Читать книгу Rich Sam – Fassadenpoker - Matthias Wendtland - Страница 7
1
ОглавлениеPamplona, Freitag, 01.06.2012
„So sieht man sich also wieder, nett hier.“
Mit einem bezaubernden Lächeln stand sie plötzlich vor ihm und blickte keck auf ihn herab. Wie aus einem Traum gerissen, erschrak Samuel leicht, schaute etwas verlegen, nach Worten suchend, in ihre dunklen Augen und antwortete gerade noch rechtzeitig: „Eh, Nicole, nicht wahr?“
„Fast. Nicola“, erwiderte sie freundlich.
„Aber wir haben uns ja eben auch nur ganz kurz gesehen.“
Eben, das war vor etwa zwei Stunden. Samuel war bereits auf dem Sprung, die Casa Paderborn, die von Deutschen geführte Pilgerherberge in Pamplona, für einen Stadtspaziergang zu verlassen, als Nicola das Vierbettzimmer betrat und erkennbar erschöpft aber zufrieden verkündete, sie werde in dem Etagenbett über Samuel nächtigen. Sie hatten noch ein paar belanglose Worte gewechselt, sich gegenseitig vorgestellt und zum heutigen Tagespensum ihrer Pilgerschaft beglückwünscht, als Samuel erklärte, er werde nun die Sehenswürdigkeiten der Stadt erkunden.
Nicola musste hingegen erst mal ankommen, duschen und ausruhen. „Bis später“ war der von beiden geäußerte vorläufige Abschluss des ersten Zusammentreffens.
Samuel war bemüht, die 20-30 Kilometer-Tagesetappen auf dem Jakobsweg früh zu beginnen, um nicht zu spät ans jeweilige Ziel zu gelangen. Im Gegensatz zu vielen anderen Jakobswegpilgern ging es ihm nicht darum, sich einen der begehrten Schlafplätze zeitnah zu sichern, er hätte immer etwas gefunden. Gerade die größeren Städte, wie zum Beispiel Pamplona, hatten aber so schöne alte Gebäude und Plätze, dass er es genoss, in die landestypische Atmosphäre einzutauchen.
Unter den Markisen des Cafés Iruña an der Plaza del Castillo, einem früheren Lieblingsort des Pamplona-Liebhabers Ernest Hemingway, hatte er es sich gerade bequem gemacht, einen café con leche grande bestellt und war, während er auf diesen wartete, noch einmal in Gedanken die bisherigen drei Tagesetappen von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Pamplona durchgegangen, als er von Nicola so unvermittelt angesprochen worden war.
„Ja, unsere Begegnung in der Casa Paderborn war in der Tat recht kurz“, knüpfte Samuel an das begonnene Gespräch an. Mit einer einladenden offenen Handgeste wies er auf einen freien Stuhl an seinem Tisch: „Darf ich Ihnen einen Kaffee bestellen? Ich bin auch gerade erst hier angekommen.“
„Sehr gerne, aber unter uns Pilgern verzichten wir doch auf das Sie, oder?“
„Unbedingt!“
Mit einem Strahlen in den Augen registrierte Samuel, dass die ohnehin schon überwältigende Atmosphäre Pamplonas, das angenehme Klima, die mit dem Tageswerk verbundene Zufriedenheit und das Gefühl, mit sich ganz und gar im Einklang zu sein, eine weitere Steigerung erfahren hatte.
Der wundervolle Tag versprach noch besser zu werden. Als er das Zimmer verlassen hatte, war ihm die Schönheit seiner neuen Pilgerbekanntschaft zwar aufgefallen, verschwitzt und erschöpft wie sie war, hatte er aber die Gedanken mehr bei der verlockenden Stadt. Nun fragte er sich, wie ihm das passieren konnte.
Frisch geduscht, in ein leichtes, ihrer weiblichen Figur schmeichelndes Sommerkleid gehüllt, wirkte sie nahezu vollkommen. Es hieß ja schon, dass sich Gott oder allgemeiner gesprochen die Spiritualität mitunter auf dem Jakobsweg – in welcher Form auch immer – offenbaren würde. Dass dies so schnell und so überzeugend in der Person von Nicola geschah, Respekt! Die Wege des Herrn sind unergründlich, es wäre definitiv ein Fehler, sein Handeln oder das Schicksal in diesem Fall in Frage zu stellen.
„Ich habe dich schon in Saint-Jean-Pied-de-Port im Pilgerbüro gesehen“, führte sie das Gespräch fort.
„Du warst da sehr vertieft in deinen Reiseführer. Hast du dann auch am nächsten Tag den ganzen Weg nach Roncesvalles genommen? Das war ja ne ganz schön harte Etappe für den Anfang.“
„Ja, das kann man wohl sagen. Aber wenn man bedenkt, wie viele alte oder zumindest deutlich ältere Pilger die Etappe auch schaffen“, er führte den Gedanken nicht weiter fort.
„Also, bislang bin ich eher wenig gewandert und es gibt ja auch Tipps, dass man die Etappe vielleicht teilen und am ersten Nachmittag schon mal sechs Kilometer bergauf hinter sich bringen sollte, aber irgendwie habe ich gehofft, dass es schon klappen wird.“
Samuel wollte nicht gleich am Anfang zu prahlerisch wirken. Tatsächlich befand er sich in einem ausgezeichneten Trainingszustand. Aus der Sportkarriere war zwar nichts geworden, aber das hatte nichts mit seiner Fitness zu tun. Mit inzwischen 1,94 Metern und einem absolut austrainierten Körper stellte er so manchen Profisportler in den Schatten. War er Nicola wohl wegen seiner imposanten Erscheinung in Saint-Jean-Pied-de-Port aufgefallen?
„Und wie sieht deine weitere Planung für den Jakobsweg aus?“ erkundigte sich Nicola, als der Kellner kam, um auch die Bestellung für ihren Kaffee aufzunehmen.
„Mal sehen“, war die lapidare Antwort nach einer kurzen Bedenkpause.
„Ich möchte schon bis Santiago kommen, habe aber keinen festen Zeitplan oder so. Es ist für mich eine ganz neue Erfahrung, auf konkrete Ziele zu verzichten und dafür offener für neue Erlebnisse, Eindrücke und Begegnungen zu werden. Ich hoffe, mich vielleicht besser kennenzulernen und zu entscheiden, wie es im Leben weitergehen soll.“
„Mhm, so ähnlich geht’s mir auch“, entgegnete Nicola.
Beide schauten sich tief in die Augen und wägten die Bedeutung der vagen, aber tiefsinnigen Worte ab, ohne weitere Erläuterungen folgen zu lassen. Die momentane Zufriedenheit, die Erschöpfung vom Tag und das Gefühl, einen Gesprächspartner oder Pilgergefährten gefunden zu haben, der auch ohne Worte einen Ausdruck von Wärme und Verständnis vermitteln konnte, war für beide ein unerklärliches, aber enorm befriedigendes Erlebnis.
Die beiden cafés con leche wurden gebracht und rissen beide aus ihrem traumähnlichen Zustand.
„Muchas gracias, señor” fand Samuel zurück ins reale Leben. „Seit eben habe ich das Gefühl, dass sich meine Reise schon gelohnt hat. Ist es nicht faszinierend, wie wir uns im letzten Augenblick mit nichts als Augenblick unterhalten haben?“
Sein aufforderndes, freundliches und gleichsam provozierendes Lächeln entwaffnete Nicola. Unsicher, wie sie darauf reagieren sollte, brachte sie zunächst nur ein Nicken zustande, um dann aber noch schnell ein „Danke“ hinterher zu schieben.
„Danke für den Kaffee und erst recht für deine Gesellschaft. Ich spüre, dass du mir gut tust.“
„Oh Gott“, sprach sie nun mehr zu sich selbst. „Habe ich das wirklich gerade so gesagt? Was wird er jetzt wohl von mir denken?“ Zu Nicolas Verwunderung wirkte Samuel keinesfalls irritiert oder verunsichert und gab das soeben vorgebrachte Lob, das Nicola zu ihrer eigenen Überraschung so schnell, aber auch intuitiv unüberlegt, herausgebracht hatte, mit verblüffender Souveränität zurück.
„Sehr, sehr gern … und danke für deine spontane Ehrlichkeit. Mir geht es genauso mit dir und ich finde es umwerfend, dass wir das so schnell über die Lippen gebracht haben. Meistens taktiert man beim Kennenlernen und wartet ab, wie sich die Dinge entwickeln. Schon manchmal hatte ich das Gefühl, dass aus Unsicherheit und Scheu Chancen auf Freundschaften oder gute Beziehungen verpasst wurden. Konventionen und vermeintlich gebotene Distanz haben bestimmt schon viel Glück verhindert, und genau genommen ist das Leben zu kurz, um sich auf Menschen einzulassen, die einem ohnehin nicht liegen und mit denen man es, aus welchen Gründen oder Zwängen auch immer, ständig zu tun bekommt.
Wie erlösend ist es da, wenn jemand wie du den Mut aufbringt, das Eis schnell zu brechen und so direkt sagt, dass die erlebte Gemeinschaft angenehm ist. Eine unglaubliche Wohltat! Ist es nicht geradezu tragisch, auf wie viel mögliche Lebensqualität wir aus falsch verstandenem Anstand und aus übergroßer Vorsicht verzichten?“
Nach einer längeren, bewusst eindringliche Blicke zulassenden Pause, führte Nicola den Gedankengang fort: „Vertrauen ist wohl der Schlüssel dazu, und das muss man zu sich selbst und zu dem anderen haben. Du überraschst mich, weil ich im Moment eigentlich in einer Lebensphase bin, wo mir beides verloren gegangen erschien. Mein Selbstvertrauen ist aus dem Tritt gekommen und andere Menschen verunsichern mich in letzter Zeit. Wie durch ein Wunder hat das aber bei dir gar keine Rolle gespielt. Ja, der Weg hat sich für mich auch schon gelohnt.“
Wieder entstand eine lange Pause, in der beide die soeben geäußerten Botschaften auf sich wirken ließen.
„Ich bin sehr gespannt, mehr davon zu erfahren, denn Vertrauen ist auch eins meiner großen Lebensthemen. Weil der Weg aber noch lang ist, schlage ich vor, dass wir das vielleicht auf morgen verschieben. Ich habe schon mal das Streckenprofil gecheckt, und wie du sicher auch schon weißt, haben wir morgen eine sehr interessante Tagesetappe vor uns. Es geht erst mal aus Pamplona raus und dann stetig bergauf zum Alto del Perdón. Danach kommt ein längerer Abstieg nach Puente la Reina, und ich fände es aufregend, wenn wir analog zum Streckenprofil einen anstrengenden und anschließend erlösenden Weg zum gemeinsamen Austausch fänden. Jetzt habe ich nämlich erst mal Hunger, und beim chiquiteo ist es vermutlich zu laut für intensivere Gespräche. Was hältst du davon?“
„Chiquiteo?“
„Ja, das Abendessen. Die Leute essen hier nicht so riesige Portionen in einer einzigen Bar, sondern genießen hier und dort ein paar Kleinigkeiten, die sie ‚pinchos‘ nennen. Ausgesprochen leckere und toll fürs Auge zubereitete Häppchen. Weil wir ja schon wegen der Bettruhe wieder früh in die Casa Paderborn zurück müssen, sollten wir mit dem Essen langsam starten.“
„Stimmt, irgendwo habe ich schon mal davon gehört. Diesmal lade ich dich aber ein“, strahlte Nicola, während Samuel die Kaffees bezahlte.
Samuel hatte nicht zu viel versprochen. Die Bars waren zwar gegen 19.30 Uhr noch nicht so gut besucht wie am späteren Abend, die Tagesuhr der Pilger tickte aber nach einem anderen Rhythmus. In der Regel schlossen die Pilgerherbergen gegen 22.00 Uhr, und dann war auch allgemeine Bettruhe angesagt. Wegen der Mittagshitze war es empfehlenswert, den Tag dafür früh zu beginnen. So hatte man sein Tagespensum oft schon am frühen Nachmittag hinter sich gebracht.
Wie bei allen Südländern geht es aber auch in halb gefüllten Lokalen immer laut zu. Temperamentvoll wie die Basken, die den Nordosten Spaniens und Teile Südfrankreichs bevölkern, sind, unterstreicht die gehobene Lautstärke die Bedeutung der Erzählung, und so war Samuels Vorschlag, die tiefsinnigere Unterhaltung auf den morgigen Tag zu verlegen, Gold wert.
Immerhin erfuhren sie voneinander, dass Samuel in Deutschland aufgewachsen und mit 14 Jahren nach Amerika gegangen war, da er viel zu früh seine Eltern verloren hatte. Dort wurde er von einer amerikanischen Frau adoptiert, die sogar auf komplizierte Weise mit ihm um Ecken verwandt war. Zusammen mit ihm zog sie ihren einzigen Enkelsohn Chris auf.
Samuel lebte zur Hälfte in Kalifornien und zur anderen Hälfte in Deutschland. Er hatte Wirtschaftspsychologie in Stanford studiert und war offenbar ein recht erfolgreicher Geschäftsmann, wobei Nicola nicht so ganz verstand, wie seine tägliche Arbeit tatsächlich aussah.
Nicola wurde im April 1985 geboren, wuchs in Neuss am Rhein auf und hatte nach dem Abitur eine Inspektorenausbildung bei der Stadt Düsseldorf aufgenommen. Im dualen Fachhochschulstudium empfahl sie sich in den praktischen Ausbildungsanteilen schon frühzeitig für die Abteilung des Ausländeramtes, da sie neben Englisch, Französisch und Spanisch auch passable Türkischkenntnisse vorweisen konnte. Spanisch hatte sie in der Oberstufe als dritte Fremdsprache gewählt, türkisch konnte sie deshalb recht gut, weil ihre 12 Jahre ältere Schwester Isabel für das Goethe-Institut in Istanbul arbeitete und Nicola die Ferien häufig nutzte, sie dort zu besuchen. Ihre Eltern lebten noch immer in Neuss und waren mit ihren knapp 70 Jahren rüstige Rentner.
Rundum gesättigt von appetitlich aussehenden und unsagbar leckeren kulinarischen Feinköstlichkeiten sowie angeheitert vom Feuer des spanischen Rioja machten sich beide gut gelaunt auf den Weg in ihr gemeinsames Nachtlager. Die sich ankündigende Schwere der Lebenszwischenbilanz war zunächst auf zauberhafte Weise verschwunden und schien beide nicht weiter zu bekümmern.
Amüsiert über die von wem auch immer ins Spiel gebrachten Andeutungen, wer gleich im Bett welche Rolle zu übernehmen habe, fügte sich Samuel in den devoten Part des Untenliegenden. Mit gespielter Resignation wünschte er Nicola beim Erklimmen der oberen Etage des gemeinsamen Bettes eine gute Nacht und war vollkommen selig, als sie ihm einen flüchtigen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange gab.
„Danke für einen wunderbaren Abend“, flüsterte sie leise, um nicht die beiden Pilgergefährten aus Irland und Norwegen zu stören, die sich bereits im Nachbarbett zur Ruhe begeben hatten.
*
„Was für ein Tag“, schoss es Samuel durch den Kopf. Die nötige Bettschwere hatte er zwar, aber an ein baldiges Einschlafen war bei so viel Glück nicht zu denken.
Unwillkürlich kreisten seine Gedanken und landeten im Wiesbadener Park von 1995. Patrizia, ja, sie war die erste und bislang letzte Liebe, die ihn dermaßen im Sturm erobert hatte. Es gab nach ihr schon einige andere, mit denen er für Wochen oder Monate zusammen war, aber so richtig gefunkt hatte es bislang nie wieder, und so war Samuel trotz großen Interesses der Damenwelt noch nicht unter der Haube.
Patrizia, wie es ihr wohl jetzt erging? Noch monatelang hatte er sich nach ihr gesehnt, wohl wissend, dass es keine gemeinsame Zukunft geben konnte. Zunächst hatte er noch die Hoffnung gehabt, sein Vater könnte die Entscheidung mit Amerika rückgängig machen. Kaum dass er in Kalifornien angekommen war, musste er jedoch einsehen, dass die Dinge noch dramatischer lagen, als er ohnehin schon geglaubt hatte.
In der Schule wussten alle nur, dass er nach Amerika gehen würde, den genauen Zielort kannte er ja selbst noch nicht. Bevor er sich mit Briefen oder Lebenszeichen würde verraten können, hatte ihn sein Vater, der ihn nach Oakland begleitet und dort mit ihm zunächst in ein Hotel gezogen war, zu einem ernsten Männergespräch gebeten, das zwar nicht im Wortlaut, jedoch vom Ablauf in Richards Gedächtnis gebrannt blieb.
„Rich“, so nannte ihn sein Vater, „es tut mir so leid, dass ich dich in diese Situation gebracht habe. Bitte, bitte vertrau mir, dass es keinen anderen Weg gab und verzeih mir, wenn nicht jetzt, dann irgendwann …“, Papas Stimme wurde brüchig und Tränen liefen über sein Gesicht.
Nie zuvor hatte Richard seinen Vater weinen gesehen, und Richard erfasste unmittelbar und in aller Deutlichkeit, dass Papa unter einem immensen, unvorstellbar hohen Druck stehen musste.
„Rich, wir beide sind sehr wahrscheinlich in großer Gefahr. Ich habe einen Auftrag übernommen und muss mich um die Sicherheit eines Mannes kümmern, der für viele mächtige Leute einer großen Verbrecherbande eine enorme Existenzbedrohung darstellt. Glaub mir, ich habe mir mein Hirn zermartert, wie es anders gehen könnte“, erneut rang er mit seinen Worten, „aber ich glaube, dass es keinen anderen Ausweg gibt. Ich werde deine alte Schule benachrichtigen, dass du bei einem Kletterausflug in den Appalachen abgestürzt und ums Leben gekommen bist.“
Richard konnte die letzten Worte nicht fassen. „Ums Leben gekommen, ich …“, stammelte er nur nach. „Warum Papa, warum?“
„Ich mache mir große Sorgen, dass unsere Gegner alles daran setzen werden, einen drohenden Prozess zu verhindern. Sie werden uns jagen und töten wollen, es ist viel schlimmer als alles andere, was ich je erlebt habe. Jeder noch so kleine Schwachpunkt bietet ihnen eine Angriffsfläche, und ich weiß nicht, wie lange wir untertauchen müssen. Gemeinsam geht das leider nicht, weil wir davon ausgehen müssen, unseren Aufenthaltsort häufiger zu wechseln.
Wir kriegen das mit einer Schule für dich einfach nicht geregelt. Ich habe einen sehr guten Freund in Amerika, den du bald kennenlernen wirst. Du kannst ihm voll und ganz vertrauen. Er hat auch schon eine Familie, also genauer gesagt eine ältere Frau mit ihrem Enkelsohn für dich gefunden. Sie werden dich aufnehmen und gut behandeln.
Der Junge, er heißt Chris, ist nur etwas älter als du und du wirst ihn bestimmt mögen. Ihr werdet zusammen auf ein Internat in San Francisco gehen, wo ihr die Woche über leben und lernen werdet, am Wochenende seid ihr dann hier in Oakland bei seiner Großmutter. Wir werden noch die nötigen Sicherheitsvorkehrungen treffen, dass man dich hier nicht findet. Um ganz sicher zu gehen, müssen wir dich offiziell sterben lassen. Es wird dann schwierig, deine Spur wieder aufzunehmen. Du bekommst einen neuen Namen, eine komplett neue Identität. Ich werde, so gut ich kann, aus der Ferne auf dich Acht geben, weiß aber nicht, wie oft wir uns sehen können. Kannst du mir folgen?“
„Ich verstehe deine Worte, ich weiß, was du von mir erwartest, aber warum kann ich nicht wenigstens meinen Freunden schreiben, wo ich bin? Es gibt, … es gibt da ein Mädchen, ich, ich habe ihr versprochen, mich zu melden, verstehst du?“
Jetzt musste auch Richard weinen, ein verzweifeltes Schluchzen, das Konstantin Bergmann ins Herz traf.
„Oh, Rich! Es tut mir so leid. Du kannst ihr nicht schreiben, Rich ist tot!“
Nach einer wie ewig erscheinenden Pause fuhr er fort: „Aber du lebst. Du wirst ein vollkommen neues Leben beginnen und wirst Chancen bekommen, die du in Wiesbaden nie gehabt hättest. Wir haben eine Schule für Chris und dich ausgesucht, die zu den besten von ganz Amerika gehört.
Du kannst trainieren, wirst neue Freunde finden und ich bete, dass du glücklich wirst. Hoffentlich ist das nur eine Zwischenetappe unseres Lebens und wir kommen wieder dauerhaft, wo auch immer auf dieser Welt, zusammen.“
Die langsam vorgetragenen Worte trafen Richard wie Messerstiche.
„Aber ehrlich gesagt, ich kann es dir nicht versprechen. Den Kontakt werden wir über meinen Freund, Vincent Palmer halten. Wie gesagt, du wirst ihn bald kennenlernen. Er ist schon etwas älter und hat früher beim FBI gearbeitet. Wir haben ein paar Fälle gemeinsam gelöst, und einmal habe ich ihm mächtig aus der Patsche geholfen. Nicht nur deshalb, aber auch wegen dieser Sache, hat er sich mächtig ins Zeug gelegt, uns zu helfen.
Er hat inzwischen eine große Sicherheitsfirma in Frisco, die eng mit dem FBI und der CIA zusammenarbeitet. Mein Zeuge, der Mann, mit dem ich untertauchen muss, hat auch viele Informationen, die für die Amis von großem Interesse sind. Dadurch haben wir die bestmögliche Unterstützung, die man sich nur vorstellen kann. Vince verwaltet ein Treuhandkonto, das auf deinen Namen läuft. Also auf deinen neuen Namen.
Du heißt ab jetzt Samuel Fisher. Deine neue Oma ist Nancy Fisher, sie wird dich der Form halber adoptieren. Dafür sorgen wir für ihren Enkelsohn Chris. Beide sind nicht besonders vermögend, werden aber nun einen schönen Sprung nach oben machen. Chris kann mit auf das Internat, Mrs. Fisher bekommt ein eigenes Haus in Oakland und kann sich am Wochenende und in den Ferien voll und ganz um euch kümmern.
Außerdem liefert sie dir eine Top-Legende. Die Fisher-Familie hatte früher einen deutschen Zweig, aus dessen Linie du abstammst. Wie schon bei Chris, dessen Eltern bereits gestorben sind, wird Nancy auch für ihren deutschen Verwandten sorgen, der nach dem Tod seiner Eltern nun nach Amerika gezogen ist. Na ja, die Details können wir immer noch besprechen, im Grunde genommen musst du jetzt erst mal nicht viel mehr wissen.“
„Und wie geht es jetzt genau weiter? Wann musst du weg? Wann sehen wir uns wieder? Kommst du nach Oakland oder treffen wir uns woanders? Was …“
Konstantin Bergmann unterbrach seinen Sohn: „Ich verstehe, dass du viele Fragen hast, ich möchte sie auch gern alle beantworten. Aber es gibt noch so viele ungelöste Probleme, ich weiß einfach selbst noch nicht, was wird. Ich habe dich unendlich lieb und ich hasse mich und meine Arbeit dafür, was ich dir hier antue.
Tatsächlich werde ich nicht mehr für das BKA arbeiten, wir können einfach nicht sicher sein, ob es da nicht einen Maulwurf oder eine undichte Stelle gibt. Das einzig Gute ist, dass wir, also in erster Linie mein Zeuge, inzwischen aber auch ich, über eine riesige Menge an Geld verfügen, Unterstützung vom BKA, Interpol, FBI, CIA und so weiter haben und über ideale Bedingungen verfügen, dass unser Plan, die Verbrecher zu schnappen und zu verurteilen, sehr gute Chancen hat und aufgehen könnte.
Wann das sein wird und ob wir danach sicher sind, ich kann es dir beim besten Willen nicht sagen. Ich weiß es einfach nicht. Morgen werde ich wieder abreisen müssen und du wirst Vince treffen. Er bringt dich dann zu Nancy und Chris Fisher. Da die Schule erst in ein paar Wochen beginnt, habt ihr genug Zeit, euch anzufreunden.“
Ein basslastiges, schnappartiges Schnarchgeräusch des Norwegers aus dem Nachbarbett riss Samuel aus seinen Erinnerungen. Ja, das Schnarchen war in der Tat ein Problem in den Herbergen auf dem Jakobsweg. Schon in Roncesvalles hatte er diese bittere Erfahrung nach der ersten Tagesetappe machen müssen. Da war es ein Franzose gewesen, der mit einem orchestral anmutenden Dauerschnaufen den Schlafsaal im Wachzustand hielt. Was gäbe er jetzt für ein ruhiges Doppelzimmer, eins für sich und Nicola allein.
Wobei, und der nächste Gedanke brachte Samuel zum innerlichen Schmunzeln, eine wirklich ruhige Nacht würde das vermutlich auch nicht werden. So entspannte er sich, ließ den Wikinger weiter tönen, ohne sich weiter darüber aufzuregen, und genoss die frische Erinnerung an einen wundervollen Tag mit einer bezaubernden Nicola. Nicola, Nicola, die fast mantrahafte, unausgesprochene Wiederholung ihres Namens und ihre verzückende Erscheinung vor dem inneren Auge ließen ihn dann trotz der leicht widrigen Umstände alsbald einschlafen.