Читать книгу Rich Sam – Fassadenpoker - Matthias Wendtland - Страница 8
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ОглавлениеPamplona, Samstag, 02.06.2012
Nicola und Samuel waren mit den anderen Pilgern früh aufgebrochen und marschierten auf ihr erstes heutiges Etappenziel, den Alto del Perdón, zu. Nachdem sie, von spiritueller Musik geweckt, den Morgentoast und die angenehme Atmosphäre der Herberge genossen und sich mit einer Umarmung von der liebevollen und fürsorglichen Herbergsleiterin verabschiedet hatten, taten sie sich zunächst schwer, das in der Luft hängen gebliebene große Thema des Vortages „Vertrauen“ anzugehen.
Das besondere Erlebnis beim Pilgern ist das veränderte Zeitempfinden, das sich schon nach wenigen Tagen einstellt. Während das heimatliche Universum unter den Folgen der so häufig beklagten Beschleunigung ächzt und leidet, mutet der Pilgerkosmos wie ein Film im Zeitlupentempo an. Es muss nichts überstürzt erledigt werden, und die Langsamkeit erweist sich mit der Zeit als ein weiser Lehrer, der Lektionen nicht mit Hochdruck erteilt, sondern mit Geduld anbietet.
Intuitiv spürten beide beim Verlassen des Stadtrands von Pamplona in Richtung Westen, dass die bald beginnende unbesiedelte Landschaft einen geeigneteren Rahmen für ihre mit Spannung erwarteten Lebensgeschichten bieten würde. So bereiteten sie sich innerlich auf den Anstieg des äußeren Weges und den Abstieg in die Tiefen der eigenen Seele vor.
Als die letzten Häuser hunderte von Metern hinter ihnen lagen, blieb Samuel stehen, blickte sich um und eröffnete bedächtig das Gespräch: „Die Sprinter sind nun vor uns, die ganz Langsamen hinter uns. Ich denke, dass wir erst mal ungestört sind. Möchtest du beginnen? Ich spüre, dass deine Probleme noch recht frisch sind. Erzähl mir nur, was du möchtest, wir haben alle Zeit der Welt. Ich bin gespannt darauf, was du erzählen wirst.“
Nicola schaute ihm prüfend in die Augen, ließ ihren Blick dann zurück auf Pamplona gleiten und nahm den Weg zum Alto mit ruhigem Schritt wieder auf. Samuel schloss sich an und wartete auf ihre Reaktion.
„Geduld, ja, eine andere große aktuelle Baustelle in meinem Leben. Warum glaubst du das mit dem ‚recht frisch‘?“
„Das waren in etwa deine Worte, als du gestern sagtest, dass andere Menschen dich in letzter Zeit verunsichern. Ich spüre einerseits deine Angst, andererseits sehe ich aber, dass das eigentlich nicht zu deiner sonstigen Ausstrahlung passt. Daher vermute ich, dass dich aktuelle Sorgen plagen, die zwar Macht über dich haben, dich aber nicht umwerfen werden. Du hast so viel Kraft in dir, dass du deine Ängste bezwingen wirst.“
„Schön gesagt, Herr Psychologe. Wenn es doch nur so wäre, wenn ich doch nur diese Zuversicht aufbringen könnte.“
Zögernd, wie sie anfangen und was sie ihm alles erzählen sollte, blieb sie stehen und startete, begleitet von leisen Tränen: „Bis Ende März war alles gut, also zumindest scheinbar gut. Ich lebte mit meinem Freund Martin seit knapp drei Jahren zusammen in Düsseldorf, hatte Spaß an meinem Job im Ausländeramt der Stadt Düsseldorf, und tatsächlich war mein Leben bis dahin von größeren Sorgen oder Problemen verschont geblieben.
Als wir dann eines Nachts eine Abschiebung eines abgelehnten Afghanen oder vielleicht auch Pakistani, so richtig sicher waren wir uns da nicht, durchführen wollten, lief der Einsatz total aus dem Ruder. Wir hatten nicht mit großer Gegenwehr gerechnet und daher auf Amtshilfe durch die Polizei verzichtet.
Der Mann war nur wegen kleiner Betrugsdelikte aufgefallen, er war auch nicht besonders kräftig oder so. Bei der Nationalität waren wir uns nicht sicher, weil er zwar angab, afghanischer Herkunft zu sein, ein früherer Dolmetscher hatte da aber so seine Zweifel. Egal, wir hatten einen richterlichen Beschluss, wonach er nach Afghanistan abzuschieben war, und wegen der besseren Chance, ihn anzutreffen, durften wir ihn zur Nachtzeit aus seiner Wohnung, das war so ein Zimmer in einem städtischen Asylbewerberheim, abholen und sollten ihn dann am selben Morgen zum Flieger bringen.
Zwei Kollegen und ich waren für den Einsatz vorgeplant. Ich war als Frau eigentlich nur dabei, um, na ja, man weiß halt nie, wie sich die Dinge entwickeln.
Also ich hätte mich um eine Frau gekümmert, die vielleicht in seinem Zimmer gewesen wäre. Da war aber keine. Wir sind mit dem Hausmeister rein und der hat uns auch das Zimmer geöffnet, und ich bin dann erst mal draußen auf dem Flur geblieben. Es lief dann auch zunächst alles ganz planmäßig. Er schlief in seinem Bett und leistete auch gar keinen Widerstand.
Als er schon fast alles gepackt hatte, schrie er auf einmal so laut, dass das halbe Heim geweckt wurde. Die beiden Kollegen versuchten ihn zu beruhigen und ich ging dann auch ins Zimmer, um seine Tasche zu übernehmen. Da war gar nicht viel drin, mehr so eine Sporttasche mit ein paar Sachen zum Anziehen. Sonst hatte der gar nichts an persönlichen Sachen dabei.
Nach einigem Hin und Her schien sich die Lage sogar wieder zu beruhigen, als plötzlich ein anderer Mann ins Zimmer gestürmt kam. Ich stand noch so’n bisschen von der Schranktür verdeckt seitlich zur Zimmertür und sah nur noch, dass der Typ so ein langes Messer in der Hand hatte und ja, er hatte die Hand mit dem Messer so ausholend über Kopfhöhe.“
Nicola stellte die Szene mit erhobenem, leicht nach vorn ausgestrecktem Arm zur Verdeutlichung dar.
„Da dachte ich, dass der gleich auf meine Kollegen losgeht. Und mich hatte er ja noch gar nicht bemerkt, und ich hatte ja noch die Tasche von dem Abzuschiebenden in der Hand, und da habe ich sie ihm mit voller Wucht ins Gesicht geschleudert.“
An dem heftiger werdenden Zittern ihres Körpers, dem krampfhaft wirkenden Gesamteindruck und den starren Augen erkannte Samuel, dass sie den Film von damals gerade wieder erlebte, alles wieder durchmachte und etwas sehr Schlimmes geschehen sein musste. Behutsam nahm er sie stützend in den Arm und schlug vor, sich am Wegesrand erst einmal hinzusetzen.
Er half ihr, den schweren Rucksack abzunehmen, legte ihn als Stütze für ihren Rücken ins grabenartig ansteigende Gras und setzte sich, nachdem auch er sein Gepäck losgeworden war, neben sie.
„Es ging dann alles irrsinnig schnell, obwohl es mir gleichzeitig irgendwie wie Zeitlupe vorkam. Von der Tasche getroffen, verlor der wilde Angreifer das Gleichgewicht, stolperte über den einzigen Hocker, der im Raum stand und stürzte zu Boden. Es war da so eng und ich weiß gar nicht genau wie es passieren konnte, auf jeden Fall lag er dann auf einmal auf dem Boden und schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an. Der war noch so jung und ich verstand erst gar nicht, warum der da einfach so liegen blieb. Wie sich dann später bei den Ermittlungen der Polizei herausstellte, die stellen so etwas ja immer noch mal nach, ist er wohl so unglücklich gestürzt, dass er sich im Fallen das Genick an der einzigen Fensterbank des Raumes gebrochen hatte. Der war da rückwärts unkontrolliert gegen gefallen und war sofort tot.“
Bei den letzten Worten verbarg Nicola ihr Gesicht in ihren Händen. Samuel nahm sie schweigend sanft in den Arm und strich ihr liebevoll mit der anderen Hand durchs Haar.
„Ich habe ihn getötet, ich habe einen Menschen getötet“, schluchzte sie und brachte kein weiteres Wort hervor.
Zwei ältere französische Pilger kamen in diesem Moment an den beiden im Gras kauernden, elendig dreinschauenden Weggefährten vorbei und erkundigten sich freundlich, ob sie etwas für sie tun könnten. Nicola schüttelte nur den Kopf und Samuel bat sie mehr mit Gesten als mit Worten weiterzugehen. Er würde sich schon um seine Freundin kümmern. Immer noch etwas irritiert gingen die beiden Franzosen mit dem spanischen, traditionellen Wunsch eines „buen camino“ schließlich langsam weiter, und als sie außer Sicht waren, fuhr Nicola fort: „Ich weiß, dass es Notwehr war, rein rechtlich gab es da auch keine größeren Probleme. Natürlich kam die Polizei und hat die nötigen Maßnahmen getroffen. Ich wurde auch von einem hinzugerufenen Notfallseelsorger betreut. Meine Behörde, allen voran mein Chef, hat sich auch ganz viel Mühe gegeben und mir erklärt, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft reine Formsache seien und ich mir keine Sorgen machen müsse. Das war aber auch nur ein kleiner Teil des Problems, verstehst du?“
Samuel nickte kaum merklich und nahm sie fester in den Arm, um ihr zu zeigen, dass er voll und ganz bei ihr war, mit ihr fühlte und verstand, wie es momentan in ihr aussah.
„Ich bin mir nicht so sicher, ob ich das jemals überwinden kann. Ich habe immer geglaubt, dass ich mit meinem Sein und Handeln Gutes in der Welt bewirken kann. Das ist jetzt gar nicht mal so idealistisch gemeint, wie es sich vielleicht anhört. Aber meine bisherigen Erfahrungen waren, dass es sich einfach auch gut für mich anfühlt, wenn ich anderen helfen konnte. Das hatte bis dahin auch im Beruf immer ganz gut geklappt. Wir haben natürlich auch Maßnahmen getroffen, wo anderen Menschen Leid zugefügt wurde. Aber ich habe mich dann immer bemüht, es wenigstens so wenig schlimm wie möglich, so fair wie möglich zu tun, ihnen noch zuzuhören, sie gut zu begleiten.
Das war nicht immer leicht, aber am Ende war ich doch mit mir zufrieden und im Reinen.“
Erneut versagte ihre Stimme und es kostete sie Zeit und Überwindung wieder anzusetzen: „Ich weiß auch, dass ich meine Kollegen beschützen musste, dass ich das auch geschafft habe und sie mir dankbar sind, aber (erneute kurzzeitige Unterbrechung), aber nun ist er tot. Und mit ihm ist auch ein Stück von mir gestorben. (Lange Pause) Und wenn es dann schon mal so nach unten geht, kommt ein Unglück nicht allein.
Martin, mein Freund, mit dem ich seit fast drei Jahren zusammen war, konnte da überhaupt nicht mit umgehen. Also nicht, dass ich für den Tod eines Menschen verantwortlich war, das war für ihn kein Problem. Aber dass ich damit nicht klarkam, konnte er nicht ansatzweise nachvollziehen.
Ich habe mich total allein und von ihm verraten gefühlt und schließlich vor drei Wochen von ihm getrennt. Er ist Mathematiker und arbeitet für eine Versicherung. Sein ganzes Leben besteht aus Zahlen und Kalkulation. Ich denke schon, dass er mich, so gut er eben konnte, geliebt hat, aber er konnte mich nie richtig verstehen. Auch vorher schon nicht. Es gab immer wieder mal Momente in unserem Leben, in denen wir hätten reden müssen, manchmal vielleicht auch nur gemeinsam schweigen, aber diese Rechnung hatte für ihn zu viele unbekannte Variablen, wie er manchmal scherzhaft sagte.
Die Krisen waren es nie wert, genauer den Dingen auf den Punkt zu rücken, daher habe ich es dann bleiben lassen. Enttäuscht war ich aber schon öfter. Nach dem Vorfall war ich erst mal krankgeschrieben.
Ich habe viel Zeit zum Nachdenken gehabt, habe auch schon überlegt, ob ich eine Therapie oder so machen müsste. Eine gute Freundin hat mir geraten, den Jakobsweg zu gehen. Sie war selbst vor drei Jahren in einer schwierigen Lebensphase, und der Weg hat ihr geholfen und sie zurück ins Leben gebracht. Ich habe lange darüber nachgedacht, und ein befreundeter Pfarrer hat mich darin bestärkt, es zu versuchen. Er hat gesagt, dass ich in einer außergewöhnlichen Situation eine vollkommen nachvollziehbare Reaktion gezeigt habe und dass ich nicht wirklich krank sei. Es könne schon sein, dass eine Therapie helfen kann, er, und das ist interessant, weil du das auch gerade so ähnlich gesagt hast, er traut mir aber zu, dass ich so starke Selbstheilungskräfte in mir habe, dass ich es auch so schaffe.
Meine Zuversicht ist wie gesagt nicht sehr groß, aber seit gestern habe ich das erste Mal das Gefühl, dass es nicht weiter nach unten, sondern wieder in Richtung Licht geht. Ich bin mir sehr sicher, dass du der Grund dafür bist. Danke!“
Im positiven Sinn gerührt von den eigenen Worten, deren klare Wahrheit sie urplötzlich erfasste, fühlte sich die Gegenwart und Zukunft auf einmal gar nicht mehr so finster an. Ihre Last war nun ausgesprochen und geteilt. Und als Nicola erneut in Tränen ausbrach, waren es Tränen der Erlösung und Erleichterung, und so mischte sich schon ein Anflug von Lächeln in die zuvor herrschende traurige Grundstimmung.
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander im Gras, abwägend, grübelnd, weit entfernt von Euphorie, aber ein Stück des Weges war geschafft. Bei diesem Gedanken besann sich Nicola auf ihr anderes Ziel, die Etappe musste schließlich auch bewältigt werden.
„Das tat gut, nun ist es raus. Lass uns weitergehen, sonst müssen wir noch unter freiem Himmel campieren, und dafür bin ich nicht ausgerüstet. Was denkst du?“
„Mit dir zusammen? Das könnte mir durchaus gefallen. Andererseits bin ich optimistisch, dass wir es noch bis Puente la Reina schaffen werden. Alles hat seine Zeit und die letzte Stunde war gut investiert.“
Sie erhoben sich langsam, klopften ihre Kleidung aus und zwängten sich die abgelegten Rucksäcke wieder auf.
„Doch ganz schön schwer das Biest“, stöhnte sie. „Trotzdem fallen mir die Schritte jetzt leichter. Man sagt ja, das geteiltes Leid halbes Leid ist, und vielleicht trägst du jetzt etwas für mich mit.“
Sie schien zumindest eine gewisse Lockerheit wiedergefunden zu haben.
„Unseren eigentlichen Auftrag konnten wir dann übrigens gar nicht wie geplant ausführen. Die Polizei hat uns zwar nicht über alle Ermittlungsschritte informiert, aber der Typ, den wir abschieben sollten, sitzt jetzt in einem deutschen Gefängnis. Seine Betrügereien waren wohl nur die Spitze des Eisbergs und die weiteren Ermittlungen haben ergeben, dass er eine wichtige Position im Drogengeschäft hatte. Das war wohl auch der Grund, warum der andere ihm so schnell und riskant zu Hilfe geeilt ist. Der wollte wohl seinen Chef befreien.“
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Wo lebst du denn jetzt eigentlich, ich meine, nachdem du dich von Martin getrennt hast?“
„Ich bin vorübergehend wieder zu meinen Eltern nach Neuss, wobei das natürlich auch keine Zukunft hat. Bei all dem Schlamassel muss ich mir natürlich auch noch überlegen, wie es insgesamt weitergehen soll. Im Moment kann ich mir schwer vorstellen, im Ausländeramt wieder anzufangen. Die sind zwar alle nett und hilfsbereit, aber ich glaube, dass ich das nicht mehr schaffe. Allein der Gedanke, wieder mit so gewaltbereiten Menschen zu tun zu haben, ich weiß nicht.“
„Gibt es denn andere Stellen oder Aufgaben bei der Stadt, wo du vielleicht besser aufgehoben wärst?“
„Die Entscheidung steht noch an. Ich hoffe, dass ich hier in Spanien erst mal wieder zu mir finde und dann auch den richtigen Weg für das weitere Leben einschlagen kann. Zurzeit ist das alles noch ein wildes Gedankenchaos. Ich will eigentlich nicht weglaufen, weg von Düsseldorf und weg von meinen Eltern. Andererseits sind da so viele Erinnerungen, die es mir da zukünftig schwer machen würden. Ich weiß es einfach noch nicht. Bis Ende Juli bin ich krankgeschrieben, und meine Dienststelle ist auch damit einverstanden, dass ich den Camino, also den Jakobsweg gehe. Ich hoffe einfach, dass ich in ein paar Wochen wieder fit für einen Neustart bin. Vermutlich gehen viele diesen Weg aus ähnlichen Gründen.
Auf der zweiten Etappe von Roncesvalles nach Zubiri habe ich einen Belgier getroffen, der so Mitte 40 war und auch einen kompletten Neustart vor sich hat. Er hat seinen Job verloren, fing deshalb an zu trinken und wurde dann auch noch von seiner Frau verlassen. Ich habe ihm gar nichts von mir erzählt, weil ich mich irgendwie geschämt habe. Also ich meine, dass meine Perspektive im Vergleich zu seiner noch ganz passabel ist. Da kam mir dann auch so der Gedanke, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat und jeder seinen eigenen Weg finden muss. Passend zum Pilgern, nicht wahr?“
„Ja. Und irgendwann ist der Weg dann gegangen und man hat sich mal verlaufen, Umwege gemacht, schöne Aussichten genossen, nette Menschen getroffen und wieder verlassen. Der Weg ist ein Synonym für das Leben. Voller Überraschungen, nicht wirklich kontrollierbar. Man hat seine Etappenziele und Pläne, aber vielleicht kommt alles auch ganz anders.“
„Und warum gehst du den Weg?“
„Ich kann das gar nicht so konkret beantworten. Es ist mehr ein Impuls, der sich vor einiger Zeit gemeldet und dann immer weiter entwickelt hat.“
Samuel hatte sich schon bis zu Nicolas Geschichte gefragt, was er bereit war, von sich zu erzählen. Aus unterschiedlichen Gründen entschied er sich für eine Mischversion aus Fakten und Fiktion. Im tiefsten Innern spürte er, dass er Nicola vertrauen konnte. Auf seine innere Stimme konnte er bauen, sie war sein bedeutendstes Kapital. Andererseits kannte er Nicola erst seit gestern. Und was hätte es schon gebracht, ihr all die Details von früher zu erzählen.
Also hatte er die Legende, die sich sein Vater zusammen mit seinem FBI-Freund Vince Palmer ausgedacht hatte, in Reserve, sollte Nicola zu genau wissen wollen, wie es ihn in die USA verschlagen hatte. Einstweilen begnügte er sich, seine aktuelle Lebenssituation zu schildern: „Ich bin jetzt 31 und sollte mir langsam klar werden, was mir wirklich wichtig ist. Manchmal kommt es mir so vor, als lebte ich nur in Extremen. Mal vom Schicksal verwöhnt, mal verhöhnt. Wenn ich es auf einen einfachen Nenner bringen müsste, habe ich in der Schule, im Studium und Beruf immer viel Glück gehabt. In Sachen Familie lief es hingegen nie so rund, und dadurch bedingt tue ich mich schwer, mich auf andere Menschen, speziell auf eine feste Partnerin einzulassen.
Der Gesamtzusammenhang ist mir schon klar, trotzdem finde ich einfach keinen richtigen Weg aus dem Durcheinander. Es ist zwar anders als bei dir, in mancher Hinsicht aber auch ähnlich.“
„Du findest keine Partnerin? Es fällt mir schwer, das zu glauben. Was ist denn bloß in deiner Familie so Schlimmes passiert?“
„Ach, das ist eine lange und komplizierte Geschichte.“
„Wir haben alle Zeit der Welt, und der Anstieg zum Alto del Perdón ist noch weit. Ich würde deine Geschichte sehr gerne hören, damit ich dich besser verstehen kann.“
So, nun hieß es also Farbe bekennen. Samuel sammelte sich kurz und begann mit der Legendenversion: „Aufgewachsen bin ich in der Nähe von Heidelberg. Meine Eltern starben 1995 bei einem Verkehrsunfall und plötzlich stand ich mit 14 Jahren ganz allein da. Es gab nur eine Tante, sie war die Halbschwester meines Vaters. Nancy Fisher, sie lebt noch immer in Oakland bei San Francisco. Ihr Vater, der auch mein Großvater war, musste im 2. Weltkrieg nach Deutschland.
1944 verliebte er sich in meine Oma, eine Heidelbergerin. Kurz vor der Geburt meines Vaters starb seine amerikanische Frau und so heiratete er kurz entschlossen meine Großmutter Hilde. Mein Vater Alexander trug daher den amerikanischen Namen „Fisher“. Kurt, mein Großvater holte nach Kriegsende seine Tochter Nancy nach Heidelberg, blieb mit ihr aber nur bis 1947 dort und ging, nachdem er sich von meiner Großmutter getrennt hatte, wieder zurück in die USA.
Meine Großmutter zog meinen Vater allein auf, bekam aber immer finanzielle Unterstützung von meinem Opa. Meine Oma war in finanziellen Dingen sehr geschickt und legte den für damalige Verhältnisse üppigen Unterhalt in aussichtsreichen Wertpapieren an. Als Oma starb, hinterließ sie meinem Vater ein kleines Vermögen in Aktien. Der hatte trotz der Trennung seiner Eltern einen guten Kontakt zu seinem Vater behalten und ihn mehrmals in den USA besucht.
Mit Nancy verstand er sich prächtig, und so kam es, dass er sie testamentarisch als meinen Vormund bestimmte. Die genauen Abläufe habe ich nie erfahren, weiß aber von Nancy, dass sie nicht lange überlegen musste, mich bei sich aufzunehmen. Einerseits war es wohl wirtschaftlich ein lukratives Geschäft, denn aus dem Erbe stand ihr als Ausgleich für meine Erziehung ein ganz ordentlicher Anteil zu. Den konnte sie damals gut gebrauchen, da sie krankheitsbedingt nicht mehr arbeiten konnte, und die Sozialversicherungssysteme in den USA sind nun mal nicht mit Deutschland zu vergleichen.
Andererseits war sie auch neugierig auf mich, denn wie gesagt verstand sie sich gut mit meinem Vater und hoffte, dass es mit mir ähnlich gut laufen würde. Die Belastung war ohnehin überschaubar, da ich mit ihrem Enkel Chris, der auch bei ihr aufwuchs, die ganze Woche über im Internat schlief und nur am Wochenende und in den Ferien in Oakland war.
Auf dem Internat nannten uns alle mit einem Grinsen die „Twins“, wie in dem Film mit Arnold Schwarzenegger und Danny DeVito. Wir trugen denselben Namen, waren etwa gleich alt, aber total verschieden. Genau genommen war ich ja, obwohl ein Jahr jünger, sein, ja wie nennt man das eigentlich? Also so eine Art Halbonkel.“
Ab hier musste Samuel nicht weiter „alternative Fakten“ bemühen. Ein Begriff, den es seinerzeit noch nicht gab, da er erst im Februar 2017 als Versuch erfunden werden sollte, einen amerikanischen Präsidenten vor kompromittierenden Mediendarstellungen zu beschützen.
Wie auch immer, Samuel war nun da angekommen, wo das Terrain sicherer wurde. Er musste nichts mehr zur Tarnung verschleiern, sondern taktisch nur einige Dinge auslassen, um die Chance aufrecht zu erhalten, Nicola nicht gleich dampfwalzenartig zu überfahren. Auf jeden Fall wollte er aufpassen, seine besondere Begabung und den daraus resultierenden Erfolg extrem reduziert darzustellen.
„Chris und ich, wir wurden beste Freunde und sind es noch immer. Wir haben gemeinsam Schule und Studium absolviert und sind nun Geschäftspartner. Nancy lebt auch noch, inzwischen aber in einem Pflegeheim. Sie ist nahezu erblindet und kommt allein einfach nicht mehr zurecht.“
„Wow, was für ein interessanter Lebensweg. Da hast du ja früh viel erleiden müssen. Aber jetzt wirkst du so stark und selbstsicher, da verstehe ich nicht so ganz dein Problem mit dem Vertrauen.“
„Ich verstehe es ja selbst nicht. Es ist mehr so eine Art Zweifel, ob unsere Familie unter einer Art Fluch leidet. Vom Kopf her ist das natürlich Quatsch, trotzdem ist da etwas Ungreifbares, Eigenartiges. Erst mein Opa mit seinen zwei Frauen und dem irgendwie verkorksten Beziehungsleben. Dann die Sache mit meinem Vater, der allein mit seiner Mutter in schwierigen Verhältnissen im Nachkriegsdeutschland aufwuchs. Die von den Soldaten der Siegermächte geschwängerten deutschen Frauen hatten es damals wahrlich nicht leicht.
Meine Mutter hatte auf der Flucht aus Ostpreußen ihre Familie verloren, nachdem ihr Vater sowieso schon früh im Kampf in Russland gefallen war. Bis heute weiß niemand, ob ihre Mutter und die ältere Schwester überlebt haben. Meine Mutter war damals erst zwei Jahre alt und wuchs bei Pflegeeltern auf, die desillusioniert vom Leben alles andere als gute Vorbilder waren, immerhin haben sie sie aufgenommen und ihr ein halbwegs normales Leben ermöglicht.
Meine Eltern lernten sich erst sehr spät kennen und heirateten, als ich schon unterwegs war. Mein Vater war damals 35, meine Mutter schon 37. Es gab dann auch kleinere Probleme bei meiner Geburt, auf jeden Fall konnte meine Mutter keine weiteren Kinder kriegen.“
Samuel musste improvisieren und auf seine ihm schon lang bekannte Schwäche, anderen schlecht vertrauen zu können, auf Umwegen kommen. Die Herleitung musste anders als tatsächlich geschehen, aber ähnlich nachvollziehbar begründet werden. Eine gut zurechtgelegte Legende hatte er für diesen Fall nicht parat, bislang war das auch noch nie erforderlich gewesen. Was zum Teufel hatte ihn nur geritten, sich in eine so missliche Lage zu manövrieren? Er ahnte schon, dass es dem Streben, Nicola näher zu kommen, geschuldet war, und nun musste er liefern. Wenigstens trieb sie ihn nicht, denn er hatte ja auch bei ihrer Geschichte Pausen zugelassen und so konnte er, parallel zu den eigenen Analysen, langsam ein glaubhaftes Parallelszenario entwickeln.
Der frühe Tod seiner wirklichen Mutter Carola und aller Großeltern hatte mit Sicherheit Einfluss auf die Entwicklung seiner Vertrauensfähigkeiten. Auch wenn er inzwischen verstand, warum sein Vater 1995 nicht anders handeln konnte, war hier eine zusätzliche Ursache für Misstrauen angelegt, und schließlich hatte er mit der Zeit begriffen, dass der Arm der organisierten Kriminalität sehr weit reicht und das Langzeitgedächtnis der Mafiabosse überaus nachhaltig angelegt ist.
Die von seinem Vater allmählich nachgelieferten Details zum damaligen Mafiaprozess zeichneten zwar ein immer schärfer werdendes Bild, sorgten aber auch dafür, dass Samuel in eine durchaus nicht ganz unberechtigte paranoide Grundstimmung abglitt.
Mit den Jahren erfuhr und erlebte er, um wie viele Millionen Dollar Danieri die Mafia damals betrogen hatte. Danieri war schon 1998 an einer unheilbaren Krankheit gestorben und hatte sein gesamtes, den Verbrechern abgerungenes Vermögen Samuels Vater hinterlassen. Dieser war nicht untätig geblieben und hatte es mit seinem eigenen Talent, den Beziehungen zu gewieften Freunden und nicht zuletzt aufgrund der von Danieri erlernten Schlitzohrigkeit bis zu seinem eigenen Tod im Jahr 2012 exorbitant vermehrt.
Samuel verfügte danach über immense Mittel. Er war, obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon selbst fast Milliardär war, mit einem Schlag in die Riege der Multi-Milliardäre aufgestiegen.
Problematisch war zwar zunächst die Tatsache, dass sehr viel Geld auf Offshore-Konten lag und noch gewaschen werden wollte. Andererseits ermöglichte es ihm auch Handlungsfreiheiten, die weltweit wohl sonst niemand im Repertoire hatte.
Sein gigantisches Potenzial einerseits, die ständige Angst und die daraus abgeleitete übergroße Vorsicht, niemals als Samuel Fisher aufzufallen, andererseits, hingen wie eine erdrückende Glocke über ihm. Er hatte ein Netzwerk zu seiner eigenen Sicherheit gesponnen, das die paranoid anmutende Kehrseite seiner Persönlichkeit ständig nährte. Diesem Druck zu entkommen, war sein eigentliches Ziel auf dem Weg nach Santiago. Daneben wollte er herausfinden, ob er den Kampf, den sein Vater gegen die organisierte Kriminalität im Untergrund geführt hatte, fortsetzen sollte und wollte.
Und nun stand er urplötzlich vor einer Frau, die er, obgleich der Kopf zur Wachsamkeit riet, am liebsten voll in sein Vertrauen gezogen hätte. Was für eine bemerkenswerte Erfahrung. Der so scheue und abwartende Samuel war, ohne es zu merken, wie ausgetauscht. Er war, und das wurde ihm mit jedem weiteren Schritt bewusst, verliebt. Und diese Liebe hatte es verdient, Risiken einzugehen, die er nie zuvor gewagt hatte. Einstweilen wollte er dennoch Nicola gegenüber nur ein Bild von sich zeichnen, das zwar in weiten Teilen wahr war, jedoch nicht immer den Tatsachen entsprechen musste.
So setzte er seine begonnene Geschichte also fort. „Geschwister habe ich somit keine. Das muss zwar nichts bedeuten, Einzelkinder haben jedoch statistisch so einige Besonderheiten, die auch bei mir zutreffen dürften. Meine Kindheit möchte ich dennoch als glücklich bezeichnen, bis eben zu dem Tag als meine Eltern verunglückten und ich Hals über Kopf nach Amerika ziehen musste.
Tante Nancy gab ihr Bestes für Chris und mich. Sie hatte eine besondere Fähigkeit, die ich nie zuvor bei einem Menschen beobachtet hatte. Und sie lehrte Chris und mich, es ihr nachzutun. Chris hatte hierbei natürlich einen ordentlichen Vorsprung. Er lebte schon einige Jahre bei ihr, da auch seine Eltern früh gestorben waren. Nancy hatte nie geheiratet, auch wieder so ein Beispiel aus unserem Familientagebuch.
Ich vermute, dass ihre Gabe die Männer abgeschreckt hat. Komisch nur, dass sie es bei dem Mann, der Chris’ Vater gezeugt hatte, nicht gemerkt hat. Sie hat uns nie von ihm erzählt, obwohl wir sie oft danach gefragt haben. Na ja, kurz vor der Geburt von Chris’ Vater ließ ihr Lover sie sitzen und Nancy war auf sich allein gestellt.“
„Was war das denn für eine Gabe?“ Nicola war ganz gespannt bei der Sache.
„Nancy ist ein sehr spirituell veranlagter Mensch und sie kann Botschaften ihrer Mitmenschen entschlüsseln, die diese ungesteuert und ungefiltert über ihr Unterbewusstsein mitteilen. Sie meint, es wäre eine Gabe, die sich aus ihrer Familientradition erklärt. Es fließen wohl noch einige Tropfen Indianerblut durch ihren Körper und Geist. Ich habe bezüglich der Ursachenerklärung einige Zweifel, weiß aber, wozu sie fähig ist, und das überzeugt mich wiederum.“
„Und Chris und du, ihr könnt das auch?“
„Chris ist fast so gut wie Nancy, es ist halt die direkte Verwandtschaftslinie.“
Samuel musste unwillkürlich schmunzeln und steckte Nicola damit an.
„Oh, was für ein Lächeln“, dachte Samuel, es war vollkommen um ihn geschehen.
„Bei mir liegen die Dinge etwas anders. Ich habe die Fähigkeit nur bei einer gewissen Eindeutigkeit, ich benötige quasi noch Zusatzinformationen. Besonders gut funktioniert es, wenn ich Menschen sehr nah bin, sie gewissermaßen auf meiner Frequenz funken. Ähnlich gut läuft es bei Menschen, die mir zuwider sind, die mich ängstigen und negative Assoziationen auslösen. Bei der grauen Mitte bin ich nicht so empfänglich.“
„Wie wäre es mit einer Kostprobe?“ Nicola lächelte ihn herausfordernd an. „Woran denke ich gerade?“
„Ich bin kein Medium oder Gedankenleser oder so was. Die Antwort muss ich dir vorläufig schuldig bleiben. Ich weiß aber schon jetzt, dass das, was du mir sagst, also genauer, was dein Unterbewusstsein mir sagt, mir außerordentlich gefällt.“
Nicola blieb stehen und errötete leicht, aber erkennbar.
„Ich weiß nicht mal selbst, was mein Unterbewusstsein sagt, vielleicht lügt es dich ja an?“
„Es kann durchaus sein, dass das Unterbewusstsein zuvor mit falschen Informationen gefüttert wurde. Das kann zum Beispiel unter Hypnose geschehen. Wenn dir dabei jemand etwas Falsches eintrichtert, du ihm aber vertraust, würde das Unterbewusstsein die Botschaften übernehmen und repetieren. Da ich seit gestern nahezu ununterbrochen mit dir zusammen bin, möchte ich eine Manipulation aber ausschließen.“
„Oh je!“
Nicola nahm den Schritt wieder auf. Nebeneinander gehend ging es ihr doch besser als stehend solche Kracher zu verkraften.
„Bei jedem anderen würde ich denken, was für eine komische Anmache. Bei dir ist es aber irgendwie anders.“
„Ich weiß“, Samuel lachte provozierend und schwupps spürte er ihren Ellenbogen, mit dem sie ihn sanft in die Rippen knuffte.
„Au, nicht so heftig“, spielte er den Getroffenen.
„Also, was verrät dir mein Unterbewusstsein wirklich?“
„Dass du langsam Durst und Hunger hast.“
Jetzt lachte er laut und auf sympathische Weise ansteckend. „Das hätte natürlich auch jeder andere lesen können. Wir sind ja schon ein gutes Stück gegangen, haben uns körperlich und seelisch Einiges abverlangt und da ist es doch selbstverständlich, solche Schlüsse zu ziehen.“
„Bis zum Alto del Perdón ist es ja gar nicht mehr so weit. Und so wie wir getrödelt haben, sind wir bestimmt da oben ganz allein. Da können wir dann unsere Pause machen.“
„Na dann, der Berg ruaft“, beendete Samuel diesen Dialog mit dem bekannten Luis-Trenker-Zitat und zog den Schritt etwas an.
*
Tatsächlich erreichten sie den Gipfel später als ursprünglich geplant, aber ein gutes Stück Arbeit war in mehrfacher Hinsicht getan. Der phänomenale Ausblick belohnte sie für die Anstrengungen des ersten heutigen Teilstücks. Zur Dokumentation ihrer vollbrachten Leistung baten sie einen Spanier, der kurz vor ihnen angekommen war, ein Foto von ihnen zu schießen.
Das Hintergrundmotiv war das, welches alle Pilger für ihr Fotoalbum wollten. Im Rücken die mannshohe korrodierte Metall-Skulptur eines Pilgerzuges, Menschen, die den Berg zu Fuß, per Esel oder Pferd erklommen hatten. Nicola und Samuel nahmen sich stolz in den Arm, lächelten in die Kamera und stellten sich dem stürmischen Wind trotzig entgegen.
Das Mittagsmahl war typische Pilgerkost, man musste sie ja schließlich im Rucksack mitschleppen. Obst, Müsli und Wasser waren die klassischen Verpflegungsutensilien, für ausgewogenere Ernährung musste man auf den Abend warten. Obwohl es schon eher Nachmittag war, beschlossen beide beim Blick in ihren Wanderführer, die etwa 23,5 Kilometer lange Etappe noch um drei weitere Kilometer zu verlängern. Ein Abstecher zur berühmten Kirche „Eunate“ wurde im Reiseführer empfohlen, und beide freuten sich trotz der Anstrengung auf den erweiterten gemeinsamen Weg.
„Jetzt, wo es begab geht, könntest du, um im Bild zu bleiben, in meine seelischen Tiefen hinabwandern und mir von meinen verborgenen Wünschen und Zielen erzählen“, griff Nicola nach der Pause den Gesprächsfaden wieder auf und lächelte ihn erwartungsvoll an.
„Ich könnte, ja, aber ich muss einräumen, dass ich nicht ganz unbefangen bin.“
„Das ist ja nun eine Killerphrase, die ich so nicht akzeptieren kann. Ich möchte mir schon ein Bild von meinem Begleiter machen und entscheiden, ob er was drauf hat oder ob das alles nur Fantasiegebilde oder Imponiergehabe ist.“
Der Ton macht die Musik und die Stimmung kommt von der Stimme. Im Wissen um die Bedeutung der nonverbalen Kommunikationskanäle ließ Nicola diesen Vorwurf bewusst weich und verbindlich klingen.
Samuel seinerseits mimte nun den Beleidigten, allerdings nur so weit, dass auch hier die Signale deutlich in Richtung neckisches Spiel zu decodieren waren: „Dann wirst du dich wohl noch etwas gedulden müssen. Ich lasse mich doch nicht von deiner durchschaubaren Strategie provozieren.“
„Einigen wir uns vorerst auf ein Unentschieden“, schlug Nicola mit gespielter Enttäuschung vor.
„Ich habe Geduld, was deine Fähigkeit betrifft, du darfst mir in der Zwischenzeit deine Befangenheitsgründe vortragen.“
„Du bist hartnäckig“, konterte er.
„Das ist gut und wird dir helfen. Ich habe hiermit den Beweis erbracht, dass meine Ursprungsvermutung, deine Kraft würde reichen, die aktuelle Krise zu meistern, nicht so falsch sein kann.“
„Das soll ein Beweis sein? Wie du schon selbst sagst, ist es bestenfalls eine Vermutung.“
„Vielleicht. Mitunter ist eine starke Vermutung aber besser als ein schwacher Beweis. Und diese Vermutung wird von Stunde zu Stunde stärker. Außerdem hast du Ressourcen, von denen du bislang noch nichts wusstest.“
Samuel blieb stehen und schaute ihr mit geheimnisvollem Blick tief in die Augen.
„Ich ahne, was oder besser wen du meinst. Und ja, da könntest du richtig liegen. Sind das die Befangenheitsaspekte, von denen du gerade gesprochen hast?“
„Messerscharf analysiert, Frau Inspektorin. Ihnen entgeht auch nichts. Ja, ich würde dir gern helfen und ja, ich weiß, dass du das auch möchtest.“
Nicola blieb stehen, nahm seine Hand, als ob sie darin lesen könnte und küsste sie sanft. „So schwer war das bestimmt nicht zu erkennen. Ja, ich fühle mich unendlich wohl, geborgen und gut aufgehoben bei dir. Ich könnte dir sogar verzeihen, wenn deine Fähigkeit nur ein vorgespielter, cleverer und durchaus wirkungsvoller Schachzug war. Ich bin sehr gern mit dir zusammen und es geht mir tatsächlich schon wesentlich besser.“
Ohne seine Hand los zu lassen, nahmen sie den Weg wieder in Angriff. Hand in Hand dem Zwischenziel Eunate entgegen.
Dort angekommen staunten sie über die prächtige Fassade aus dem 12. Jahrhundert. Auf baskisch bedeutet Eunate „hundert Tore“, und schon früh wurde das im romanischen Stil errichtete Bauwerk von Pilgern als Hospiz genutzt.
„Hast du bei dem Vorschlag, den Weg mit diesem Abstecher zu erweitern, an die besondere Bedeutung der Kirche gedacht?“ Laut meinem Reiseführer bezeichnen einige Menschen diesen Platz als einen besonderen Kraftort der Erde, so wie Notre-Dame in Paris oder den Taj Mahal in Indien“, durchbrach Nicola die angenehme Stille.
„Wir könnten beide etwas Kraft gebrauchen.“
„Gemeinsamkeit macht stark“, antwortete Samuel eher ausweichend. „Wusstest du, dass die Einheimischen hier besonders gern ihre Hochzeiten begehen?“
„Langsam, langsam, der Herr. Wir schauen es uns jetzt erst mal in Ruhe an, über eine Hochzeit sprechen wir vielleicht später.“
Beide genossen die nett vorgetragenen Anspielungen, für beide war es aber auch mehr als bloße Wortspiele. Was auch immer aus ihnen werden sollte, beide hatten das untrügliche Gefühl, einen Seelenverwandten gefunden zu haben. Diese so erfüllenden frischen Eindrücke, noch dazu an einem so besonderen Ort, gaben dem Augenblick eine Magie, aus der niemand auszubrechen gedachte.
Inzwischen war es schon später Nachmittag, und einige Kilometer waren noch bis Puente la Reina zu gehen. Als sie dann schließlich gegen 17.30 Uhr ihr Tagesziel erreicht hatten, waren sie von dem Weg und ihren gedanklichen und emotionalen Strapazen rundum erschöpft.
Die erste Herberge „Jakue“ wurde vom Reiseführer empfohlen, und da sie so müde waren, fragten sie, ohne andere Unterkünfte ins Visier zu nehmen, an, ob noch zwei Betten frei seien.
Der Herbergsleiter erklärte ihnen, dass vor etwa 30 Minuten eine größere Gruppe eingetroffen sei, die die Mehrbettzimmer bis auf den letzten Schlafplatz in Beschlag genommen hätte. Er könne ihnen nur ein Doppelzimmer im Untergeschoss anbieten. Das sei aber sehr schön, mit eigener Dusche sowie Flachbild-TV ausgestattet und es koste nur 30 Euro für beide zusammen. Außerdem empfahl er das Abendbuffet im angegliederten hauseigenen Hotelbereich.
Hoffnungsvoll blickte Samuel Nicola an und betonte, dass eine weitere Suche natürlich auch das Risiko berge, dieses letzte Zimmer wegen Unentschlossenheit eventuell an andere Pilger zu verlieren. Man könne einfach nicht wissen, was noch im Ort zu kriegen sei. Außerdem habe man ja die letzte Nacht auch schon gemeinsam in einem Bett verbracht, bagatellisierte er augenzwinkernd das im Raum stehende Arrangement.
„Ui, das geht aber schnell“, dachte Nicola nur.
Andererseits, ja, es wäre genau der richtige Abschluss für einen unvergesslichen Tag. Sie war gespannt, wie sich Samuel verhalten würde, eher ruhig und schüchtern, abwartend wie ein Gentleman oder landestypisch angepasst wie ein stürmischer Torero. Letztlich war es ihr gleich, sie wollte ihn auch, und was konnte schon passieren.
„Die Mutige gewinnt“, munterte sie sich selbst auf und entschied, ohne ein Zögern erkennen zu lassen, dass sie tatsächlich ziemlich erschöpft sei und nicht mehr großartig weitersuchen wolle.
„Du kannst ja schon mal das Zimmer inspizieren und duschen, ich komme dann später nach und ruhe mich jetzt erst mal bei einem kühlen Getränk hier im Garten aus“, schlug sie schließlich vor.
Die Entscheidung war gefallen und Samuel ließ sich, nachdem er das Zimmer bezahlt und die Pilgerpässe der beiden hatte abstempeln lassen, den Zimmerschlüssel geben. Ausgedörrt von der langen Strecke und den hohen Tagestemperaturen brachte er Nicola, die die schweren Wanderschuhe bereits ausgezogen hatte und nun auf einem Stuhl im Schatten des Gartens ausruhte, ihr bestelltes großes Bier. Er hatte sich ebenfalls eins mitgebracht, prostete ihr zu und bemühte sich, es zügig auszutrinken, denn ihre Anweisung bezüglich der Duschreihenfolge war ja klar und unmissverständlich.
„Na, dann will ich mal“, verabschiedete er sich nach wenigen Minuten.
„Du kannst dann ja in einer Viertelstunde oder so nachkommen.“
Diese 15 Minuten waren für beide hochelektrisierendes Kopfkino. Wie würde wohl der weitere frühe und vielleicht erst recht spätere Abend verlaufen? Was könnte der Partner mögen? Wie wäre das richtige Timing? Die Gefühle fuhren Achterbahn und die Schmetterlinge im Bauch führten einen Tanz auf, dessen Choreografie beide in dieser Form so noch nicht erlebt hatten. Angefeuert durch diese vitalisierenden Fantasien war auch für beide von Ermüdung, erst recht nicht von Erschlaffung ansatzweise etwas zu spüren. Samuel musste sich unter seiner Dusche schon stark zurückhalten, seinen körperlichen Bedürfnissen unmittelbar nachzugeben. Was für ein unfassbares Glück hatte er mit dieser göttlichen Frau nur gehabt.
Seine Gedanken waren ganz bei ihrem fantastisch gut gebauten Körper, den großen, wohlgeformten, natürlichen Brüsten, die gestern in dem Sommerkleid so prächtig ihre Wirkung entfalteten, und dem umwerfenden Gesamtbild. Die makellose Haut, die dunklen, so eindringlich wirkenden Augen und die leicht gewellten brünetten Haare. Das Ganze verteilt auf geschätzte 1,75 Meter. Sie war in seinen Augen einfach perfekt für ihn. Jemand, der ihr Bauch-, Beine-, Po-Kurse anbieten würde, könnte maximal eine Erhaltung des Ist-Zustandes anstreben.
Nicola erging es auf der Terrasse derweil nicht anders. „Was für ein unglaublicher Mann“, schoss es immer wieder durch ihren Kopf. Schon angezogen wirkte er wie gemeißelt. Michelangelos David war bestenfalls ein Arbeitsversuch im Vergleich zu seiner Erscheinung. Dazu kam ein so von ihr noch nie erlebter Gegensatz von liebevollem und eindringlich wirkenden Gesichtsausdruck und einer direkten, zuweilen leicht grenzüberschreitenden frischen Frechheit. Er könnte der Wendepunkt für ihr Leben sein und, daraus machte er ja gar keinen Hehl, er mochte sie ja auch.
„Ob er wohl an Kondome gedacht hat?“ Die Frage ließ Nicola kurz aufschrecken. So wie er wirkt und bei dem Selbstbewusstsein: „Bestimmt“ lautete ihre Antwort.
Andererseits war sie nun doch etwas unsicher, zumal ihr nicht ganz klar war, wie diese Dinge in Kalifornien, wo er ja immer noch, zumindest über mehrere Monate im Jahr, lebte, gehandhabt wurden. Sie selbst hatte bei all ihren Problemen keine Vorkehrungen in Sachen Sex unternommen. Gut, sie verhütete schon noch, die Trennung von Martin war ja noch relativ frisch. Aber an Kondome hatte sie nicht wirklich gedacht. Zur Sicherheit machte sie auf dem Weg zum Zimmer noch einen Umweg über die Hoteltoilette im benachbarten Anbau.
„Möchtest du lieber ungestört sein?“ Samuel hatte gerade die Zimmertür auf ihr Klopfen hin geöffnet und stand mit nichts als einer Boxershorts vor ihr im Türspalt. „Ich kann auch draußen warten.“
„Aha, Tendenz Gentleman“, dachte Nicola nur, aber der Anblick seines Körpers ließ sie augenblicklich dahinschmelzen.
Das kleine Zimmer verfügte über ein Doppelbett, das den Raum schon fast ausfüllte, und einen kleinen, gut gepflegten Badbereich, den Nicola für sich erbat.
„Du kannst mich in der Zwischenzeit vor wilden Tieren beschützen, es dir bequem machen und die Stellung halten.“
Mit einem vielsagenden Blick in Richtung Bett verschwand sie im Nassbereich des Etablissements.
Nun schoss plötzlich Samuel die Kondomfrage durch den Kopf. Wer ist da eigentlich in der Pflicht? So weit hatte er bei der Pilgerplanung noch gar nicht gedacht, und, nachdem er sich ein T-Shirt übergezogen und mit ein paar Münzen bewaffnet hatte, verschwand er flugs auf die Toilette im angrenzenden Hotelbereich. Ohne voneinander zu wissen, hatten sie dem Automatenaufsteller am heutigen Abend zu bescheidenen Umsatzsteigerungen verholfen.
Währenddessen pulsierte das Blut in Nicola unter der Dusche. Erst die körperlichen Strapazen, nun die innere Anspannung und die Hoffnung auf einen erotischen Höhepunkt des camino.
Erotik, ein Thema, das ambivalente Gefühle in ihr auslöste. Schon vor der endgültigen Trennung von Martin hatten sie seit längerer Zeit nicht mehr miteinander geschlafen. Ihre Beziehung war in mehrfacher Hinsicht gescheitert. Nicola hatte zwar auch vor Martin einige kürzere intime Bekanntschaften, extrem gut gerüstet für die anstehende Verführung fühlte sie sich allerdings nicht.
Wie es wohl mit Samuel werden würde? So wie er aussah, hatte er bestimmt viel mehr Erfahrung als sie, und da er nicht in länger andauernden Beziehungen gelebt hatte, war er bestimmt auf Frauen getroffen, die in Sachen Liebeskunst mehr als sie selbst zu bieten hatten. Eine gewisse Unsicherheit machte sich kurzfristig breit, die jedoch schnell den angenehmen Empfindungen der unleugbaren Vorfreude wich. Die warme Dusche tat ihr Übriges, und so war sie nicht nur äußerlich feucht.
In ein großes Handtuch geschlungen, dessen Enden vor ihrer Brust kunstvoll ineinander fassten, verließ sie bedächtigen Schrittes das Bad und fand ihn immer noch in Boxershorts und freiem Oberkörper auf dem wie unberührt wirkenden Bett fensterseits liegen.
„Ich wusste nicht, wo du schlafen möchtest. Daher habe ich die Seitenwahl aufgeschoben und noch nichts …“
Weiter kam er nicht, denn mit einem auf ihre gespitzten Lippen aufrecht gelegten Zeigefinger signalisierte sie ihm, dass jetzt nicht der Zeitpunkt für Vorträge sei. Sie spürte, dass auch von ihm eine gewisse Unsicherheit ausging und entschloss sich, die Regie zu übernehmen. Mit einer eleganten Handbewegung löste sie den Badetuchknoten und stand splitterfasernackt vor ihm.
Einer weiteren Ermahnung, nicht weiter zu sprechen, bedurfte es nun sowieso nicht mehr. Samuel war sprachlos und hätte für diese Aussicht ohnehin keine Worte gefunden. Atemberaubend, hinreißend und in solchen Momenten ähnliche, gern bemühte Begriffe spiegelten nicht mal im Ansatz seine Anerkennung wider.
„Mein Gott, bist du schön“, dachte er nur, wagte es aber nicht auszusprechen, denn die Geste zu schweigen war eindeutig.
Aus ihrer linken Hand zauberte sie nun eine kleine Apres Sun Lotion hervor, übergab sie langsam ihrer rechten, ohne den Blick von Samuel zu wenden, der offenkundig schwer beeindruckt war. Mit laszivem Blick öffnete sie die Flasche und ließ die weiße Lotion über ihre Brüste laufen.
„In Sachen Massageöl bin ich grad nicht so gut ausgestattet, man muss beim Pilgern eben nehmen, was einem so über den Weg läuft.“
Da war er wieder, dieser kecke Blick, der Samuel schon im Café Iruña in Pamplona begeistert hatte.
Nicola beugte sich nun langsam nach vorn, und ihr ohnehin schon sagenhafter Vorbau legte durch die Gesetzmäßigkeit Newtons noch einmal an Volumen zu. Dieses Programm, das sie so noch nie exerziert hatte und lediglich einer spontanen inneren Eingebung folgte, blieb nicht ohne Wirkung und erschwerte ihren Versuch, Samuel aus den Boxershorts zu helfen. Es war halt ein Tag, an dem es Hügel zu überwinden und Überhänge zu bewältigen galt.
War der Vergleich zur David-Statue in Florenz nicht sowieso schon zugunsten Samuels entschieden, hätte es nun keinen Zweifel mehr gegeben, es war nun an Nicola, beeindruckt zu sein.
Langsam ließ sie nun vorsichtig ihre so vortrefflichen Attribute über seine Oberschenkel zum Zentrum der männlichen erogenen Zone gleiten und verharrte dort, um mit Seitenführung ihrer Hände in den Massagemodus zu wechseln. Die Lotion tat ihr Bestes und sorgte für ein wohlig seifiges Vergnügen, das Samuel in vollen Zügen genoss.
Er ergriff nun seinerseits ihre Brüste, massierte sie und dirigierte ihren gesamten Körper vorsichtig in Richtung seines Gesichts, sodass er nun auch mit Mund und Zunge weiterarbeiten konnte. Ihre Münder trafen sich wie von selbst, und alles, was das Leben zuvor schwierig oder problematisch ausschauen ließ, löste sich mit einem Mal, als wäre das gesamte Leben nur erfüllt von Liebe.
„Nimm mich jetzt“, hauchte sie und beide griffen umgehend zu den soeben auf der Gästetoilette erworbenen und für alle Fälle in Reichweite deponierten Päckchen. Nahezu synchron schnellten die beiden Hände mit den Kondomen zwischen ihre Körper, und als sie triumphierend die Errungenschaften präsentierten, mussten sie unwillkürlich lauthals lachen, um sich kurz darauf dann doch auf das Wesentliche zu besinnen.
Die Besinnung war von kurzer Dauer, denn in einem so von beiden noch nie erlebten Höhepunkt tauchten sie in eine andere Welt.
Liebevoll umschlungen saugten sie ohne Worte die Atmosphäre in sich auf, bis Samuel nach einer gefühlten Ewigkeit die Sprache wiederfand: „Ziehst du gleich zum Essen das schöne Kleid von gestern wieder an?“
„Ich bin auf der Pilgerschaft, was denkst du, wie viel Auswahl ich im Kleiderschrank habe?“
„Aha, du bist zurück im wahren Leben und kannst schon wieder spotten. War das nicht paradiesisch gut? Ich habe ja gesagt, dass ich in den Situationen, in denen ich anderen Menschen nahe komme, meine Gabe besonders stark erlebe. Du warst etwas schneller, aber ich gebe das Kompliment gern zurück, und ja, ich liebe dich auch!!!“
„Du Schuft, du kannst mir gar nichts vormachen“, grinste sie, um aber sofort hinzuzufügen: „Was auch immer mein Unterbewusstsein Nettes von sich gegeben haben mag, ich denke, es entspricht voll und ganz der Wahrheit. Ich weiß nicht, ob und wie es gehen soll, aber lass uns mal gemeinsam träumen, wie unsere Zukunft aussehen könnte. Ich mach mich kurz frisch, ziehe dann mein Kleid – und damit du es gleich weißt – auch nichts anderes, außer den Schuhen natürlich, an.“
„Wo warst du nur in den letzten Jahren meines Lebens? Mit dir ist alles so leicht und bunt und, ach, du bist einfach unglaublich.“
*
Der Herbergsleiter hatte nicht zu viel versprochen. Das Buffet war für Jakobswegniveau hervorragend und vielfältig. Gut gesättigt ergriff erneut Nicola die Initiative: „Kannst du dir vorstellen, dass es eine gemeinsame Zukunft für uns geben könnte?“
„Das hast du aber vorsichtig formuliert. So wie ich es sehe, kann ich mir eine Zukunft ohne dich nicht vorstellen. Auch wenn du noch nicht so richtig überzeugt bist, was ich gut verstehen kann, denn wir kennen uns ja wirklich noch nicht lange, weiß ich bereits jetzt, dass wir zusammenbleiben werden.
Ich hatte immer die Hoffnung, dass ich die Richtige schon finden werde, begann aber tatsächlich zu zweifeln, ob es bald so weit sein würde. An Schicksal mochte ich bislang nicht glauben, aber wer oder was auch immer dafür verantwortlich ist, dass wir uns hier getroffen haben, hat es gut gefügt und ich bin dafür unendlich dankbar.“
„Ich möchte das auch glauben, vor allem, weil mein schlimmes Erlebnis dann nachträglich einen Sinn ergeben würde. Es ist nur so irritierend schnell und ohne Zweifel, irgendwie fast zu schön, um wahr zu sein.“
„Was erwartest du vom Leben? Wie sähe es aus, wenn du dir die Zukunft selbst basteln könntest?“
„Auf jeden Fall möchte ich Kinder haben, zwei oder drei. Die Arbeit ist mir nicht so wichtig, ich bin mir eh nicht sicher, ob ich wieder zurück zum Ausländeramt der Stadt Düsseldorf gehen sollte. Früher hatte ich Spaß an Architektur, Kunst und Musik. Aber das waren alles Berufswünsche ohne realistische Perspektive. Ich glaube, ich könnte mich dir anpassen und dir folgen, egal wohin. Du hast ja gestern angedeutet, dass du beruflich einigermaßen erfolgreich bist. Würde es für uns reichen oder müsste ich etwas dazu verdienen?“
„Du musst gar nichts. Und ich muss auch gar nichts. Ich habe schon jetzt mehr als genug, finanziell wären wir abgesichert. Dennoch möchte ich noch einige Dinge bewegen, was uns Zeit und Energie kosten wird. Das sind aber alles Projekte, die ohne Zeitdruck angegangen werden können.“
„Erzählst du mir davon?”
“Zu gegebener Zeit bestimmt.”
Halb im Spaß und mit diesem frechen, kecken Augenzwinkern, das er jetzt schon so an ihr mochte, fuhr sie fort: „Wenn du so reich bist und wir heiraten, gehört dann alles, was dir gehört, auch mir?“
„Wenn wir heiraten, und ich bin mir sicher, dass wir das werden, dann gehört dir auch alles, was mir gehört. An einigen Dingen wirst du vermutlich wenig Interesse und Spaß haben, aber das ist ja erst mal nicht so wichtig.“
„Das nenne ich aber großzügig. Du kriegst natürlich auch die Hälfte von meinem Besitz, aber außer einem sechs Jahre alten VW Golf habe ich nicht allzu viel zu bieten.“
„Besten Dank, ich mag den Golf.“
Sie gewann langsam Spaß an der Neckerei und setzte nach: „Habe ich dich richtig verstanden, dass du mir soeben zwischen den Zeilen einen Heiratsantrag gemacht hast?“
„Du meinst, weil ich mir sicher bin, dass wir heiraten werden?“
„Genau.“
„Wenn ich dir einen Antrag mache, dann wirst du es ohne Zweifel merken, aber ich bin emanzipiert und lasse mich überraschen, ob du mir nicht zuvorkommen willst.“
„Ich bin ja noch eine deutsche Beamtin. Da will die Sache gut überlegt und geprüft sein“, frotzelte sie.
„Was würde geschehen, wenn wir uns scheiden ließen? Nur mal so aus Interesse, ich muss meine Zukunft ja gut planen.“
„Plan du nur. Ich kann natürlich nicht alles jetzt schon voraussagen, aber nein, eine Scheidung ist in unserer Beziehung und deinem Plan nicht vorgesehen.“
„Sagt dir das mein Unterbewusstsein.“
„Ja, so ist es.“
„Das ist gemein. Immer wenn es brenzlig wird, gibst du einfach vor, alles von mir zu wissen.“
„Nein, bei Weitem nicht Alles! Das Wesentliche aber schon!“
„O.k., nur mal gesetzt den Fall, es käme doch dazu, bekäme ich dann die Hälfte von deinem Vermögen?“
„Wenn ich es nicht besser wüsste, käme aber jetzt der Verdacht in mir auf, dass du eine Heiratsschwindlerin sein könntest. So raffgierig, das passt doch gar nicht zu dir.“
Sein gespielter strenger, oberlehrerhafter Blick verfehlte die Wirkung nicht.
Nicola ließ sich darauf ein und spielte die Ertappte: „Nun hat er mich doch durchschaut“, gab sie kleinlaut bei. „Trotzdem, nur mal so zum Spaß: Kriege ich dann die Hälfte?“
„Selbstverständlich (künstlerische Pause von fünf Sekunden unter Beibehaltung des strengen Blicks) nicht! Meine Anwälte würden auf einem Ehevertrag bestehen … ist doch wohl klar“, Samuel lachte und machte das Spiel mit, das aus seiner Sicht mit dem gleichen Wortlaut ernsthaft hätte stattfinden können.
„Entschuldigung, klar, ich wusste ja nicht, dass „Sie“ so reich sind, dass da gleich eine ganze Armee von Anwälten mit einem so schwierigen Prozess wie einer Hochzeit beschäftigt werden muss.
Aber wenn „Sie“ so reich sind, dann können „Sie“ bestimmt für meinen Unterhalt – und den meiner noch ungeborenen Kinder – aufkommen.“
„Sicher, an was hatten „Sie“ denn gedacht?“
„Na ja, wenn ich jetzt meine gut dotierte Beamtenstelle aufgebe, lassen Sie mich mal kalkulieren … also ich würde noch etwa 40 Jahre arbeiten, mit sagen wir durchschnittlich 40.000 € Bruttogehalt pro Jahr, plus die Pensionsansprüche, plus Kindesunterhalt und Ausbildung und, nicht zu vergessen, meine dann gestiegenen Ansprüche, hm, ich denke so drei Millionen wären angemessen.“
„In welcher Währung, Gnädigste?“
„Euro, was sonst?“
„Gut, einverstanden, Hand drauf.“
„Wie Hand drauf?“
„Wir schließen jetzt verbindlich einen mündlichen Ehevertrag mit einer fest zugesagten Ausstiegsklausel von drei Millionen Euro für dich. Mit den gemeinsamen Kindern können wir noch nicht so fest planen, aber egal. Meine Zusage gilt auch für den Fall, dass unsere Ehe kinderlos bleiben sollte.“
Nicola schaute ungläubig.
„Ach so, nicht dass da ein Missverständnis aufkommt: Das war noch immer kein Heiratsantrag! Da gebe ich mir schon etwas mehr Mühe! Versprochen! Aber er wird kommen!“
„Vielleicht habe ich ja in der Schnelle ein paar Details übersehen und mich überrumpeln lassen“. Sie spielte nun das unschuldige und unerfahrene kleine Mädchen, das noch nicht viel von der großen weiten Welt mitbekommen hat.
„Ja, das will ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen“, konterte er souverän.
„Ich will dich keinesfalls übervorteilen. Pfiffig wie du bist, hast du ja auch noch nicht eingeschlagen. Dann leg mal nach … aber übertreib es nicht, sonst fühle ich mich hinterher ausgenutzt.“
„Also dann denke ich, dass fünf Millionen Euro angemessen wären. Und du zahlst das Essen heute Abend noch obendrauf. Kannste bestimmt absetzen.“
Erheitert über ihren eigenen Witz lachte sie triumphierend und wartete auf seine Reaktion.
„Abgemacht“, sagte er und winkte die Bedienung heran, um zu zahlen.
Nachdem die erste „Vertragsschuld“ in vorbildlicher und extrem schneller Manier beglichen worden war, hielt er ihr seine Hand demonstrativ zum Einschlagen bereit hin.
Sie setzte ihr umwerfendes Lächeln auf, schlug ein und bedankte sich höflich für die unkomplizierte Vertragsverhandlung und den für beide Seiten gelungenen Abschluss.
„Jetzt, wo wir uns handelseinig geworden sind, möchte ich meiner Zukünftigen gern eine erste Lektion in Sachen Wirtschaftspsychologie erteilen.“
Der Triumph war nun ihm ins Gesicht geschrieben.
„Führe solche Verhandlungen nie ohne eine gewisse Vorbereitung. Du hast soeben den schlechtesten Deal aller Zeiten abgeschlossen und es noch nicht einmal gemerkt, dich sogar darüber gefreut. Also ich meine jetzt nicht die Absprache, dass wir heiraten sollten. Das ist ein ausgesprochen guter Deal!“
„Du meinst also, ich hätte mehr rausschlagen können?“
„Auf jeden Fall sogar müssen!“
„Wie weit wärst du mitgegangen? 10, 20, 50 Millionen?“
„Ich habe noch keine Zahl gehört, die mich geschockt hätte.“
„50 Millionen schocken dich nicht?“
„Doch, schon, aber ich kenne ja den Gegenwert. Meine Frau und Kinder sollten mir das doch wohl wert sein.“
„Und deine Anwälte?“
„Die wären entzückt, wie günstig ich dich eingekauft habe.“
„Für 50 Millionen, günstig eingekauft? Du machst komische Witze. Ich habe den Verdacht, dass es mit deinem Reichtum genauso mysteriös bestellt ist wie mit deiner Lesefähigkeit des Unterbewusstseins anderer Menschen. Aber ich muss zugeben, dass ich dich auch für 500.000 Euro, vielleicht sogar weniger, genommen hätte. Einigen wir uns auf ein Unentschieden?“
„Es ist ja eh egal, dein ist mein und wir bleiben zusammen. Aber bitte verkauf dich nie wieder unter Wert.“
„Unter Wert?“
Bei dieser Frage musste jetzt aber mal grundsätzlich gegengesteuert werden. Die Arroganz ihres zu selbstsicher wirkenden Zukünftigen musste in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Hierbei kam ihr zugute, dass sie inzwischen die letzten Gäste im Restaurant waren und auch die Bedienung momentan nicht zu sehen war.
„So sind wir halt, wir billigen und willigen Flittchen“, wieder war er da, dieser Gesichtsausdruck, der Samuel um den Verstand brachte. Diesmal hielt er dem Blick aber nicht lange stand, denn was sich seinen Augen weiter unten bot, benötigte nun seine volle Aufmerksamkeit.
Fast hätte er über das vorangegangene Gefecht vergessen, welche Versprechung sie vor dem Essen gemacht hatte. Nun löste sie es ein. Die Filmszene mit Sharon Stone in Basic Instinct sorgte, obwohl sie nun wirklich nicht sehr lang war, für enorme Beachtung in der Männerwelt. Der Anblick, der sich Samuel nun bot, war um „Längen“ besser … und er erfolgte in Zeitlupe.
Nicola hob ihr dünnes Kleid immer weiter an, spreizte ihre Beine und präsentierte ihm ihre dunkle, lockige Scham. Begleitet wurde ihr Schauspiel von einer langsamen Zungenbewegung, die die Oberlippe von links nach rechts benetzte.
„Ich gebe auf! Du hast gewonnen! Lass uns gehen“, waren seine letzten Worte im Restaurant, und die Rückmeldung seines Lendenbereichs war eindeutig. Keine weiteren Verbalgefechte, Handeln statt Quatschen!