Читать книгу Piagnolia - Matthias von Arnim - Страница 7
ОглавлениеSonntag, 25. März 1934, noch 77 Tage bis zum Endspiel
In Mailand schien die Sonne. Doch über den Mienen der beiden Herren, die in dem Café nahe des San-Siro-Stadions saßen, hingen Gewitterwolken. Oberst Briccone und der Parteisekretär Achille Starace schwiegen sich an. Olivio Mela hätte mit dem Geldkoffer voller Drachmen schon da sein sollen. Costas, der Grieche, der das Bestechungsgeld entgegennehmen sollte, damit Griechenland das Qualifikationsspiel kampflos verloren gab und zum Rückspiel erst gar nicht antrat, wartete bereits in einem anderen Café, nur wenige Hundert Meter weit entfernt in derselben Straße. Starace holte einen Block aus seiner Tasche und begann zu schreiben. „Was schreibst du da, Starace?“ fragte Briccone. „Ich mache mir Notizen für den Steckbrief, der vermutlich heute noch an die Zentrale geht: Gesucht wird Olivio Mela, etwa 1,64 Meter groß, Nickelbrille. Er neigt zu Schweißausbrüchen und flüchtigem Geld. Derzeit trägt er 400.000 Drachmen in einem schwarzen Koffer bei sich. Meldungen sind zu erstatten an …“
„Mela wird kommen“, unterbrach ihn Briccone.
„Es wäre besser für ihn“, ergänzte Starace und schmiss dabei seinen Stift so heftig auf die Tischplatte, dass er kurz aufsprang und vor den Füßen eines anderen Gastes landete. Dieser hob ihn auf, ging zum Tisch der beiden Männer hinüber und reichte ihn Oberst Briccone. „Vielen Dank, Signore“, bedankte sich dieser. „Keine Ursache“, antwortete Nick Soriano, setzte sich wieder auf seinen Platz und übertrug letzte Bemerkungen aus der Pressekonferenz zu dem WM-Qualifikationsspiel, das er gleich ansehen und kommentieren würde, in sein Notizbuch. Er schaute noch einmal kurz auf. Der Oberst winkte gerade den Kellner zu sich. „Bringen Sie dem Herrn dort drüben ein Getränk seiner Wahl“, rief er ihm zu und zeigte auf Soriano.
„Oh, ich nehme gerne einen Rotwein. Danke, Signore …“
„… Briccone. Oberst Vittorio Briccone“, ergänzte der Oberst.
„Für einmal Stift aufheben wäre das nicht nötig gewesen, Oberst und Signore …“ Jetzt wollte Nick auch den Namen des anderen Mannes erfahren. Der Oberst und der Mann in dem edlen schwarzen Gehrock, der neben ihm saß, waren ihm schon aufgefallen, als er das Café betreten hatte. Sie schienen sehr angespannt zu sein. Und sie hatten etwas sehr Beunruhigendes an sich. Der Blick, mit dem die beiden die Szenerie betrachteten, hatte etwas Herrisches an sich. Sie strahlten eine Überlegenheit aus, die nicht durch Herkunft, Ausbildung oder gar ehrliche Arbeit erworben, sondern ihnen durch Rangabzeichen verliehen worden war. Sie verkörperten für Nick einen Typus Mensch, der in Diktaturen für eine aussichtsreiche Karriere gerne sein Gewissen in Zahlung gab. Er sah den Mann mit dem schwarzen Gehrock erwartungsvoll an. Dieser zögerte, gab aber schließlich seinen Namen preis.
„Starace, Achille Starace“, brummelte er.
„Ja, also auch Ihnen gilt mein Dank, Signore Starace“, antwortete Nick. Als der Kellner das Glas Wein gebracht hatte, prostete er dem Oberst und seinem Begleiter noch einmal kuz zu. Er fragte sich, was es mit den beiden Gestalten auf sich hatte. Sein Instinkt sagte ihm, dass er diesen Männern irgendwann noch einmal begegnen würde.
Olivio Mela saß derweil auf einem alten Holzstuhl an der Wand des weiträumigen Wartesaals vor dem Büro des Filialleiters der Banca d’Italia in Mailand und wartete darauf, 400.000 Drachmen ausgehändigt zu bekommen. Direttore Paolo Vermiglio war bislang nicht besonders entgegenkommend gewesen. Er zeigte sich überrascht, Drachmen statt Lire auszahlen zu müssen. Die Vollmacht mit Oberst Briccones Unterschrift zweifelte er an, und selbst wenn er sie anerkannt hätte, hätte dies nichts an seiner Haltung geändert. Direttore Paolo Vermiglio kannte keinen Oberst Briccone. In den Unterlagen, die er sich hatte aushändigen lassen, existierte zwar ein Konto, das mit den Angaben Melas übereinstimmte. Doch dieses Konto war mit nicht nachvollziehbaren Sperrvermerken versehen. So konnte Vermiglio nicht einmal einsehen, wie viel Geld auf dem Konto lag und welche Transaktionen bereits getätigt wurden. Dafür hätte er die Genehmigung direkt von Vincenzo Azzolini, dem Gouverneur der Banca d’Italia in Rom, einholen müssen. Dies alles kam dem Direttore doch sehr merkwürdig vor. Offensichtlich lag hier ein besonderer Fall vor, der mit außerordentlicher Sorgfalt behandelt werden musste. Vermiglio handelte also seinen Vorschriften entsprechend. Er blickte Olivio Mela streng und mit dem gebotenen Maß an Autorität an, die ihm als Direktor dieser ehrwürdigen Institution verliehen war, und drückte ihm ein Formular in die Hand, das dieser nun auszufüllen hatte. Zudem enthielt das Formular eine Aufzählung von Dokumenten, die Mela noch zu besorgen hatte, um die Transaktion vorschriftsmäßig ausführen zu können. Die Liste enthielt …
… einen Antrag auf Eröffnung eines Fremdwährungskontos.
… die Aufforderung, eine vom Finanzministerium, Außenministerium, Innenministerium und Wirtschaftsministerium zu unterzeichnende Genehmigung vorzulegen, die bestätigte, dass die befugte Person (bezugnehmend hier: Olivio Mela) einen Betrag größer als 5.000 Lire in Fremdwährung entgegennehmen dürfe. Beizufügen sei außerdem ein unterschriebenes Duplikat dieser Genehmigung.
… die Aufforderung zur Beibringung des Originalzertifikats der Faschistischen Partei Italiens über die Befugnis zur Geldentgegennahme, der beglaubigten Genehmigung der Generalverwaltung für internationale wechselseitige Devisenangelegenheiten und dazu ein unterschriebenes Duplikat dieser Genehmigung.
… acht Felder zur Unterschrift der Bestätigung des Erhalts dieses Dokuments. Unterschreiben sollten hier der Gouverneur der Banca d’Italia in Rom, der Sekretär der Faschistischen Partei, der Generalkonsul Griechenlands, der italienische Regierungsbeauftragte für internationale Angelegenheiten, der italienische Innenminister, der italienische Außenminister und der generalbevollmächtigte Sekretär für Außenhandel und Hygiene. Außerdem hatte Olivio Mela als beauftragter Antragsteller zu unterschreiben.
Alle beizubringenden Dokumente seien mit dem jeweils offiziellen Bürostempel abzustempeln und durch die Parteizentrale in Rom zu bestätigen.
Während sich Direttore Vermiglio nun in sein Büro zurückzog, um, wie er sagte, sich mit dem Fall eingehend zu beschäftigen, versuchte seine Sekretärin, eine Amtsleitung nach Florenz herzustellen, wo sich nach Angaben Melas Oberst Briccone gerade aufhielt. Dieser hatte schließlich per Dekret die Auszahlung des Geldes veranlasst und sollte dies nun zumindest fernmündlich schon einmal bestätigen. In Briccones Büro schien jedoch niemand an den Apparat gehen zu wollen oder zu können. Die Frau von der zentralen Telefonvermittlungsstelle versprach Vermiglios Sekretärin, es weiter zu versuchen und sie zu kontaktieren, sobald sich jemand meldete. Mela konnte Vermiglios Stimme vernehmen, als dieser sich an seine Sekretärin wandte. „Julietta, Liebes, ich brauche dich für ein Diktat. Pronto, es eilt“, rief er und öffnete noch einmal kurz die Tür zum Wartesaal. „Signore Mela …“, sprach Vermiglio in ruhigem, verbindlichem Ton den Wartenden an und strich sich über seinen feinen Oberlippenbart. „Es wird sicher eine halbe Stunde dauern, bis ich hier fertig bin. Danach habe ich einen Termin und dann Mittagspause. Wie wäre es, wenn Sie so um halb drei Uhr nachmittags wiederkommen würden. Dann werden wir Ihre Angelegenheit in Ruhe regeln.“ Mela traute seinen Ohren nicht. Wenn er mit dem Geld nicht rechtzeitig vor dem Anpfiff des Qualifikationsspiels in dem kleinen Café nahe des San-Siro-Stadions erschien, konnte die Abmachung mit den Griechen endgültig scheitern. Und schlimmer noch: Sein eigenes Leben war gefährdet. Man hatte ihm diese Chance gegeben, das Geld zu organisieren. Und nun dies! „Direttore!“, hörte er sich flehen. Panik stieg in ihm auf. „Sie haben ja keine Ahnung, was hier auf dem Spiel steht! Halb drei Uhr nachmittags! Da ist bereits alles zu spät. Ich müsste mit dem Geld längst unterwegs sein!“ Seine Stimme überschlug sich. „Es ist wirklich wichtig! Es geht um Italien!“ Doch Direttore Paolo Vermiglio war nicht in der Stimmung für Panik. Er sah an seinem Jackett herunter. Dann zog er langsam seine Uhr aus seiner Westentasche. Er klappte sie auf, zog sein Monokel aus seiner anderen Westentasche, führte es an der Kette langsam zu seinem rechten Auge und klemmte das Monokel umständlich fest. Er blickte auf die Uhr. Er klappte sie zu. Dann steckte er das Monokel und die Uhr wieder an ihre angestammten Plätze vor seinem Bauch zurück. Direttore Paolo Vermiglio sah den vor Aufregung zitternden Mann vor ihm ruhig an. „Sie haben recht. Es geht um Italien. Und wir haben eine ganz besondere Sorgfaltspflicht. Die Banca d’Italia ist sich dieser Verantwortung bewusst. Wir prüfen jeden Vorgang sehr sorgfältig. Das sollten wir alle tun. Denn damit sorgen wir dafür, dass in diesem Land nicht alles drunter und drüber geht. Und genau aus diesem Grund werde ich persönlich in Florenz anrufen.“ Mela atmete auf. „Nach dem Mittagessen kümmere ich mich darum. Sie sollten vielleicht auch etwas zu sich nehmen. Sie sehen schlecht aus“, hörte Mela den Direttore noch sagen, ehe dieser sich im nächsten Augenblick seiner Sekretärin Julietta zuwandte und mit ihr in seinem Büro verschwand. Mela war der Verzweiflung nahe. Er stürmte in das Vorzimmer, griff sich das Telefon und verlangte eine Amtsleitung in das Mailänder Büro des Parteisekretärs Starace. „Ja, ich weiß, dass er nicht da ist. Aber es ist wichtig, dass Sie ihn benachrichtigen. Er ist im Moment in der Osteria del Pallone und sitzt dort zusammen mit Oberst Vittorio Briccone. Gehen Sie hin oder schicken Sie einen Boten und richten Sie ihm aus, es gebe Schwierigkeiten … Es ist mir egal, ob Sie gerade mit etwas Wichtigerem beschäftigt sind! Es geht um Italien!“
„Es macht mich nervös, wenn du mit deiner Pistole so herumfuchtelst.“ Oberst Briccone zischte sein Gegenüber, den Parteisekretär Starace, streng an. „Wir sind hier in einem öffentlichen Café und nicht auf einem Schießstand. Es geht hier um Fußball und nicht um Krieg.“ Starace steckte seinen Revolver zurück in die Halterung unter sein schwarzes Jackett. „Wo ist der Unterschied?“, fragte Starace und strich sich mit der Hand über die deutliche Ausbeulung in seiner Jacke. „Wo bleibt denn nun Mela? Ich habe den unangenehmen Verdacht, dass …“ Die Tür des Cafés ging auf, ein schwarz Uniformierter trat ein und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Er sah sich suchend um. Sein Blick traf schließlich Soriano, der gerade im Begriff war, aufzustehen und zu bezahlen, und wanderte dann weiter zu Achille Starace. Dieser richtete sich auf. Der Uniformierte trat auf ihn zu, schlug die Hacken zusammen und grüßte militärisch, zuerst den Oberst, dann Starace. „Oberst Briccone, Sekretär Starace!“, schallte es durch den Raum. Nick drehte sich beim Verlassen des Cafés noch einmal um.
„Ja, Hauptmann! Was gibt es?“, fragte Oberst Briccone.
„Schwierigkeiten! Das jedenfalls behauptet ein gewisser Signore Bella.“
„Mela“, verbesserte Briccone den Hauptmann.
„Ich wusste, dass dieser Typ zu nichts zu gebrauchen ist“, schimpfte Starace. In diesem Augenblick dröhnte vom nahe gelegenen San-Siro-Stadion der Jubel und der Applaus von 20.000 siegessicheren italienischen Zuschauern in die Osteria del Pallone hinüber.
Nick Soriano setzte sich gerade auf seinen Platz auf der Pressetribüne, als die Mannschaftsaufstellungen vorgelesen wurden. Er schaute sich um, gerade einmal ein Drittel der Plätze im Stadion war besetzt. Kein Wunder, dachte er, bei diesen Preisen, die für die Tickets verlangt wurden. Die gähnende Leere in einigen Tribünenabschnitten bestätigten seine Recherchen, die er im Vorfeld angestellt hatte. Offensichtlich hatte sich das Land finanziell mit der Ausrichtung dieser Weltmeisterschaft übernommen. Die Folge waren nicht nur teure Eintrittspreise, sondern sogar üppige Steuererhöhungen, die für großen Unmut bei den Italienern sorgten. Die Stimmung im Vorfeld der WM war in Italien entsprechend gedämpft.
Nick legte sein Notizbuch auf den kleinen Tisch vor sich, schaute noch einmal in seine Aufzeichnungen zu dem Spiel und hakte die aufgerufenen Namen neben der Liste in seinen Unterlagen ab. Er notierte, dass Italien in Bestbesetzung aufgelaufen war. Als die griechischen Spieler aufgerufen wurden, hatte der Stadionsprecher offensichtliche Schwierigkeiten, die Namen auseinanderzuhalten. Jeder zweite Vorname lautete Costantinos oder Georgios, die Nachnamen betonte der Sprecher grundsätzlich auf der ersten Silbe und verschluckte den Rest. Doch Nick ging, auch ohne alle Namen verstanden zu haben oder die Spieler gar zu kennen, davon aus, dass die Griechen hoffnungslos unterlegen sein würden. Dem in über einhundert Partien eingespielten Team von Vittorio Pozzo stand eine griechische Auswahl gegenüber, deren Länderspielhistorie überhaupt erst 20 Spiele alt war. Die bisherigen Gegner Griechenlands, meist vom Balkan, waren nicht vergleichbar mit den europäischen Spitzenteams, die derzeit um den Einzug in die Weltmeisterschaft rangen – und schon gar nicht mit Italiens Squadra Azzurra. Giampiero Combi im Tor galt als einer der Besten seiner Zunft. Eraldo Monzeglio in der Abwehr garantierte Italiens Gegnern auf dem Platz wunde Schienbeine und in den vergangenen Jahren nur wenige Erfolgserlebnisse. Doch der ganze Stolz der Italiener war Giuseppe Meazza. Jedes Kind von Palermo bis Mailand kannte den Namen dieses italienischen Ausnahmestürmers. Nick Soriano spitzte noch einmal seinen Bleistift und wartete auf den Anpfiff.
Direttore Paolo Vermiglio betrat sein Vorzimmer und sah dort Olivio Mela zusammengekauert auf seinem Stuhl sitzen. Vermiglio zog erst seine Uhr aus der Westentasche, dann sein Monokel, blickte auf die Uhr und schüttelte den Kopf. „Sie sind zu früh“, sagte er. Es ist erst zwei Uhr. Wir sind erst in einer halben Stunde miteinander verabredet. Mela reagierte nicht. Er starrte Vermiglio einfach nur an. „Es ist zu spät“, murmelte er. „In einer halben Stunde beginnt das Spiel. Ich bin quasi tot“, wimmerte Mela. In diesem Augenblick flog die Vorzimmertür mit einem heftigen Knall auf. „Was ist hier los?“, tobte Achille Starace. Direttore Paolo Vermiglio drehte sich um und musterte Starace von oben bis unten – und noch einmal über die ganze Länge zurück. „Das ist eine gute Frage“, sagt er. „Wer sind Sie? Haben Sie einen Termin mit meinem Sekretariat ausgemacht?“ Vermiglio ließ Monokel und Uhr wieder an ihre angestammten Plätze vor seinem Bauch wandern und sah Achille Starace streng an. Seit 20 Jahren war ihm so etwas nicht vorgekommen. Was bildete sich dieser Mann in dem schwarzen Gehrock hier nur ein?
Achille Starace blickte sich um. In der Ecke des Raumes sah er Mela, der auf seinem Stuhl zusammengekauert sitzend vor sich hin wimmerte. Und direkt vor Starace stand der Direttore, ein Mann, der aussah, als ob er im vergangenen Jahrhundert steckengeblieben war. Vermutlich einer dieser Royalisten, die den neuen, großartigen Visionen der faschistischen Partei skeptisch gegenüber standen und sie bei jeder Gelegenheit zu blockieren suchten. Ein Paragrafenreiter, ein Verhinderer! Starace trat auf ihn zu und fixierte ihn mit einem Blick, in dem alle Verachtung lag, die ein überzeugter Parteisoldat wie er diesem alternden, aus der Zeit gefallenen Bankdirektor entgegenzuschleudern vermochte. „Wir haben die Auszahlung von 400.000 Drachmen beantragt“, zischte er. „Dieses Geld holen wir jetzt ab“, setzte er nach.
In Piagnolia hatte sich derweil herumgesprochen, dass der „verlorene Sohn“ Guido zurückgekehrt war. In der Trattoria am Marktplatz drängelten sich die Einwohner des kleinen Städtchens um den Tisch, an dem Guido, Bürgermeister Agostino und Pater Corello saßen. Es wurde gescherzt und getrunken. Von allen Seiten prasselten neugierige Fragen auf Guido ein, die er jedoch nur zögerlich beantwortete. Guiseppe, der Sohn von Fabio, dem Wirt, wollte alles über die glorreichen Siege der italienischen Armee wissen. „Hast du in Afrika viele Feinde totgeschossen?“, bohrte der kleine Guiseppe nach.
„Naja, ich war zwar in Libyen. Und da haben wir gegen die Aufständischen gekämpft. Aber ich habe niemals auf einen Menschen geschossen“, antwortete Guido.
„Warum nicht?“ Guiseppe war offensichtlich enttäuscht.
„Ich wollte niemals töten.“
„Aber du warst doch Soldat.“
„Ja, aber nicht freiwillig. Man hat mir einfach nur ein Gewehr in die Hand gedrückt und gesagt: Schieß! Aber ich habe nicht geschossen. Die Menschen da unten in Afrika haben mir nichts getan.“
„Aber das sind doch Rebellen!“, protestierte Guiseppe.
„Naja, das kann man so und so sehen. Sie haben uns schließlich nicht eingeladen, ihr Land zu erobern. Eigentlich gehört es uns ja nicht.“
„Du hast nicht geschossen?“, fragte Antonia, die bei Fabio in der kleinen Trattoria als Bedienung aushalf.
„Nein.“ Guido sah das Mädchen an. Sie erinnerte ihn an Adriana. Dieselben schwarzen Haare. Der volle Mund, der immer aussah, als ob sie ein wenig schmollen würde. Die wachen Augen. Als die Garezza, bei der er nun wohnte, sie ihm als ihre Nichte vorstellte, war ihm Antonias Ähnlichkeit mit Adriana bereits aufgefallen. Doch er wollte endlich das Original sehen, seine Verlobte, die er vor so vielen Jahren verlassen musste.
„Kann man denn als Soldat einfach so sagen: Ich schieße nicht auf Menschen? Das geht doch nicht“, sagte Antonia.
„Du hast recht. Das geht nicht so einfach. Wer nicht schießt, wird bestraft. Ich habe deshalb viel Zeit in den Gefängnissen der italienischen Afrikatruppe verbracht.“
„Wo?“, wollte Piedro wissen. Der alte Mann hatte vor 23 Jahren als einfacher Infanterist gegen die Osmanen in Nordafrika gekämpft und kannte sich aus in Libyen.
„Bengasi.“
„Ein Drecksloch“ raunte der Alte.
„Für mich war es das tatsächlich. Aber unsere Offiziere haben sich mittlerweile dort schöne Villen gebaut. Du würdest Bengasi vermutlich nicht wiedererkennen.“
„Welches Wetter haben die denn in Nordafrika so?“, hörte Guido eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund fragen. Er kam kaum mit den Antworten nach. Afrika, das große Abenteuer, exotische Pflanzen, dunkelhäutige Frauen … Seine alten Freunde hier wollten von einer Märchenwelt hören. Doch von dieser Märchenwelt hatte er nicht viel kennengelernt. Seine Antworten wurden knapper, schließlich einsilbig. Er wollte nicht unhöflich erscheinen. Doch Afrika war kein Erlebnis, an das er sich gerne erinnerte. Als sich schließlich die Umstehenden einen Augenblick lang nur miteinander unterhielten und er kurz aus dem Fokus der Aufmerksamkeit geraten war, wandte sich Guido an Pater Corello, der gerade im Begriff war, seinen Hund Benito zu kraulen. Benito lag rechts neben Corellos Stuhl und genoss die Streicheleinheiten.
„Benito liebt es, an der Seite massiert zu werden, vor allem wenn er gerade etwas gefressen hat. Außerdem verträgt er seine Mahlzeiten so besser. Er ist nicht mehr der Jüngste und hat manchmal Schwierigkeiten mit der Verdauung. Dann kann es schon einmal vorkommen, dass er das Futter wieder ausspuckt. Wenn ich ihn massiere, helfe ich ihm ein wenig“, plauderte der Pater, dem Guidos unsicherer Blick jedoch nicht entgangen war. Corello erwartete deshalb auch nicht, dass Guido auf seine Ausführungen zu Benitos Befinden ernsthaft eingehen würde. Guido war nach 17 Jahren in der Fremde mit Sicherheit nicht hier aufgetaucht, um über die Magenleiden alternder Hunde zu diskutieren. Er war hier wegen Adriana. Das wusste Corello.
„Wie geht es ihr?“, fragte Guido schließlich den Pater leise.
Pater Corello kraulte Benito noch ein wenig an der Seite, dann hinter den Ohren. Er zögerte und sah seinen Hund an. Schließlich sah er Guido in die Augen. „Du willst sie wiedersehen, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete Guido.
Pater Corello sah ihn immer noch an, dann legte er seine linke Hand auf Guidos Schulter. Guido versuchte, den Blick des Paters zu deuten. In dem Blick des Paters lag etwas sehr Trauriges. Und plötzlich fühlte es sich an, als ob Corellos Hand Tonnen wiegen würde. Die Welt vor Guidos Augen verschwamm, als unter großem Jubel das Radio in der Trattoria lauter gedreht wurde und die italienische Hymne blechern erklang.
Nick Soriano blickte gespannt und konzentriert auf das Spielfeld, wo die beiden einzigen Mannschaften der Qualifikationsgruppe sieben nun zum Hinspiel in Mailand aufeinander trafen. Der Anpfiff ertönte, und Nick begann mit seinen Notizen.
9. Minute. Noch NICHTS passiert. Haben die Italiener das Fußballspielen verlernt?
11. Minute, Angriff Griechenland, Costantinos XXX über links, Torhüter Combi hält.
17. Minute, Angriff Griechenland, Georgios XXX über rechts, Combi hält. Wichtig: Ich muss mir unbedingt noch die korrekte Namensliste der Griechen besorgen.
23. Minute, Angriff Griechenland, die Nummer 6 zielt in den rechten Winkel, Combi hält.
35. Minute, Kombination der Griechen über rechts, Pass in die Sturmmitte, Schuss knapp am italienischen Tor vorbei, wieder Georgios XXX (Nummer 11 unbedingt Namen in den Unterlagen nachschauen. Liegen unten im Presseraum aus). Das hätte das 1:0 für die Griechen sein müssen. Eine Sensation bahnt sich an.
Nick Soriano und die 20.000 italienischen Fans, die gekommen waren, um ihre Mannschaft siegen zu sehen, trauten ihren Augen nicht. Während die griechischen Spieler ungestümen südländischen Fußball zelebrierten, wirkten die italienischen Ballkünstler wie gelähmt.
Von seiner Trainerbank aus beobachtete auch Italiens Coach Vittorio Pozzo das Spiel mit versteinertem Gesicht. Er schüttelte den Kopf. Etwas lief hier grundsätzlich verkehrt. Hielten sich die Griechen nicht an die Verabredung?
37. Minute, Trainer Pozzo blickt immer wieder zur Ehrentribüne hinauf, wo sein Verbandspräsident und sein Generalsekretär sitzen. Als ob die das Spiel entscheiden könnten.
Da, jetzt wieder. Soriano folgte Pozzos Blick und sah, wie ein kleiner Mann mit Nickelbrille auf der Ehrentribüne hinter Ottorino Barassi trat und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Das schien den Generalsekretär des italienischen Fußballverbands sichtlich zu erleichtern. Gleichzeitig war auch in die griechische Delegation Bewegung gekommen. Die Funktionäre der griechischen Mannschaft standen schließlich geschlossen auf, gestikulierten wild, klatschen in die Hände und riefen ihrem Trainer von der Ehrentribüne aus irgendetwas zu. Dieser schaute auf, nickte kurz mit dem Kopf zur Seite und gab seinen Spielern lautstarke Anweisungen. Was dann folgte, konnte Soriano kaum fassen. Wie von Geisterhand gelähmt, stolperten die eben noch spielfreudigen griechischen Akteure plötzlich träge über das Feld und schauten ihren italienischen Gegnern beim Fußballspielen förmlich zu.
Der Radiosprecher, der das Spiel in Mailand mit höchster Anspannung kommentierte, war trotz des großen neuen Röhrenradios, das Fabio rechtzeitig zur WM für seine kleine Trattoria in Piagnolia gekauft hatte, kaum zu verstehen. Die anwesenden Gäste versahen jede geschilderte Spielsituation mit eigenen Kommentaren. Es wurde diskutiert und geschimpft. Guido, der der Spielübertragung kaum folgte, stierte dagegen nur vor sich hin. Pater Corello sah ihn verständnisvoll an und fragte schließlich: „Was geht dir durch den Kopf, mein Sohn?“ Diese Frage vermochte Guido in diesem Augenblick nicht wirklich zu beantworten. Bilder schossen ihm durch den Kopf. Adriana als Kind. Adriana als junges Mädchen. Er hatte sie schon immer geliebt. Bereits in der Schule hatten sie unter dem Tisch Zettel getauscht. Und wenn sich dabei ihre Finger berührten, sahen sie sich lange an. Selbst als sie noch gar nicht wussten, was diese Blicke einmal zu bedeuten hatten. Er versank in ihren Augen. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah. Er war süchtig danach. Als sie sich schließlich das erste Mal küssten, wusste er, dass er sie niemals mehr verlassen wollte. Sie gehörten zusammen. Es schien ihm wie ein Naturgesetz. Adriana war sein Leben. Bis zu jenem Nachmittag, als Adriana fassungslos auf dem Marktplatz stand und zusehen musste, wie er in seinem Hochzeitsfrack mit gefesselten Händen auf den Militärtransporter geladen wurde. Als er, den Blick hinten aus der Laderampe heraus auf die staunenden Hochzeitsgäste gerichtet, davongefahren wurde, war sie ihm noch etliche Meter hinterhergelaufen, der Saum ihres weißen Hochzeitskleides wurde nass und dreckig, bis sie schließlich atemlos stehen geblieben war. Das war das Letzte, was er von seiner großen Liebe in Erinnerung hatte. Jetzt war er nach vielen Umwegen in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Zu spät. Er dachte an das viele Geld in seinen Motorradpacktaschen – und an die geheime Liste, die er immer bei sich trug. Er sah Pater Corello an, der Guidos Blick nicht zu deuten wusste und noch einmal vorsichtig nachfragte. „Woran denkst du gerade?“, fragte er. „Italien wird dieses Spiel haushoch gewinnen, und das Rückspiel findet gar nicht erst statt. Aber das ist jetzt völlig bedeutungslos“, antwortete Guido tonlos.
40. Minute, Guarisi marschiert alleine durch. 1:0 für Italien.
44. Minute, Meazza wird überhaupt nicht angegriffen, kann sich die Schussposition förmlich aussuchen. Strammer Schuss, Tor. 2:0 für Italien, kurz vor dem Halbzeitpfiff.
Die beiden Treffer wurden in der kleinen Trattoria mit großem Hallo gefeiert. „Italia, Italia“, klang es immer wieder. Pater Corello starrte Guido mit großen Augen an.
Die 20.000 Zuschauer im San-Siro-Stadion, die 40 Minuten lang kaum zu vernehmen waren und schon in Schockstarre zu verfallen schienen, feuerten nun ihre Nationalmannschaft frenetisch an. Nach dem Anpfiff zur zweiten Halbzeit spielte nur noch die Squadra Azzurra, die italienischen Fußball-Superstars in ihren blauen Trikots. Nick notierte …
47. Minute, Ferrari zum 3:0.
50. Minute, Meazza zum 4:0. Ein Kinderspiel. Die Griechen haben ihren Siegeswillen offensichtlich in der Kabine zurückgelassen.
90. Minute Abpfiff. Nach dem 4:0 keine weiteren wichtigen Szenen mehr. Was war das denn für ein Spiel?
Während sich die Zuschauer im Stadion bester Laune von ihren Sitzen erhoben, studierte Nick noch einmal seine Aufzeichnungen und stellte beim Überfliegen der Mannschaftsaufstellung fest, dass Italiens Fußballnationalmannschaft offensichtlich nicht nur in Bestbesetzung, sondern sogar international aufgelaufen war: Zwei Argentinier, Monti und Guaita, hatten für Italien gespielt, und der gebürtige Brasilianer Filó Guarisi hatte für die Squadra Azzurra sogar das erste Tor geschossen. Das war ein eindeutiger Regelverstoß. Wenn die Griechen clever waren, würden sie nach dem Spiel Protest einlegen und hätten die Partie auf dem Papier für sich entschieden. Gespannt packte er seine Sachen und stieg die Treppen hinab zum Presseraum, wo die Trainer der beiden Nationalmannschaften zur anberaumten Pressekonferenz nach dem Spiel erscheinen sollten. Auf seinem Weg, die Stufen hinunter, sah er, wie sich in einiger Entfernung zwei Männer stritten. Den Mann in dem edlen schwarzen Gehrock erkannte er sofort wieder. Das war Achille Starace, einer der beiden Männer aus dem Café, die am Tisch neben ihm gesessen hatten. Der Mann, mit dem er sich stritt, war einen Kopf kleiner, stand leicht gebückt da und trug eine Nickelbrille. Nick überlegte kurz. Richtig, das war der Mann, den er kurz zuvor auf der Ehrentribüne bei den Funktionären gesehen hatte. Nick ging weiter. Als er im Presseraum ankam, richtete Ottorino Barassi, der Generalsekretär des italienischen Fußballverbandes, gerade das Wort an die bereits anwesenden Journalisten. „Der Präsident des griechischen Fußballverbandes hat mir soeben mitgeteilt, dass Griechenland die Niederlage akzeptiert und angesichts des deutlichen Ergebnisses im Hinspiel auf das Rückspiel verzichten wird. Italien ist somit für die Fußballweltmeisterschaft automatisch qualifiziert.“ Die Nachricht wurde sofort auch über den staatlichen Radiosender verkündet.
Die Gäste in der kleinen Trattoria in Piagnolia jubelten. Lediglich zwei der Anwesenden blieben stumm. Guido stierte vor sich hin. Und Pater Corello beugte sich nachdenklich zu seinem Hund Benito hinunter und kraulte ihn am Kopf. Guidos Worte gingen ihm durch den Kopf: Italien wird dieses Spiel haushoch gewinnen, und das Rückspiel findet gar nicht erst statt.
„Was, im Namen des Herrn, war das da gerade, Benito?“, fragte er seinen Hund. „Eine göttliche Offenbarung? Bei einem Fußballspiel?“ Benito blieb seinem Herrchen eine Antwort schuldig, schloss genüsslich die Augen und wedelte mit dem Schwanz.