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III

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Duschen. Den Schweiß abwaschen, der in jeder Pore zu sitzen scheint. Der Läufer schließt die Augen, lehnt den Kopf gegen die weiß gekachelte Wand und überlässt sich dem Stakkato der Tropfen. Sauber sein, denkt er und spürt, wie ihm Tränen in die Augen steigen, endlich einmal vollkommen sauber sein. Und es bleiben.

Nachdem er sich sorgfältig abgetrocknet und angezogen hat, macht er Frühstück. Er lässt sich Zeit dabei: ein kleines Müsli mit frischen Früchten, Toast, grüner Tee. Vitamine, Spurenelemente, Kohlehydrate, die antikarzinogenen Wirkstoffe des Tees – mehr braucht es nicht, um seine Körperfunktionen im Gleichgewicht zu halten. Das Dosha-Gleichgewicht, wie es die ayurvedische Medizin nennt. Der Läufer hat das früher für ausgemachten Unsinn gehalten, für esoterischen Quatsch, der jedem aufgeklärten Menschen die Haare zu Berge stehen lässt. Inzwischen hat er so gute Erfahrungen damit gemacht, dass er seine Vorbehalte aufgegeben hat.

Die Zeitung berichtet von einer Korruptionsaffäre im Bauministerium, von einem Unfall mit zwei Toten auf der Autobahn A 1, von der Rede eines deutschen Literaturnobelpreisträgers zum Krieg in Afghanistan, vom Rücktritt der Kulturdezernentin der Nachbarstadt. Auf der letzten Seite des Lokalteils entdeckt der Läufer schließlich, was er sucht:

Die Liebe hört nimmer auf.

Meine Schwester

Felicitas Weinbrenner

hat mich verlassen.

In tiefer Trauer:

Friederike Weinbrenner

Die Beerdigung findet statt am 12.9. um 14.00 Uhr von der Kapelle des Nordfriedhofs aus. Von Beileidsbekundungen am Grab bitte ich Abstand zu nehmen.

In der Bank, in der Felicitas Weinbrenner gearbeitet hat, führt man Castro ins Büro des Filialleiters. „Alwin Braun“, steht an der Tür. „Eine tragische Geschichte“, sagt der zur Begrüßung und versucht seiner Stimme und seinem Gesicht einen Ausdruck von Trauer zu geben. Der große Schreibtisch aus Metall und Glas ist bis auf eine Unterschriftenmappe und ein gerahmtes Foto leer. Ein typisches Familienbild, wie sie in Millionen Büros stehen: eine schlanke blonde Frau, ein Junge und ein Mädchen, vielleicht zehn und zwölf Jahre alt, alle drei in bunten Skianzügen vor einer verschneiten Bergkulisse.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt der Mann, weil Castro schweigt. Und fährt fort: „Ich dachte, Frau Weinbrenner wäre eines natürlichen Todes gestorben. Zumindest hat uns das ihre Schwester mitgeteilt. Wir haben uns an sie gewandt, weil wir keine Nachricht von Frau Weinbrenner hatten. Das passte nicht zu ihr. Sie war immer sehr zuverlässig, wissen Sie.“

Die schwarzen Ledersessel, der moderne Schreibtisch, die eleganten Regale aus Edelstahl, das Imitat einer Jugendstillampe unter der Decke – in Felicitas Weinbrenners Wohnung sieht es nicht viel anders aus, stellt Castro fest.

„Frau Weinbrenners Tod ist ein großer Verlust für unsere Bank“, sagt der Direktor, der die Stille offenbar nicht ertragen kann. Das ist nichts Besonderes, kaum einer der Menschen, mit denen es Castro zu tun hat, kann das. „Ja, ein außerordentlich großer Verlust“, wiederholt er, als hätte der Kommissar nicht zugehört. „Sie war auf dem Weg nach ganz oben, ja, das war sie.“

„Wo ist das, ganz oben?“, beendet Castro sein Schweigen.

Der Direktor verzieht sein Gesicht zu einem unbestimmten Lächeln. „Frankfurt, London, New York“, sagt er. „Eben da, wo die Musik spielt.“

Alwin Braun hat dichtes blondes Haar, nur wenige Falten im leicht gebräunten Gesicht, eine straffe Figur. Tennisspieler. Golfer. Oder wenigstens Jogger. Und sicher kaum älter als Felicitas Weinbrenner.

„Und was ist mit Ihnen?“, fragt Castro. „Wollen Sie auch dahin?“

„Wohin?“

„Nach New York, London, Frankfurt.”

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Ich bin ein Familienmensch, Herr Kommissar. Es gibt Aufgaben in unserem Geschäft, da sollten Sie unabhängig sein. Da müssen Sie jederzeit global verfügbar sein. Keine Familie hält das aus, sage ich Ihnen.“

„Wussten Sie, dass Frau Weinbrenner wegen ihres Herzens in Behandlung war?“

„Sie war herzkrank?“, fragt er. Im Gegensatz zu seiner Trauer scheint seine Überraschung echt zu sein. „Nein, darüber hat sie nie mit mir gesprochen.“

„Wie war Ihr Verhältnis zu Frau Weinbrenner?“, will Castro wissen.

„Geschäftlich“, antwortet der Direktor, und seine Stimme wird ein wenig lauter. Bei Vernehmungen kann das etwas bedeuten, muss aber nicht, weiß Castro.

„Rein geschäftlich“, wiederholt Alwin Braun, weil sein Gegenüber wieder einmal schweigt. Schweigen ist Macht, das hat Castro vom alten Sander gelernt. Kriminalrat Sander war eine Legende. Der Mann hat Mörder zum Reden gebracht, ohne mit den Menschen bis auf Begrüßung und Verabschiedung auch nur ein einziges Wort zu wechseln.

„Darf ich Frau Weinbrenners Arbeitsplatz sehen?“

„Selbstverständlich. Meine Sekretärin führt sie hin.“

Als er in der Tür steht, fragt Castro: „Hatte Frau Weinbrenner eigentlich in Ihrer Bank Freunde? Oder gute Bekannte? Jemanden, mit dem sie ihre Frühstückspause verbrachte oder sich mittags zum Essen verabredete?“

„Nicht dass ich wüsste“, antwortet Alwin Braun. „Sie war eine Einzelgängerin. Eigenwillig und auf eine charmante Weise unbelehrbar. Aber herausragend in ihrem Fach. Unsere Kunden hatten absolutes Vertrauen zu ihr. Es wird schwer sein, sie gleichwertig zu ersetzen – vielleicht sogar unmöglich“, fügt er hinzu.

Auch in Felicitas Weinbrenners Büro stehen schwarze Ledermöbel, gibt es viel glänzenden Stahl und einen dunklen Teppichboden. An der Wand hängt die großformatige Fotografie eines kybernetischen Objekts von Tinguely. Auf dem Schreibtisch liegen Aktennotizen, Blätter mit Börsennotierungen, die Wirtschaftsseiten verschiedener Zeitungen vom Vortag, daneben Textmarker. Die Schreibtischschublade ist nicht abgeschlossen. Sie enthält Papiertaschentücher, einen Streifen Kopfschmerztabletten, einen Piccolo, zwei Karten für ein Konzert des Saxofonisten Jan Garbarek in der kommenden Woche. Unter einer halb gefüllten Bonbontüte entdeckt Castro einen Zettel. „S. anr.“, steht in energischen Buchstaben darauf.

„Ist das Frau Weinbrenners Schrift?“, fragt Castro die Sekretärin, die in der Tür stehen geblieben ist und ihn schweigend beobachtet.

Die Frau wirft einen flüchtigen Blick auf den Zettel und nickt.

„Haben Sie eine Ahnung, wer diese oder dieser ‚S‘ sein könnte?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Vielleicht jemand aus der Bank?“

Die Frau denkt nach. „Nein“, antwortet sie schließlich. „Wir haben niemanden, dessen Nachname mit ‚S‘ beginnt.“

„Was ist mit den Vornamen Ihrer Kollegen?“

Wieder überlegt sie. „Tut mir leid, da gibt es auch keinen.“

„Könnte es jemand sein, der im letzten Jahr entlassen worden ist?“, fragt Castro nach. „Oder im vorletzten?“

„Nein“, antwortet die Frau. Sie ist um die fünfzig, auf keinen Fall jünger. „In dieser Filiale ist in den letzten dreißig Jahren niemand entlassen worden. Das müsste ich wissen.“

„Vielleicht ist die Person in Pension gegangen.“

„Nein.“

Castro steckt den Zettel ein. „Darf ich den Laptop mitnehmen?“

„Frau Weinbrenner hat sicher vertrauliche Daten gespeichert,“ widerspricht die Sekretärin. „Unsere Kunden haben ein Recht darauf, dass niemand ...“

„Gehört der Laptop Frau Weinbrenner oder der Bank?“, unterbricht er die Frau.

„Der Bank.“

„Sie bekommen ihn zurück, sobald wir die Daten überprüft haben. Die Vertraulichkeit bleibt in jedem Fall gewahrt. Das kann ich Ihnen verbindlich zusichern. Oder brauchen Sie einen richterlichen Beschluss?“

Die Sekretärin greift zum Telefon und ruft den Direktor an. Der ist mit einer Untersuchung der Festplatte einverstanden.

„Frau Weinbrenner hatte nichts zu verbergen“, erklärt die Sekretärin, nachdem sie aufgelegt hat. „Sie war die Korrektheit in Person. Jeder im Haus wusste, dass man sich hundertprozentig auf sie verlassen konnte.“

Castro klappt den Laptop zu. „Hatte Frau Weinbrenner zu jemandem in der Bank einen besonders guten Kontakt?“, will er wissen.

Die Sekretärin zögert. „Nun ja“, sagt sie endlich, „Herr Braun und Frau Weinbrenner hatten ein vertrauensvolles Verhältnis. Aber das wissen Sie sicher bereits.“ Sie will weitersprechen, doch sie bricht ab.

„Und?“

„Seit ein paar Wochen hat sich ihr Kontakt ausschließlich auf Internet oder Telefon beschränkt.“

„Was ist passiert?“

Wieder zögert die Frau. „Das weiß ich nicht“, sagt sie dann.

Natürlich weiß sie es – eine Affäre wahrscheinlich, der Chef und die ebenso schöne wie erfolgreiche Angestellte. Überraschende Dienstreisen. Keine familiären Verpflichtungen. Keine Kinder, die man wickeln, ins Bett bringen oder denen man bei den Hausaufgaben helfen muss. Und endlich mal kein Sex zwischen 24 Uhr und Mitternacht. Aber die Vorzimmerdame wird es Castro nicht erzählen, da kann er fragen, so viel wie er will. Nicht nur in solchen Unternehmen geht Loyalität über alles. Das hat er gleich bei seinem ersten Fall im Dezernat für Wirtschaftskriminalität erleben müssen. Die Geschichte, in der es um fragwürdige Kreditgewährungen ging, ist auch nach zwanzig Jahren noch nicht aufgeklärt.

Frau Weinbrenners behandelnder Arzt heiße Dr. Windgassen, erfährt Castro bei der Krankenkasse. Er sei Internist und spezialisiert auf Kardiologie.

Der Arzt empfängt Castro nach der Sprechstunde. Ein großer Mensch, gut aussehend, mit vollem schwarzem Haar, das an den Spitzen grau zu werden beginnt. Ein Mann wie aus der Fernsehwerbung, ein Doktor, den die Patientinnen lieben.

„Ich habe die Todesanzeige in der Zeitung gelesen. Ein ungewöhnlicher Fall, wirklich äußerst ungewöhnlich“, sagt er zur Begrüßung.

„Wieso?“

Der Arzt zündet sich eine filterlose Zigarette an. Merkwürdig, Castro kennt ausschließlich rauchende Ärzte.

„Frau Weinbrenner hatte eine Herzmuskelentzündung als Folge einer nicht vollständig auskurierten Grippe“, sagt Doktor Windgassen. „Sie hätte sich schonen sollen, das habe ich ihr auch nahegelegt. Stattdessen ist sie letzte Woche nach New York geflogen. Angeblich unaufschiebbare Termine, Sie kennen das wahrscheinlich.“

Castro reagiert nicht.

„Ich hatte ihr Antibiotika und ein Mittel zur Herzstärkung verschrieben“, fährt der Arzt fort. „Auf beide Medikamente hat sie außerordentlich gut angesprochen. Eigentlich war sie nach ihrer Rückkehr aus den USA über den Berg. Ja, den Eindruck hatte ich, eindeutig.“

„Eindruck? Haben Sie denn kein Belastungs-EKG oder etwas Ähnliches gemacht?“

Doktor Windgassen schüttelt den Kopf.

„Warum nicht? Ist das in einem solchen Fall nicht üblich?“

Der Arzt zieht nervös an seiner Zigarette. „Ich habe es nicht für nötig gehalten. Als Kardiologe sollte ich wissen, wann ein EKG indiziert ist, und außerdem ...“

„Sie ist in ihrer Wohnung gestorben“, unterbricht Castro ihn.

„Vermuten Sie ein Verbrechen?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Nun, Sie sind von der Kriminalpolizei.“

„Bei einer unklaren Todesursache müssen wir ermitteln, das sollten Sie wissen“, sagt Castro und fährt fort: „Frau Weinbrenner ist wahrscheinlich gleich nach dem Aufstehen zum Joggen gegangen und dann bei sich zu Hause gestorben. Übrigens unmittelbar nachdem sie gefrühstückt hat. Ihre Putzfrau hat sie gefunden. Frau Weinbrenner lag nackt auf dem Bett. Hatten Sie ihr eigentlich erlaubt, Sport zu treiben?“

„Sie hat mehr oder weniger darauf bestanden. Es gibt Patienten, da sind Sie machtlos. Das gilt übrigens häufiger für Frauen als für Männer.“

„Wusste Frau Weinbrenner, wie gefährlich das Laufen für sie war?“

„Sie war eine hervorragende Sportlerin, Marathonläuferin, die zweiundvierzig Kilometer in dreieinhalb Stunden, wenn Ihnen das was sagt. Gegen ein vorsichtiges Aufbautraining hatte ich nichts einzuwenden. Selbstverständlich habe ich sie darauf hingewiesen, dass sie sich auf gar keinen Fall übernehmen darf.“

„Im Augenblick gehen wir davon aus, dass sie beim oder gleich nach dem Geschlechtsverkehr gestorben ist“, sagt Castro.

Der Arzt stutzt und drückt seine Zigarette aus. „Mit wem?“, fragt er.

„Das wissen wir nicht. Sie vielleicht?“

Doktor Windgassen schaut ihn erstaunt an. Dann schüttelt er den Kopf. „Frau Weinbrenner war äußerst diskret. Sie hat mit mir nie über ihr Privatleben gesprochen. Das unterschied sie von anderen Patientinnen.“

„Von ihrer Schwester hat sie Ihnen auch nicht erzählt?“, fragt Castro.

„Sie hatte eine Schwester?“, fragt der Arzt zurück.

„Friederike Weinbrenner. Ihr Name stand unter der Todesanzeige. Die beiden waren eineiige Zwillinge.“

Castro steht auf. „Vielen Dank, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben“, sagt er.

Der Arzt gibt ihm die Hand. Zu Beginn des Gesprächs war sie trocken, jetzt ist sie feucht. Keine Hand, die einem kranken Menschen Vertrauen einflößen könnte. Wenn er einmal Probleme mit dem Herzen bekommen sollte, wird Castro sich einen anderen Kardiologen suchen.

„Ich verstehe noch immer nicht ganz, was Sie von mir wollen“, sagt Doktor Windgassen.

„Mir ein Bild verschaffen.“

Der Doktor wischt sich über die Augen. „Frau Weinbrenners Herz hat versagt“, murmelt er. „Ich bedauere das sehr, glauben Sie mir. Aber solche Todesfälle kommen leider immer wieder vor. Wieso glauben Sie, dass ich ...“

„Ich glaube gar nichts“, unterbricht Castro ihn. „Das Ganze ist Routine, reine Routine.“

Liebestode

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