.“
Das änderte sich ebenfalls mit dem Eintreffen der Punk-Welle auf dem deutschen Festland. Plötzlich spielte der soziale Status des Einzelnen keine Rolle mehr. Es war völlig einerlei, ob der kleine Punk aus gutem Hause oder aus einer völlig verwahrlosten Wohnsituation im Jugendheim kam. Die Bewegung und die Musik vereinten die Kids.
Dass diese kurzen Momente des großen Zusammengehörigkeitsgefühls nicht von Dauer sein sollten, war schon damals abzusehen. Dennoch, so erinnert sich Matthias, als die „Arbeiterpunks“ plötzlich auf die „angepunkten“ bessergestellten Jugendlichen trafen, und man zusammen feierte, dass sich die Balken bogen, seien das tolle Momente gewesen: „Und plötzlich betrat man also diese fetten Häuser und Bungalows, die man allerhöchstens mal beim Vorbeifahren sah, und feierte dort drin krasse Partys. Das war natürlich auch nicht zu verachten.“
Man kann sich die Szenerie bildhaft vorstellen, ohne dabei gewesen zu sein: Holzgetäfelte dunkle Wohnzimmer mit schweren, teuren Eichenmöbeln. Perserteppiche, deren Besitzer schon die Krise bekamen, verschüttete man nur Leitungswasser auf dem sündhaft teuren Stoff, und Einbauküchen, deren Elektrogeräte allein schon teurer waren als die gesamte Wohnungseinrichtung der Röhrs.
Und die Hausherren standen auch oft gefährlich nahe am Rande des plötzlichen Herztodes, als sie – sonnengebräunt und erholt aus dem Urlaub kommend – die Ergebnisse und Hinterlassenschaften der ungebetenen Partybesucher begutachten und aufräumen mussten.
„In diesem Umfeld haben sich Heiko und ich immer wieder aufgehalten, bis es uns irgendwann langweilig wurde. Die Waldrandgebiete im Taunus waren toll, die Feten in den großen Villen ebenso, aber wir hatten irgendwann das Gefühl, dass wir raus in die Großstadt mussten. Nach Frankfurt. Und dort nach Sachsenhausen. Einige aus unserer Clique schlossen sich an, andere hatten überhaupt keine Lust darauf. Das hat sich dann auch schon direkt nach Abenteuer angefühlt, um ehrlich zu sein. Beim ersten Mal hatten wir noch richtiges Herzklopfen, als wir am Hauptbahnhof ankamen. Klar, man ist natürlich auch als Nicht-Frankfurter sofort aufgefallen. Die ganze Bewegung war ja gerade frisch, steckte sprichwörtlich noch in den Kinderschuhen, da hat man natürlich die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, ist ja logisch. Am Anfang dachten wir eigentlich noch, naiv wie wir waren, dass man uns vielleicht in dieser großen Stadt gar keine Beachtung schenken würde, weil es ja dort – so stellten wir uns das jedenfalls vor – wahrscheinlich an jeder Ecke einen Punk geben musste. Weit gefehlt. Schon nach unseren ersten Besuchen stellten wir ganz schnell fest, dass dem ganz und gar nicht so war. Es gab natürlich schon damals eine gewisse Anzahl an Punks, aber das waren noch so wenige, dass sie sich optisch nicht ins Gesamtbild von Frankfurt einfügen ließen, ohne dabei jemanden zu stören.
Es war inzwischen Februar 1981 geworden, und ich lebte zu der Zeit mit meiner Familie schon in Frankfurt-Bonames. Das war ein Graus. Eigentlich war ich nie zuhause. Es ging nicht, man ist dort automatisch krank geworden, zwischen diesen ganzen Hochhäusern und dem ewigen Sich-in-die-Arme-Laufen der Gangs. Eines Samstags – wir sind immer am Wochenende nach Sachsenhausen gefahren, um uns dort mit den anderen Jungs und Mädels zu treffen – ist es dann passiert.
Wir kommen am Hauptbahnhof in Frankfurt an, gehen zur Straßenbahn, um auf die andere Mainseite zu fahren, und an der gegenüberliegenden Haltestelle stehen zwei ziemlich punkig aussehende Typen. Einer von den beiden Jungs hatte wild abstehende, grün gefärbte Haare. Stachelig wie ein Igel. Die ganze verfranste Lederjacke hing voller ‚Anarchy‘-Patches. Der andere hatte Springerstiefel und einen übel aussehenden Mantel an, eine Aktentasche dabei und rief zu uns beiden rüber: ‚Ey, wo wollt ʼn ihr hin?‘“
Zwei Punks, die zusammengehörten, eine kleine Gruppe bildeten und sich hier offensichtlich bestens auskannten, trafen auf eine leicht verloren wirkende andere Zweiergruppe, die dafür aber auch verdächtig schwer nach Punk aussah. Das konnte doch eigentlich nur eine von Fortuna höchstpersönlich eingefädelte Verkettung gänzlich unwahrscheinlicher Zufälle sein. Heiko und Matthias nahmen den Ball jedenfalls auf.
„Und so ging das ganze Beschnuppern und das Kennenlern-Ritual knappe drei Minuten hin und her, ehe die Straßenbahn angefahren kam“, erinnert Gonzo sich heute.
Als die Tram anhielt und sich schon die Türen öffneten, rief der dunkelhaarige Typ mit den Springerstiefeln und dem Pennermantel, der sich den beiden kurz und hektisch, mit starkem hessischen Dialekt als Stephan vorgestellt hatte, Matthias und Heiko zu sich rüber und fragte, wohin sie denn überhaupt vorhätten zu fahren.
„Na, nach Sachsenhausen“, antworteten sie ihm.
„Ne, vergesst das mal“, sagte er. „Kommt ins JUZ Bockenheim. Nehmt die Linie 18, fahrt bis eine Station nach der Messe, und da ist dann das JUZ direkt auf der anderen Straßenseite. Da gehtʼs ab.“
Dann stiegen die beiden ein und verschwanden. Und erst mal entschwanden sie auch für ein paar Stunden aus dem Wichtigkeitsradius von Matthias.
Heiko und er fuhren auch diesen Samstag nach Sachsenhausen, schüttelten Hände und tranken Bier. Ihm waren die liebgewonnenen Kneipen hier wichtiger als irgendein Jugendzentrum. Doch je weiter der Tag voranschritt, desto häufiger geriet er ins Nachdenken. Sachsenhausen war schön, aber Frankfurt war verdammt noch mal so viel größer als dieser Stadtteil mit seinen alten Kaschemmen, sodass sich ein Gedanke in sein Hirn einnistete, der sich nicht mehr ignorieren ließ, je näher der Abend kam.
„Heiko, wir müssen später dorthin fahren. Ins JUZ.“
Mehr Worte bedurfte es nicht. Ihm gingen diese beiden Typen nicht mehr aus dem Kopf. Die sahen nicht nur nach Punk aus (das taten inzwischen alle – auch die aus gutem Hause), die rochen und sprachen auch so. Das war filzig, das war echt. Die verkörperten exakt das Lebensgefühl, das er während seiner Reisen nach Frankfurt immer gesucht hatte, aber bislang noch nirgendwo finden konnte. Er spürte intuitiv, dass er dem Rat dieses Typen, der Stephan hieß und diesen dreckigen Pennermantel trug, unbedingt folgen musste …