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Prolog

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Herbst 1995, San Francisco

Heiße dicke Tränen kullerten über seine Wangen und er ließ es widerstrebend geschehen, weil er allein war. Tagsüber hatte er sich inzwischen ganz gut im Griff, er war schließlich schon 14, und er hatte Papa versprochen, stark zu sein.

Abends, wenn er in seinem Zimmer des Pinewood-Hill-­Internats im Bett lag und nicht einschlafen konnte, sah das schon anders aus. Er bemühte sich zwar auch dann um Haltung, damit Chris nicht glauben sollte, er habe ein Weichei als Zimmergenossen, andererseits spürte er aber, dass es irgendwie auch guttat, die Enttäuschung und die Wut zuzulassen und nicht krampfhaft dagegen anzukämpfen.

Chris schlief sowieso immer schnell tief und fest ein, und selbst wenn er Sams Traurigkeit mitbekommen hätte, Chris war mehr als in Ordnung, er hätte es schon verstanden.

Seine Klassenkameraden nannten ihn Sam statt Samuel, da es sowieso in dem Alter immer schnell gehen muss, und gerade beim Sport kommen kurze knappe Ansagen einfach besser. Kickboxen, Football und Basketball waren die Gründe, warum er die Tage sogar genießen konnte.

Schon zu Hause in Wiesbaden hatte er sich gern ausgepowert, und zudem galt er als besonders talentiert. Vermutlich war das seiner Mutter zu verdanken, die vor seiner Geburt zur Weltspitze im modernen Fünfkampf gezählt hatte.

Die Begabung, Kraft, Ausdauer, Koordination und Konzentration auf den Punkt abzurufen, war ihm in die Wiege gelegt worden. Hinzu kamen eine rasche Auffassungsgabe und ein ausgeprägtes Gespür für die richtige Situation, die ihn schon in jungen Jahren als einen zukünftigen Spitzensportler auswiesen.

Mit Football hatte er bislang nichts am Hut, entdeckte aber auch hier schnell sein Interesse, wobei ihm die 1,84 Meter Körpergröße deutlich halfen. Die harten Trainingseinheiten des Kampfsportes sorgten dafür, dass er nicht so schlaksig und unbeholfen wie die meisten anderen Teenager durch die Welt stolperte. Nein, er hatte eine geschmeidige, hochkontrollierte Körperbeherrschung und war dadurch in seinem Jahrgang sowohl beim Basketball als auch beim Kickboxen eine absolute Granate.

Football machte ihm einfach Spaß, und es wäre bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis er auch hier das Topniveau, auf welcher Position auch immer, erreichen würde.

*

So richtig hatte er sich noch nicht daran gewöhnt, „Sam“ gerufen zu werden. Kein Wunder, denn Samuel war nicht sein ursprünglicher Name. Warum genau der Namenswechsel erforderlich war, hatte ihm sein Vater nicht verraten, aber er hatte begriffen, dass es sicherer sei, fortan nicht mehr Richard Bergmann, sondern Samuel Fisher zu heißen.

Konstantin Bergmann hatte gute Gründe, seinen Sohn in Sicherheit zu bringen. Er war Direktor beim Bundeskriminalamt und seit einigen Jahren für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität zuständig. Sein Haupttätigkeitsbereich bestand darin, die Strukturen der italienischen Mafia, die in vielen Ländern der Welt und auch in Deutschland agierte, zu zerschlagen. Diese Aufgabe nahm ihn mehr als er wollte in Anspruch, und so konnte er sich schon in den letzten Jahren nicht mehr so um seinen einzigen Sohn Richard, jetzt Samuel, kümmern, wie der es verdient hätte.

Er war ein prächtiger Junge mit unglaublichen Fähigkeiten, von denen der alleinerziehende Vater immer wieder fasziniert war. Den scharfen Verstand hatte der Junge wohl von ihm, die enorme Physis von seiner lieben, viel zu früh verstorbenen Mutter. Konstantin hatte Carola 1979 geheiratet, und alles schien perfekt zu laufen, bis ein schrecklicher Schicksalsschlag das Leben seiner Liebsten auslöschte und das seines Sohnes und sein eigenes total aus der Bahn warf.

Es geschah an Heiligabend 1981. Konstantin hatte endlich mal ein paar Tage frei und kümmerte sich um den knapp sieben Monate alten Richard und die Zubereitung der Weihnachtsgans, während Carola mit ihren Eltern und Schwiegereltern in der Christmesse war. Auf dem Heimweg, es waren nur wenige Kilometer von der Kirche zu fahren, nahm ihnen ein volltrunkener Kleinlasterfahrer die Vorfahrt. Er hatte schlicht das Rotlicht übersehen und erwischte den von Carola gesteuerten Toyota mit voller Wucht auf der Mitte der Kreuzung. Im zerstörten Toyota hatte niemand überlebt.

Bis 1995 ersetzte Konstantin, soweit es ihm möglich war, seinem inzwischen 14jährigen Sohn die Mutter und verbrachte so viel Zeit wie eben möglich mit ihm. Er merkte aber schon in den letzten Monaten, dass beide nun in eine weitere ernst zu nehmende Krise gerieten.

Genauer gesagt geriet Konstantin in eine Situation, die er kaum mehr kontrollieren konnte. Er hatte sich bei seinen Ermittlungen sehr weit aus dem Fenster gelehnt und war tief in die Organisation der Calzare-Familie vorgedrungen. Seine Verbissenheit und Gründlichkeit führten ihn schließlich zu dem Wirtschaftsjuristen Massimo Danieri, der über Jahrzehnte die Finanzgeschäfte des Clans gesteuert hatte.

Danieri wäre vielleicht nie ins Visier der Ermittlungen geraten, hätte er sich nicht komplett mit den Calzares überworfen. Sie hatten irgendwann den durchaus begründeten Verdacht, dass ihre Investitionen zwar erfolgreich verliefen, tendenziell aber noch ertragsstärker hätten ausfallen dürfen.

Dies ihrem Anwalt beweiskräftig vorzuhalten, übertraf zwar bei weitem ihre Verstandeskapazität, andererseits spielt dieser Faktor bei testosterongesteuerten Alphatieren und Berufsverbrechern nicht immer die entscheidende Rolle. Um Danieri zu disziplinieren, entführten sie zunächst seine Frau und verloren dann während der Verhandlungen so schnell die Nerven, dass sie sie viel zu früh töteten.

Diese Kurzschlusshandlung mag den Drahtzieher der Aktion – es war Francesco, der als vierter Sohn des Patrons seinen Vater auch mal von seinen Fähigkeiten überzeugen wollte – im ersten Moment befriedigt haben, tatsächlich war es für die Familie der Super-GAU schlechthin.

Als Cesare Calzare, das berüchtigte Familienoberhaupt, den Ernst der Lage begriff, war es bereits zu spät. Der unvermeidliche Niedergang des Clans war eingeläutet.

Massimo Danieri hatte, als er das geforderte Lebenszeichen seiner geliebten Sonia nicht geliefert bekam, verstanden. Er kannte die Familie zu gut, als dass man ihn mit einer wie auch immer erdachten Geschichte hätte versöhnen können. Die Calzares hatten ihm den Krieg erklärt. Sie sollten ihn bekommen.

Massimo Danieri rächte sich mit seinen Waffen und räumte die Konten seines ehemaligen Auftraggebers ab. Er kam zwar nicht an das Innerste des Imperiums heran, fügte der Organisation aber immerhin einen immensen Schaden zu. Natürlich war ihm bewusst, dass er den neu hinzugewonnenen Reichtum nie würde genießen können. Darum ging es ihm aber auch gar nicht mehr. Sein Gewinn war ihr Verlust, und der richtige Schlag sollte ja auch noch folgen.

Hierzu bediente sich Danieri eines deutschen Kriminalbeamten, dessen Arbeit er schon häufiger bewundernd zur Kenntnis genommen hatte. Ein gewisser Konstantin Bergmann hatte ein unglaubliches Aufspürtalent, das nicht nur den Calzares massive Probleme bereitet hatte. Mit einer Präzision, die sich im Milieu niemand erklären konnte, stach er intuitiv in die Wespennester diverser, teils befreundeter, teils konkurrierender Organisationen. Der Mann war immer gefährlich. Zum Glück konnte er allein aber nie allzu viel ausrichten.

Schließlich scheiterte er trotz seiner Akribie an der sehr großzügigen, täterfreundlichen deutschen Justiz im Dschungel der Beweisketten. Deutschland war dadurch nach wie vor ein hochinteressanter Aktionsraum für die Calzares. Vor allem gewaschenes Geld ließ sich hier prima investieren. Das Vertrauen der Calzares in die Stabilität der deutschen Wirtschaft war berechtigterweise enorm.

Danieri kontaktierte Bergmann mit dem Vorschlag eines Deals. Er war bereit, vollumfänglich auszupacken. Hauptköder waren fünf als unaufklärbar eingestufte Mordfälle im Milieu, die 1991 in Frankfurt am Main verübt worden waren. Abfallprodukte gab es aber auch in Form von Insiderwissen zu diversen internationalen Transaktionen in deutlich dreistelliger Millionenhöhe. Außerdem verfügte Danieri über Informationen zur Zusammenarbeit diverser Clans sowie über geopolitisch langfristig ausgeklügelte Strategieabsprachen.

Als Gegenleistung forderte Danieri die Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm, persönliche Straffreiheit und die Garantie, dass Bergmann sein persönlicher Verhandlungspartner werden und bleiben müsse.

Bergmann hatte schon beim ersten Happen der ihm zugeleiteten Danieri-Informationen erkannt, dass dieser Fall alles in den Schatten stellen würde, was er jemals ausgegraben hatte. Selbst wenn er nicht Einblick in alle Operationen des Bundeskriminalamtes hatte, war er überzeugt, dass hier einer der dicksten Fische aller Zeiten angebissen hatte … und das, obwohl er nicht einmal geködert worden war.

Für Konstantin Bergmann stand fest, dass man mit Danieri nicht lange verhandeln oder zögern sollte. Das Eisen musste geschmiedet werden, so lange es heiß war, und oft genug hatte er erleben müssen, dass Schockgefrierfrost den Ermittlern ins Handwerk pfuschte. Hier war die Devise Schnelligkeit vor Gründlichkeit angebracht. Als oberste Priorität stufte er die Sicherheit von Danieri ein, und damit bloß nichts schieflief, kümmerte Bergmann sich selbst bis ins letzte Detail um die Angelegenheit.

Danieri war seinerseits überrascht und zugleich begeistert, mit welcher Energie der deutsche Beamte die Dinge in die Hand nahm und für ihn regelte. In kürzester Zeit wurde eine Legende für Danieri im Zeugenschutzprogramm konstruiert.

Danieri hieß nun Max Keller und war für den Rest der Welt ein zurückgezogen lebender Einzelgänger, der sich nach erfolgreicher Businesskarriere in die Ruhe und Stille des Mecklenburger Landes begab.

Danieri verstand zwar alles, was in deutscher Sprache gesagt wurde, sein aktiver Wortschatz war allerdings so gering, dass man sich entschieden hatte, ihn als „stumm“ zu präsentieren. Der Mitte 60jährige musste sich einen Gehilfen engagieren, der für ihn die täglichen Dinge des Lebens zu regeln hatte. Für die einheimische Bevölkerung war er schnell der Butler „James“, obwohl er sich auf dem Amt als Johannes Kriener angemeldet hatte. Johannes Kriener alias James alias Konstantin Bergmann war Chauffeur, Gärtner, Einkäufer, Begleiter, Sprachrohr, einfach der Kontakt zur Außenwelt.

Auch wenn sie aus unterschiedlichen Welten kamen und sich eigentlich bekämpfen müssten, spürten Danieri und Bergmann schon bei ihrer ersten Begegnung, dass sie gut zusammenarbeiten würden. Vielleicht würde sich sogar eine Freundschaft oder etwas Ähnliches, was unter den Rahmenbedingungen eben möglich wäre, entwickeln. Mecklenburg-Vorpommern wurde gewählt, da Fremde hier schnell auffallen würden, der Schutz von Danieri schien machbar. Problematisch war allerdings, dass Konstantin Bergmann seinen Sohn nicht würde mitnehmen können.

Danieri bemerkte, dass sein Schutzengel von quälenden Gedanken befallen war, die ihn daran hinderten, den so gut ausgeklügelten Plan konsequent in die Tat umzusetzen. Er vermutete, dass Bergmann ein vielleicht zu großes persönliches Opfer für die Sicherheit eines Mafiaanwaltes wie ihn aufbringen müsste, andererseits hatte er massive Ängste und traute momentan nur Bergmann zu, sein Leben effektiv zu schützen. Um Bergmann zu überzeugen, sich auf Mecklenburg-Vorpommern einzulassen, sprach er offen seinen Verdacht an, Bergmann könne sich vielleicht nicht vorstellen, so lange von seiner Familie getrennt zu leben.

Klar, Bergmann war ein attraktiver Mann im besten Alter von 42 Jahren, mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte er eine Familie. Das Eis war gebrochen, Danieri hatte ins Schwarze getroffen. Der noch junge Abend wurde zu einer langen Nacht und schweißte die beiden durch das Schicksal zusammengeführten Männer zu einer Notgemeinschaft, die sich rasch als extrem zielstrebig erwies.

Da der verwitwete Bergmann nie wieder geheiratet hatte, war lediglich Richards Zukunft zu planen. Danieri hatte Bergmann finanzielle Unterstützung angeboten und dies verbalakrobatisch so vorsichtig wie eben möglich eingeleitet. Ihm war natürlich bewusst, dass Bergmann jede Art von Korruption niemals akzeptieren würde.

So kam es also darauf an, ihm das „Privatstipendium“ für Richards Ausbildung aus Sicherheitsbedenken schmackhaft zu machen. Die klug vorgetragene Sorge um Richards Sicherheit war natürlich ein raffinierter Schachzug des Italieners. Tatsächlich konnte keiner der beiden Verbündeten zu diesem Zeitpunkt einschätzen, ob Richard überhaupt in den vermuteten Rachefeldzug der Calzares verwickelt werden würde.

Aber allein der Gedanke, nach Carola und den Eltern erneut in die Situation zu geraten, den engsten Familienkreis nicht beschützen zu können, zog Konstantin immer mehr in den gespürten Abgrund, Danieris Angebot anzunehmen. Mangels Zeit und Alternativen gab Konstantin am Ende der Nacht auf. Er war mit Massimo, wie er ihn nach dem Abend nannte, eine Verbindung eingegangen, die sein Leben für immer verändern sollte. Und Richards Leben, der sich nun Samuel nannte, gleich mit.

So lag Samuel also mit wilden Gedankengängen in seinem Internatsbett und versuchte sich einzureden, dass Papa bestimmt keine andere Wahl gehabt hätte. Die Details, warum er nach San Francisco musste, würde er vielleicht nie erfahren. Im tiefsten Innern war ihm aber bewusst, dass Papa, der sich so gut in all den Jahren um ihn gekümmert hatte, ihn nicht grundlos weggeschickt haben konnte.

Was immer Papa dazu getrieben haben konnte, Samuels Pläne sahen bis vor einigen Wochen noch ganz anders aus. Die 15jährige Patrizia aus seiner Klasse hatte endlich angebissen und war mit ihm ausgegangen. Na ja, sie hatten sich zumindest in der Stadt getroffen, hatten sich ein Eis, das er ihr spendiert hatte, schmecken lassen und waren anschließend noch im Park spazieren gegangen.

Als sie ihm zum Abschied einen flüchtigen Kuss als Dankeschön für das Eis auf die Wange gab, war es voll und ganz um ihn geschehen. Er wusste, dass mehrere Jungs aus seiner Schule scharf auf Patrizia waren. Einige kannte er vom Sport, und zwei seiner etwaigen Konkurrenten, die sogar schon 16 und zwei Klassen über ihm waren, dazu auch schon einen Motorroller fuhren, hatte er besonders auf der Rechnung.

Nun hatte sich die schon gut gebaute, mehr als hinreißende Patrizia tatsächlich mit ihm getroffen … und zwei Wochen später musste er ihr gestehen, dass er nach Amerika gehen würde.

Mann, war das ein Nachmittag. Die Koffer waren schon für den nächsten Tag gepackt, als er sich mit ihr im Park traf und nun schon mit Zungenkuss begrüßt wurde. Schnell hatte sie gespürt, dass ihm etwas gewaltig Bedrückendes auf dem Herzen liegen musste und so ließ er unter heftigen Schluchzern die Katze aus dem Sack.

Seine Liebeserklärung und die unmittelbar anschließende Hiobsbotschaft von Amerika brachten die sonst so selbstsicher wirkende Patrizia vollkommen aus dem Gleichgewicht. Zunächst war sie verstört und irritiert, dann wütend und aggressiv, schließlich endlos traurig. Als er ihr dann noch erklären musste, dass er nicht nur für ein Jahr weg sein würde, brach für sie und für ihn eine Welt zusammen.

Ihre Fantasien, sie könne doch ihre Eltern überzeugen, Richard in der Familie aufzunehmen, wenn sein Vater wegziehen müsse, trafen ihn ins Herz. Er hatte das Gefühl, die Liebe seines Lebens gefunden zu haben, endlich mal richtig vom Glück verwöhnt worden zu sein, und doch schlug das Schicksal unbarmherzig zu. Die beiden mussten sich an dem Abend trennen, ohne zu wissen, ob sie sich jemals wiedersehen würden. Was für ein Opfer! Zu was für einem Zweck?

Kalifornien hatte natürlich auch sehr schöne Mädchen zu bieten, aber die Wunden waren noch frisch und weit davon entfernt zu verheilen. Wie sollte er Patrizia auch erklären, warum das alles sein musste, er verstand es ja selbst nicht. Um die Legende von Samuel Fisher wasserdicht zu gestalten, hatte sein Vater veranlasst, dass er bei einer älteren Frau, Nancy Fisher, in Oakland wohnen würde. Die genauen Hintergründe, warum die Wahl gerade auf Nancy fiel, konnte Samuel zwar nicht nachvollziehen, immerhin erwies sich sehr bald, dass Papa wenigstens hierbei ein glückliches Händchen hatte.

Nancy Fisher war schon 64 Jahre alt und stolz, noch einige Tropfen Indianerblut in sich zu haben. Ihre Urgroßmutter war die Tochter eines Chumash-Häuptlings, eines Indianerstammes aus der Gegend um Santa Barbara. Sie hatte einen deutschstämmigen Siedler geheiratet, und in der Familientradition wurde die deutsche Sprache gepflegt. Nancys Vater war College-Lehrer für deutsche Sprache und Geschichte und später, während des 2. Weltkriegs, sogar als amerikanischer Agent auf deutschem Boden tätig. Nancy selbst sprach immerhin so passabel deutsch, dass sie als vereidigte Dolmetscherin für den kalifornischen Staat und die polizeilichen Ermittlungsbehörden arbeitete.

Seit drei Jahren litt sie allerdings unter einer so rasch fortschreitenden Verschlechterung ihrer Sehfähigkeit, dass sie vorzeitig ihre Arbeit aufgeben musste. So hatte sie Zeit, sich um ihren Enkelsohn Chris Fisher zu kümmern.

Chris’ Mutter hatte sich vor sechs Jahren aus Verzweiflung von einer Brücke gestürzt, als Chris’ Vater, Nancys Sohn, bei einem Unfall auf einer Bohrplattform ums Leben gekommen war. So wuchs Chris also bei seiner Großmutter auf. Beide hatten ein für Samuel sofort spürbares inniges Verhältnis zueinander, das von einer gemeinsamen Begeisterung für Spiritualität getragen war. Ohne sich mit Worten auszutauschen, konnten die beiden über Blicke Gedanken teilen und sich verständigen.

Für Samuel war das alles vollkommen neu, hochinteressant und manchmal auch bedrohlich. Obwohl Samuel nicht so ganz klar war, warum, schien er den beiden in ihrer Zweisamkeit hochwillkommen.

Ihnen hätte er doch eigentlich dankbar sein müssen, dass sie bereit waren, ihn aufzunehmen. Tatsächlich zeigten sich Nancy und Chris ihrerseits stets hilfsbereit, freundlich und dankbar. Sie machten ihm das Leben unter den besonderen Umständen annehmbar und erträglich.

Chris und er gingen im neuen Schuljahr sogar gemeinsam auf dieselbe Schule. Chris war schon 15, Samuel konnte aufgrund seiner ausgezeichneten Noten in Deutschland die dritte Klasse überspringen, sodass beide als Freshmen zum Elite-Internat Pine­wood-Hill-Highschool in San Francisco wechselten.

Für Samuel war das schon ein gewaltiger Schritt. Fremde Umgebung, unglaublich großzügige Schulanlagen, hervorragende Lehrer und ausgezeichnete Sportmöglichkeiten. Alles in allem ein Traum von Schule.

Chris war zuvor auf einer einfachen Middleschool in Oakland und erlebte nun, in welchen Dimensionen die Reichen und Schönen dieser Welt ihr Leben gestalten konnten. Der Prunk und Reichtum dieser bislang für ihn verschlossenen Welt verschlug ihm glatt den Atem.

Ohne weiter zu fragen, was sie eigentlich beide auf solch einer Elite-Anstalt verloren hatten und wer für die sicherlich enormen Gebühren aufkommen würde, lernten sie schnell, die tollen Angebote zu nutzen und zu schätzen. Die Woche über blieben sie im Internatsbereich der Schule, am Wochenende fuhren sie zu Nancy nach Oakland.

Rich Sam – Fassadenpoker

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