Читать книгу Liebestode - Max Diener - Страница 6
II
Оглавление„Woran ist die Weinbrenner gestorben?“, fragt Castro. Er hat in der Nacht unruhig geschlafen, ist schon in aller Frühe aufgewacht. Die Tote hat ihm nicht aus dem Kopf gehen wollen. Früher ist das ein untrügliches Zeichen gewesen, dass etwas nicht stimmte, dass der erste Augenschein bei einer Tatortbesichtigung getrogen hat. Heute weiß er die Zeichen nicht mehr so leicht zu deuten.
„Natürlicher Tod“, antwortet der Doktor. „Wie ich mir schon gedacht hatte.“
„Natürlicher Tod?“, fragt Castro und schiebt den Aschenbecher, den der Doktor aus der Klinik mitgebracht hat, von sich weg. Der Mann ist der Einzige, der sich über das Rauchverbot, das im Präsidium gilt, hinwegsetzt. „Gibt’s den überhaupt?“
„Keine philosophischen Exkurse, wenn ich bitten darf“, knurrt der Doktor und saugt an seiner nahezu abgebrannten Zigarette. „Sonst immer gern, das weißt du, aber nicht um diese Zeit.“
„Und weiter?“, fragt Castro.
„Myokarditis mit nachfolgender Koronarinsuffizienz“, antwortet der Doktor. „Oder für einen medizinischen Ignoranten wie dich: eine Herzmuskelentzündung, die eine Schwächung des Herzens zur Folge hatte. Vermutlich nach einer nicht vollständig auskurierten Grippe. Hat sich schlicht übernommen, die Kleine. Läufertod, haben wir nicht das erste Mal. Trifft aber selten Frauen. Eigentlich sogar höchst selten, ich kann mich nur an ganz wenige Fälle erinnern. Wir Männer sind diejenigen, die nicht auf sich aufpassen. Unser Stammhirn ist noch auf Steinzeitniveau. Der Säbelzahntiger ist hinter uns her, und wir rennen um unser Leben – zweiundvierzig Kilometer, wenn es sein muss. Scheiße, Castro, jetzt bin ich doch philosophisch geworden.“
Er drückt seine Zigarette aus. Seine kräftigen Finger mit den vom Nikotin gefärbten Nägeln zittern ein wenig. „Wie hieß die Tote noch mal?“
„Felicitas Weinbrenner“, sagt Castro.
„Willst du wissen, was sie gefrühstückt hat?“, fragt der Arzt, ein schlaksiger Kerl, kaum älter als Castro.
„Toast, Ei, Kaffee.“
„Kannst du hellsehen?“
Castro nickt. „Ist das alles?“
„Die Dame hatte vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr“, antwortet der Arzt.
„Unmittelbar vorher?“
„Sieht so aus.“
„Kann es sein, dass sie dabei gestorben ist? Ich meine, während sie ...“
„Du meinst, während sie sich der Liebe hingegeben hat? Das werden wir wahrscheinlich nie wissen“, unterbricht der Doktor Castro. „Ein wunderbarer Tod übrigens, wenn du mich fragst. Man könnte glatt neidisch werden, findest du nicht auch? Ein letzter erstklassiger Orgasmus – und Exitus.“
„Habt ihr Samen in der Scheide gefunden?“
„Nein. Latex-Abrieb.“
„Von einem Kondom?“
„Wovon sonst?!“ Der Arzt steht auf. Träge, wie er sich durch den Raum bewegt, scheint er mindestens so müde zu sein wie Castro. In der Tür dreht er sich noch einmal um. „Felicitas Weinbrenner – komischer Name“, murmelt er.
„Findest du?“
„Klingt irgendwie bayerisch, oder? Wann brauchst du meinen Bericht?“
Castro zögert. „Hast du wirklich alles untersucht?“
„Na, hör mal!“
„Ich verstehe einiges nicht“, erklärt Castro. „Vielleicht musst du noch mal ran.“
Der Doktor gähnt. „Dein Wille geschehe. Gib mir Bescheid, wenn wir die Leiche freigeben können, ja?“
Kaum ist der Arzt gegangen, öffnet sich die Tür erneut. Es ist Overbeck, Castros Chef. Seit seinem siebzehnten Lebensjahr Mitglied einer großen christlichen Partei. Träumt von einem Landtagsmandat. Für den Anfang. Dazu ein hervorragender Karatekämpfer, 3. Dan. Ein schwieriger Mensch, aber beliebt bei seinen Leuten. Hält ihnen den Rücken frei, wann immer es nötig ist. Zu Castro hat er eine besondere Beziehung. Eine merkwürdige Mischung aus ehrlicher Bewunderung und verbissener Konkurrenz. Anders als Castro ist Overbeck ein überzeugter Teamplayer – ein Unterschied, den er bei jeder Gelegenheit zu betonen pflegt.
„Wie weit seid ihr?“, will Overbeck wissen.
„Sie haben die Frau obduziert. Felicitas Weinbrenner hatte eine Herzmuskelentzündung. Der Doktor geht von einem natürlichen Tod aus.“
„Was glaubst du, Castro?“, fragt Overbeck. „Du bist mal wieder nicht einverstanden, das sehe ich dir an.“
Vor dem Fenster streiten ein paar Spatzen. Aus dem Gebäude der Wilhelm-Busch-Grundschule schräg gegenüber tönt durchdringendes Pausengeschrei.
„Was glaubst du, Castro?“, wiederholt Overbeck seine Frage.
Soll Castro ihm erzählen, dass er misstrauisch geworden ist, weil der Fall zu eindeutig aussieht, zu glatt, zu perfekt? Dass er nicht verstehen kann, dass zwei Menschen das Frühstücksgeschirr spülen, bevor sie miteinander ins Bett gehen, um sich der Liebe hinzugeben, wie der Doktor es nennt? Dass er nicht begreift, wie jemand die Wohnung aufräumen kann, während seine Freundin tot oder sterbend auf dem Bett liegt? Dass es ihm nicht in den Kopf will, dass der Unbekannte nicht auf die Idee gekommen ist, einen Arzt zu rufen? Soll er Overbeck verraten, dass ihm die Tote einfach keine Ruhe lässt, weil ihre Wohnung nach Einsamkeit gerochen hat, obwohl sich dort gerade zwei Menschen geliebt hatten? Der Chef würde Castro nicht zum ersten Mal für verrückt erklären. Overbeck ist ein erklärter Freund von Routine, von Elektronenmikroskopen und EDV.
„Ich bin mir nicht sicher“, antwortet Castro.
„Auch eine Antwort“, sagt Overbeck. „Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden?“
„Bis jetzt nicht.“
„Gar keine?“
Castro schüttelt den Kopf. Er könnte es sich bequem machen: Abschlussbericht, Unterschrift, fertig. Aber da ist noch was in seinem Kopf. Es ist, als stießen die Gedanken wie in einem Kugelspiel zusammen, als schickten diese Zusammenstöße Impulse aus, die ihm einfach keine Ruhe lassen.
„Dann schließ den Fall ab.“ Overbecks Bassstimme reißt Castro aus seinen Gedanken. „Was ist mit Angehörigen? Eltern? Verwandten? Freunden?“
„Ich kümmere mich darum.“
Friederike Weinbrenner wohnt in einem Mehrfamilienhaus am südlichen Stadtrand. Vom Parkplatz hinter dem Gebäude springt der Blick zu den bewaldeten Hügeln gegenüber. Das neu eingedeckte Dach der alten Raubritterburg explodiert in der Septembersonne, das unregelmäßige Stampfen einer Schrottpresse dröhnt aus dem Flusstal herauf. Der böige Wind kommt aus Südwest. Die Geräusche der nahen Autobahn sind nicht zu hören.
„Ja?“, ertönt eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher neben der Tür.
„Mein Name ist Castro. Hauptkommissar Castro. Wir haben telefoniert.“
Friederike Weinbrenner – er ist fast erschrocken über die Ähnlichkeit der Frau mit ihrer toten Schwester. Die gleiche zierliche Figur, der bis auf unwesentliche Nuancen gleiche Haarschnitt, die gleichen ebenmäßigen Zähne unter schmalen Lippen.
„Bevor Sie fragen: Wir sind Zwillinge“, sagt sie, nachdem sie ihn hereingelassen hat. „Eineiig.“
„Was ist mit Fee?“, fragt sie, nachdem sie sich gesetzt haben. Um ihn herum helle gemütliche Kiefermöbel, bunte Kissen, Kunstzeitschriften und Bücher auf dem Boden, afrikanische Masken an den Wänden. Kein Fernseher, nicht einmal eine Stereoanlage. Zumindest was ihren Geschmack anging, scheinen sich die Schwestern in unterschiedliche Richtungen entwickelt zu haben.
„Sie wollten mich wegen Felicitas sprechen“, sagt Friederike Weinbrenner, weil Castro schweigt. „Wegen meiner Zwillingsschwester.“
„Ja“, sagt er und stockt. Das Stocken gehört dazu. Immer. Zumindest bei ihm.
„Hat Fee etwas angestellt?“, fragt Friederike und lächelt.
„Ihre Schwester ist tot.“
So kann man das nicht sagen, denkt er, während er Friederike Weinbrenner beobachtet. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort falsch. Es gibt überhaupt keine Worte für das. Nirgendwo auf der Welt.
Der Körper der Frau strafft sich, das Lächeln fällt ihr wie ein toter Vogel aus dem Gesicht. Friederike Weinbrenner schiebt das Kinn nach vorn. Atmet ein paarmal tief ein und aus. Will sich vor ihm nicht gehen lassen. Castro kennt das, er hat es schon oft erlebt. Die Frau wird weinen, wenn er weg ist. Oder am nächsten Tag. Oder bei der Beerdigung.
„Das Herz?“, fragt sie. Ihre ungewöhnlich tiefe Stimme klingt deutlich höher als zuvor.
„Sie wussten davon?“
„Meine Schwester hat Tabletten genommen. Sie hatte eine Herzmuskelentzündung, glaube ich.“
„Und sie ist trotzdem gejoggt?“
Friederike Weinbrenner zuckt mit den Schultern. „Wo haben Sie sie gefunden? Am See?“
„Nein, in ihrer Wohnung. Wissen Sie, wer sie behandelt hat?“, fragt Castro. „Ich meine, kennen Sie den Namen des Arztes?“
„Nein.“
„Sie und Ihre Schwester haben sich wohl nicht oft gesehen.“
„Nein.“
„Ist das nicht ungewöhnlich bei eineiigen Zwillingen?“
Sie zuckt erneut mit den Schultern. Gesprächig ist die Frau nicht. Er versteht das. Manchen verschlägt es für Tage die Sprache.
„Gibt es außer Ihnen noch weitere Angehörige?“
„Nein.“
„Wo hat Ihre Schwester gearbeitet?“
„Bei einer Bank. Sie war dort für das Wertpapiergeschäft verantwortlich.“
„Sie hat wohl gut verdient.“
„Sehr gut, soviel ich weiß.“ Die Frau steht abrupt auf und reicht ihm die Hand. Sie fühlt sich warm und trocken an, erstaunlich angesichts dessen, was Friederike Weinbrenner gerade erfahren hat. „Bitte gehen Sie jetzt“, sagt sie.
„Könnten Sie sich vorstellen, dass es kein natürlicher Tod gewesen ist?“, fragt Castro.
Sie zögert. „Nein“, sagt sie, „das kann ich nicht. Sollte ich?“
„Hatte sie einen Freund?“, fragt er weiter. „Vielleicht sogar einen Lebensgefährten?“
„Ja, zumindest in den letzten Monaten. Sie hat ihn bei einem Telefonat mal erwähnt. Aber sie hat ihn vor mir geheim gehalten. Was wird jetzt weiter?“
Castro tritt auf den Flur hinaus. Aus der Wohnung gegenüber ist Kindergeschrei zu hören.
„Der Leichnam Ihrer Schwester befindet sich zurzeit noch in der Pathologie. Für Angehörige ist der Gedanke nicht schön, aber wir müssen wissen, woran sie gestorben ist. Das ist Vorschrift. Ich gehe davon aus, dass man die Tote morgen oder übermorgen freigeben wird“, sagt er. „Sie können dann über sie verfügen. Wir rufen Sie umgehend an.“
Verfügen, denkt er, schon wieder so ein schreckliches Wort.
Sie gibt ihm ein zweites Mal die Hand. Wahrscheinlich hat sie das erste Mal bereits vergessen. „Falls es Sie interessiert – ich war in den letzten Tagen auf Geschäftsreise“, sagt sie. „Vor gerade mal einer Stunde bin ich zurückgekommen. Ich kann Ihnen gern meine Bahntickets zeigen.“