Читать книгу Was ist Ruhm? - Max Kretzer - Страница 4
I.
ОглавлениеAn einem Abend des Jahres 1890 erregte ein sonderbares Fuhrwerk die Aufmerksamkeit der Passanten im verkehrsreichen Westen von Berlin. Ein Handwagen mit Bretterwänden, der vollgepfropft mit allerlei Gerümpel war, aus dem ein Modellierbock seine drei Beine in die Luft streckte, um das Herabrutschen der Gipsbüste einer Venus zu verhindern, wurde von einem schmächtigen, jungen Mann, Mitte der Zwanzig, gezogen, der als Laterne eine Papierdüte trug, in die man ein Licht gesteckt hatte. Hinten schritt der ältere Genosse, der, in der Linken eine kleine Petroleumlampe haltend, mit der Rechten kräftig nachhalf, sobald der Deichsellenker schwach zu werden drohte.
Der grosse Oktoberumzug war im Gange, und so mussten sie sich wiederholt an riesigen Möbelwagen vorbeiwinden, aus denen noch kurz vor Toresschluss die letzten schweren Stücke in die Häuser getragen wurden. Namentlich in der Potsdamer Strasse, wo das Leben allgewaltig brandete und die Pferdebahn alle Augenblicke ihre Warnungsklingel ertönen liess, war das Leiten des Gefährtes mit einer gewissen Gefahr verbunden, die durch das ungewohnte Amt des Führers noch erhöht wurde. Wenn sie sich dann glücklich wieder seitwärts an der Bordschwelle des Bürgersteiges befanden und einige Augenblicke anhielten, um Luft zu schöpfen, kamen sie sich mit ihren Habseligkeiten wie verkrümelt vor beim Anblick der glänzenden Möbel, die noch umherstanden, bevor kräftige Arme sie verschwinden liessen. Sobald dann die Träger die bleiche Venus erblickten, die, aufgepflanzt und von Stricken gehalten, mit ihren leeren Augen das Licht der Laternen auffing und das einzig Wertvolle bei diesem Wohnungswechsel zu sein schien, fielen derbe Witzworte, die auch die Heiterkeit der Vorübergehenden erweckten. Die Damen musterten die Gruppe und vergnügten sich lächelnd daran, was Lorensen, dessen noch milchbärtiges Gesicht von dem Lichtstumpf rötlich beleuchtet wurde, Veranlassung gab, seine breiten, gesunden Zähne zu zeigen und ihnen vertraulich zuzunicken, als gehörte er eigentlich in ihre Gesellschaft und hätte sich heute nur einen Jux gemacht, den Ziehhund zu ersetzen. Trotzdem er sich auf den ersten Blick als der Zartere von beiden erwies, war er doch der Keckere, sozusagen der Himmelstürmende, der den Lorbeer bereits in der Tasche hatte und die bewundernde Welt zu seinen Füssen sah. Gleich einem Rastelbinder trug er die Krempe des weichen Filzhutes weit heruntergestreift, weil er das Bedürfnis gefühlt hatte, sich hier, wo die Atelierzigeuner zu Hause waren, ein wenig unkenntlich zu machen.
Kempen war straffer und untersetzter, mit seiner Ruhe im schon vollbärtigen Gesicht mehr der Gegensatz zu der Lustigkeit des andern, der um Worte nie in Verlegenheit geriet und gern schwatzte, wo es eigentlich gar nicht notwendig war. So wurde Lorensen auch jetzt wieder lebhaft, als sie in die Steglitzer Strasse einbiegen wollten, wo ihr Dach ihnen winkte; er blieb aufs neue stehen, so dass der Wagen einen Ruck bekam, und wischte sich unter dem gelüfteten Hut den Schweiss von der Stirn, wobei eine Fülle hellblonden Haares sichtbar wurde; denn nicht nur die Anstrengung hatte ihn warm gemacht, sondern auch der milde Abend, der noch nichts von der Kühle des Herbstes verriet. Während des ganzen Tages war Berlin von der Sonne des Spätsommers durchzogen gewesen, deren Abglanz noch immer von den Mauern der riesigen Steinkasten ausgeschwitzt wurde, so dass der Dunst zwischen den Häusern lag. Lichtnebel wogte in der Ferne, der wie ein Niederschlag der ewig rastlosen, dampfenden Stadt sich mit den Menschen fortbewegte, gleichsam wie von ihnen mitgeschleppt.
„So treck doch man weiter“, sagte Kempen unwillig. Solange sie unterwegs waren, hatte er in seiner Verschlossenheit immer dasselbe geknurrt, weil ihm die Glocke der alten Lampe Sorge machte. Sein grauer Hut sass ihm wie ein Fez auf dem Kopfe und passte nicht recht zu dem kurzen, schwarzen Rock, der ihm etwas Schulmeisterliches gab.
„Ja, das sagst du so, Hermann,“ fiel der andre mit seiner holsteinischen Gemütlichkeit ein und setzte ihm auseinander, dass seine rechte Schulter durch den Strick bereits weich wie Ton geworden sei. Ganz unten auf dem Wagen lag eisernes Rüstzeug, dessen Schwere sich besonders fühlbar gemacht hatte. Plötzlich fing Lorensen an zu blasen, denn die Papierdüte ging in Flammen auf und erregte das Wohlgefallen einiger Jungen, von denen der eine lustig „Gross-Feuer“ rief. Ärgerlich, mit verbrannten Fingern, liess er den Lichtstumpf zur Erde fallen und trat die Flamme aus.
„Das hast du wieder mal gut gemacht! Guck doch nicht so viel nach den Mädels,“ brummte Kempen aufs neue und richtete die Venus wieder in die Höhe, die sich allmählich auf die Nase gelegt hatte. Hinten fielen Blechgefässe heraus, die mit einem Halloh von der hilfreichen Jugend aufgehoben wurden. Schon wollte man ohne Laterne weiterfahren, als sich drohend ein Schutzmann nahte, mit jenem berühmten Griff nach dem Taschenbuch, der den Schrecken aller Kutscher bildet. Kempen setzte ihm ihr Pech auseinander und holte zugleich zehn Pfennig aus seinem Portemonnaie hervor, die er Lorensen zu einem neuen Licht gab, denn dieser verfügte niemals über Geld, weil er leichtsinnig veranlagt war und daher dem stets nüchternen und sparsamen Hamburger die gemeinsame Kasse überlassen musste. Hurtig hatte sich Lorensen den Strick von der Schulter gestreift und suchte mit den Augen nach einem geeigneten Laden, innerlich erbost über die Knickrigkeit des Freundes, denn gern würde er gesehen haben, dass er ein grösseres Geldstück empfangen hätte, um rasch seinen Durst durch ein Glas Bier zu löschen, wie er es bei ähnlichen Gelegenheiten zu tun pflegte.
Ein halbwüchsiges Mädchen aus der Schar der Neugierigen erbot sich, ihm gefällig zu sein. Flugs legte sie ihr Paket auf den Wagen und eilte fort, um schon nach wenigen Minuten wieder zur Stelle zu sein. Aufgeweckt wie ein frühkluges Berliner Volkskind, hatte sie sich sofort eine durchsichtige Düte geben lassen und überreichte Lorensen die neue Laterne fix und fertig, die er nun vergnügt in Brand setzte, wobei er das hübsche, frische Gesicht der Kleinen mit den Augen des Künstlers betrachtete.
„Du bist ja mal ’n nettes Ding,“ knurrte Kempen mit seiner höchsten Liebenswürdigkeit und musterte sie ebenfalls, aber mit reinerem Blick als der andere, der in jedem hübschen Gesicht nur das Modell sah und alles, was dazu gehörte. „Wie heisst du denn?“ fügte er mit harmloser Neugierde hinzu und opferte ein zweites Streichhölzchen, um den Tabaksrest in seiner kurzen Holzpfeife zu entzünden.
„Klara Munk,“ erwiderte sie und machte einen leichten Knicks, was sich wie einstudiert ausnahm. Und als sie mit geschärftem Blick sofort erfasst hatte, dass sie hier keine gewöhnlichen Arbeiter vor sich habe, sondern bessere Leute, die auf alle Fälle Bildung besassen, liess sie lächelnd die Frage los, ob sie dem „Herrn“ vielleicht die Lampe abnehmen und ein Stück Weges tragen dürfe. Sie würde es gern tun und hätte Zeit, wenn es nicht gar zu weit wäre. Etwas wie Bedauern sprach aus ihren Zügen darüber, dass diese beiden Männer noch spät am Abend sich so quälen müssten.
„Lass sie, Hermann, sie bringt uns Glück,“ sagte Lorensen lachend und spannte sich wieder an die Deichsel. „Man jut, dass uns keen altes Weib über’n Wej jeloofen is.“ Manchmal suchte er etwas darin, die Sprechweise des niederen Berliners anzuwenden, was sich in seinem singenden Tonfall sehr merkwürdig anhörte.
„Pfui, wie gewöhnlich spricht der,“ dachte die Kleine und wurde schwankend in ihrer besseren Meinung. Erst Kempen, der in gut gewähltem Hochdeutsch dankend die Begleitung annahm und ihr die Lampe reichte, stimmte sie wieder um. So bogen denn alle drei links um die Ecke, dem stilleren Teil der Steglitzer Strasse zu, der in der Nähe der Eisenbahn liegt. Es war nicht mehr weit bis an ihr Ziel; schon nach fünf Minuten machten sie vor einem Durchschnittshause Halt, das aus älterer Zeit stammte und weder Balkon noch Erker zeigte. Da es bereits auf zehn ging, so griffen sie kräftig zu, um ihr Eigentum in das vierte Stockwerk hinaufzutragen, wo sie bei einer Witwe ein grosses, zweifenstriges Zimmer gemietet hatten. In dem breiten, ausgefahrenen Torweg standen Bewohner des Hinterhauses, die von der Abendluft noch nippen wollten. Lorensen nahm die Venus vom Wagen, drängte sich durch und schritt als erster die etwas unsaubere Treppe hinauf, die von zirpenden Gasflämmchen nur schwach erhellt war. Die Schönheit musste vorangetragen werden, das leuchtete ihm ein. Ein altes Weib, das er mit der weissen Larve erschreckt hatte, lachte hinter ihm her. Dann hörte er, wie oben eine helle Kinderstimme rief: „Mutta, die Kinstler kommen!“
Frau Lemke, eine kleine Person mit breiter Taille und aufgeschwemmten Zügen, aus denen aber gutmütige Augen sprachen, stand mitten in der erhellten Flurstube und begrüsste freundlich die neuen Mieter; aber schon beim zweiten Gange der Freunde wurde sie misstrauisch, denn vergeblich wartete sie auf Koffer und Kisten. Und als dann Kempen wiederum beladen die Stufen nahm, hörte er sie durch die offene Tür mit Lorensen keifen: „Nein, nein, das geht nicht! Wenn Sie keine Sachen haben, dann kehren Sie nur gleich um. Sie wollen wohl einen Stall aus meiner Wohnung machen? Wenn ich das nur geahnt hätte!“ Sie hatte erst jüngst schlimme Erfahrungen mit einem Möblierten gemacht, und so schüttete sie rücksichtslos ihren Ärger aus. Schon, als sie zum Fenster hinauslag, war sie verwundert darüber, dass diese Herren wie die Knechte ihren Wagen selbst schoben und statt der Herrlichkeit Lumpen und Eisen mit sich führten.
„Aber erlauben Sie mal, beste Frau,“ muckte Lorensen laut auf. „Das verstehen Sie nicht, hier steckt enormer Wert drin. Unsere Modelle sind unbezahlbar. Die Büste allein kostet hundert Mark. Warten Sie nur erst ab.“ Er schnitt gern auf, und so versuchte er, sie mit seinen Worten zu betäuben, die endlich in dem Satze gipfelten: „Wir haben eine Zukunft, liebe Frau, eine grosse Zukunft!“
Klara Munks helle Stimme klang dazwischen: „Aber das sind ja Künstler, das müssen Sie doch sehen. Die sind anders wie gewöhnliche Menschen.“ Ohne erst viel zu fragen und als verstünde es sich von selbst, hatte sie wacker Hand mit angelegt und hinaufgetragen, was ihre schwachen Arme vermochten.
„Gehörst du vielleicht auch dazu?“ fiel ihr Frau Lemke spöttisch ins Wort.
„So halb und halb,“ erwiderte sie lachend.
Lorensen blickte auf, konnte aber nicht mehr fragen, denn Kempen kam und beruhigte Frau Lemke, indem er ihr mit seiner trockenen Würde auseinandersetzte, dass sie durchaus nichts zu befürchten habe. Sie seien anständige und ehrliche Leute, die zwar keine Reichtümer besässen, aber doch so viel verdienten, um eine brave Frau nicht schädigen zu brauchen. Und um seinen Worten Nachdruck zu verhelfen, zählte er ihr sofort die Miete in harten Talern auf den Tisch; dann bat er, ihnen für heute etwas Petroleum abzulassen, damit sie ihre Lampe füllen könnten. Und um ihr Zimmer brauche sie nicht zu fürchten; es seien ganz reinliche Dinge, die sie hier trieben, dafür bürge er. Sie würde sich bald überzeugen, dass sie sehr gut mit ihnen auskäme, denn sie wollten nichts umsonst haben.
Sein gesetztes Wesen, das dem des andern so sehr widersprach, gefiel ihr, und so strich sie vergnügt das Geld ein, was ihr im Augenblick die Hauptsache war; dann hatte sie wieder freundliche Worte bereit und erfüllte sofort die kleinen Wünsche der beiden.
„Na, und du?“ knurrte Kempen das Mädchen an, als die Wirtin hinaus war. „Was sind wir dir denn schuldig?“
„Freundliche Behandlung,“ erwiderte sie lachend, wobei ihre Zähne blitzten.
Er wollte ihr einen Nickel schenken, sie aber dankte mit den Worten, dass es gern geschehen sei.
„Na, dann scher dich nach Hause,“ brummte er, ohne es böse zu meinen.
Die Tür stand noch offen, und so nahm sie ihr Paket und wollte hinausflitzen. Lorensen jedoch hielt sie zurück. „Nimm doch einmal die alte Schute vom Kopf,“ rief er ihr zu, und als sie ohne Ziererei seinen Wunsch erfüllt hatte und nun lächelnd den Hut mit den roten Bändern hin und her schwenkte, riss er seine blauen Augen, die sonst immer etwas müde unter den Lidern lagen, gross auf. Er sah einen schön gewölbten Scheitel, der sich in dem Glanz der saftigbraunen Haare wiegte, das zusammengeknotet üppig über den Nacken fiel. Kleine, anliegende Ohrmuscheln leuchteten zart auf diesem dunklen Grunde, und die Läppchen unten drängten sich nur wenig hervor, zerflossen fast in der weichen Fülle des schlanken Halses. Die Nasenflügel waren vielleicht etwas zu breit, aber sie stimmten zu den vollen Lippen des prachtvoll geschnittenen Mundes. Überall die keuschen Linien der knospenden Jugend, die aus dem Frühling in den Sommer hinein wächst.
„Hör mal, du bist ’ne hübsche Kröte,“ sagte Lorensen mit der Offenheit eines Künstlers, der seine Erfahrung hinter sich hat und nicht viel Umstände macht. Zudringlich fasste er sie am Zopf, Kempen aber fuhr erbost dazwischen. „Lass das, und du mach endlich, dass du dich verziehst. Sonst kommst du schliesslich nicht mehr ins Haus.“
„Ach, ich hab ’n Schlüssel,“ gab sie mit Unschuldsmiene zurück, brennend rot geworden durch die Schmeichelei des Blonden.
Lorensen lachte laut; Kempen aber knirschte ärgerlich mit den Zähnen, denn der Weiberhass packte ihn wieder, der ihm um so notwendiger erschien, je mehr er Beweise für die frühe Verderbtheit dieses Geschlechts bekam, das er niemals hatte verstehen lernen.
„Was ist denn dein Vater?“ forschte Lorensen weiter. Und als sie erwiderte, dass er tot sei, dass ihre Mutter aber für feine Leute Wäsche wasche und plätte, fügte er grossspurig hinzu: „Na, dann bist du ja gerade an die richtige Adresse gekommen.“ Und er schrieb sich ihre Wohnung auf und liess sie gehen. Mit einem Knicks gab sie jedem die Hand und schritt dann hinaus, gefolgt von Kempen, dem nun einfiel, dass der Wagen auf dem Hofe untergebracht werden müsse. Neugierig blieb sie unten stehen, bis er sein Werk verrichtet hatte. „Ja, bist du denn gar nicht fortzukriegen?“ sagte er gutmütig. „Solltest du Schelte kriegen, dann beruf dich nur auf uns.“
„Ach, Mutter schimpft nicht, die kennt mich schon. Ich bin selbständig,“ erwiderte sie mit einem gewissen Stolz und lief dann eilig davon.
„Ein richtiges Berliner Mädel,“ dachte Kempen und stieg nun wieder die Treppe hinauf, auf der das Gaslicht gerade verglimmte.
Oben hatte Lorensen sämtliche Fenster aufgerissen, um die muffige Luft, die noch in den Tapeten steckte, durch frische Luft zu ersetzen. Nun stand er in Hemdsärmeln mitten im Zimmer, umringt von dem Durcheinander ihres armseligen Daseins, wie jemand, der nicht weiss, wo er zuerst mit dem Aufräumen anfangen soll.
„Du, Hermann, das ist ’n Kopp, was? Der muss nächstens ’ran. Da ist Weichheit drin, so ’ne Linie hinten, weisst du, die so —. So was ist furchtbar echt.“ Wenn er nicht den richtigen Ausdruck fand, aber etwas ganz Besonderes sagen wollte, dann wandte er diese Schlussredensart an, die, hart ausgesprochen, etwas Komisches in sich barg, was noch dadurch verstärkt wurde, dass er mit dem gebogenen Daumen krampfhaft Luftlinien beschrieb, als striche er bereits vom weichen Ton etwas ab, um die Form herauszubekommen.
„Ach, dir stecken bloss die Weiber im Sinn,“ knurrte Kempen, und sofort schwebte ihm sein „Löwenkämpfer“ und sein „Gefesselter Prometheus“ vor — die beiden zukünftigen Meisterwerke, die er in kleinen Tonskizzen längst entworfen hatte und die ihm dereinst Geld und Ehren bringen sollten, sobald er in der Lage wäre, sie auszuführen.
„Jeder nach seiner Art, Hermann,“ wandte Lorensen ein und bat sich „auf ein paar Züge“ die Tabakspfeife des Genossen aus, da ihm die seinige heute früh zerbrochen war. Und mit Genuss paffend fuhr er fort: „Lass man — weibliche Puppen werden heute am meisten verlangt. Wir müssen erst ’s Tiergartenviertel haben, das ist die Hauptsache. Ein halbes Dutzend Nymphen, und wir sind schöne raus. Dann kommt erst das Grosse, das furchtbar Echte.“
„Ich seh dich auch noch als Kitsch-Meier enden,“ stiess Kempen wieder zwischen den Zähnen hervor, kniete nieder und schnürte einen grossen, alten Karton auf, in dem sich ihre Sonntagsanzüge befanden. Und während er sie glatt strich und in den einfachen Mahagonischrank hängte, vergnügte sich Lorensen über diesen Zornesausbruch, von dem er wusste, dass er weniger dem Künstler in ihm galt, als seiner leichten Auffassung von dem vorläufigen Schwimmen mit dem Strom. So plänkelten sie manchmal, wenn ihre Naturen sich zeigten, die aber den festen Freundschaftskitt nicht brechen konnten.
Frau Lemke kehrte zurück, stellte eine Flasche mit Petroleumrest neben das brennende Licht auf der alten, noch zugeklappten Waschtoilette, warf einen bedeutsamen Blick auf die schmokende Pfeife des Blonden, wobei sie an die frisch gewaschenen Gardinen dachte, und wünschte mit freundlichem Lächeln gute Ruhe. Sie sah den offenen Schrank mit den Kleidungsstücken, in dem sogar zwei lange Mäntel hingen, und ging nun mit der stillen Genugtuung einer stets um ihr Wohl besorgten Wirtin, die einen kleinen Trost mit sich nimmt. Alte, gefüllte Pappkartons erschienen ihr plötzlich wertvoller, als grosse Koffer, in denen nichts drin war.
Wirtschaftlich wie immer machte Kempen die Lampe zurecht, zündete sie an und blies das Licht aus, um zu sparen. Dann legte er ebenfalls seinen Rock ab und rührte abermals die Hände, um rasch ein wenig Ordnung zu schaffen. Wenn die neue Herbergsmutter am andern Morgen den Kaffee brachte, sollte sie einen besseren Begriff von dem „Kunststall“ bekommen, als am Abend vorher. Er säuberte mit einem Lappen den dreibeinigen Bock und stellte ihn vor das eine Fenster; nässte die Leinwand um den Klumpen Modellierton frisch an und brachte ihn in einer Ecke unter; hob die Venusbüste auf das Mahagonispind und breitete die Arbeitshölzer auf die wacklige Kommode unter dem Pfeilerspiegel aus. Die Skeletteisen wanderten in den Schrank, wo sie einstweilen von dem zukünftigen Gebrauch träumen konnten. Dann liess er die kleinen, zusammengetrockneten Tonmodellskizzen auf dem ovalen Tisch eine Reihe bilden, wickelte sorgsam die wenigen Gipsabgüsse klassischer Hände und Arme aus und legte sie auf das ausgesessene Sofa. Am andern Tage sollten sie die Wände zieren, um den Eindruck dieses Philisterzimmers würdiger zu machen. Eine Kiste mit gewöhnlichem Werkzeug, mit Töpfen und Blechgefässen verschwand unter der einen Bettstelle; und auch der freie Raum der andern musste es sich gefallen lassen, mit ähnlichen Dingen gefüllt zu werden.
Während dieser ganzen Zeit liess Lorensen ihn ruhig gewähren. Er hatte sich längst daran gewöhnt, dass Kempen das alles besser ohne ihn machte, viel sauberer und schneller, ohne Anspruch auf Hilfe. Höchstens, dass er ein paar gute Lehren austeilte, die aber nicht beachtet wurden. Der Blonde stopfte sich die Pfeife aufs neue, ging im Zimmer auf und ab und legte sich hin und wieder zum Fenster hinaus, um die Gegend zu studieren; dann schritt er an sein Jackett, das auf einem Nagel am Türrahmen hing, nahm einen Brief heraus, setzte sich und las ihn, wie er es an diesem Tage bereits mehrmals getan hatte.
So fand ihn Kempen, als er mit dem Gröbsten fertig war und nun einen grossen Berg Papier, Stroh und alte Lumpen in den Ofen hineinstopfte, den er sich unergründlich wünschte. „Na, es geht dir wohl wieder nahe, wie?“ stiess er pustend hervor, als er die letzte Arbeit glücklich verrichtet hatte und sich nun die Knie rieb. „Lies doch das Zeugs nicht mehr. Was will sie denn noch? Hübsche Sache, wenn es mal von dir heisst: „Er war Bildhauer, und sie hatte auch nichts.“
Über derartige eigene Scherze lachte er gern zuerst, und so gab er jetzt mit Vergnügen, kurz und bissig, auf diesem Wege seine Weiberfeindschaft zu erkennen, wobei er die Lampe auf einen anderen Platz stellte; denn er empfand das Bedürfnis, Wasser in die Schüssel zu giessen, um sich die zwar kleinen, aber derben Hände zu waschen, deren Finger mit breiten Nägeln die Merkmale der Arbeit zeigten.
Es handelte sich um eine Liebschaft Lorensens in Lübeck, der er schon vor längerer Zeit ein Ende gemacht hatte, an die er aber heute durch einen acht Seiten langen Brief erinnert worden war.
Schliesslich aber kniffte er das Schreiben wieder zusammen und heftete die blauen Augen vor sich auf die Diele; dann erhob er sich mit einem Ruck, zerriss die Bogen und sagte dabei wie aufgescheucht aus einer Beklemmung: „Das wollen wir uns noch ein bisschen beschlafen, Hermann. Erst aus diesem Luderleben heraus, das wäre wohl wichtiger, dächt ich.“
Kempen stand mit weit zurückgestrichenen Hemdsärmeln mitten im Zimmer, trocknete sich die Hände und stiess dann hervor, während er sich auch das Gesicht abrubbelte: „Nur nicht zu früh hängen bleiben, mein Junge. So ein Kerl wie du, der eine grosse Zukunft hat! Wenn du nur willst, dann kannst du schon was. Was für Feinheiten siehst du, verflucht noch mal! Wenn du nur endlich deine Schwäche lassen könntest! Sieh den Kunstgegenstand im Weibe, weiter nichts, das allein führt zur Grösse. Schlimm genug, dass wir Künstler ohne sie nicht fertig werden. Na, ich meide sie so viel als möglich, das weisst du ja. Das habe ich immer dir überlassen.“
„Jajaja,“ war alles, was Lorensen, nun schon gähnend beim Auskleiden, hervorstiess. Er kannte diese ewigen Redensarten des sonderbaren Menschen, der in seiner Jugend niemals Freude gehabt hatte, dessen ganzes Leben Entbehrung gewesen war und der die Enthaltsamkeit eines Spartaners besass.
Beide kannten sich schon aus ihrer Knabenzeit. Lorensens Vater war ein kleiner Beamter in Neumünster mit gutem, ehrlichem Auskommen. Kempens Mutter hatte als arme Witwe lange in demselben Hause gewohnt, bis sie wieder nach Hamburg zog, wo sie ein besseres Fortkommen zu haben glaubte. Hermann kam in eine Drechslerwerkstatt und musste sich frei lernen. Zugleich mit ihnen siedelte Fritz über und wurde als Holzbildhauer in die Lehre gebracht, weil er Neigung dazu hatte. Er lebte einigermassen gut bei Verwandten, während der andre saure Wochen durchmachen musste. Lorensen hielt es nur ein Jahr aus, dann ging er nach Lübeck zu einem Meister, wo Gipssachen fabriziert wurden. Kempen dagegen frass sich glücklich bis zum Gesellen durch. Vier lange Jahre stand er dann in einem Keller und drechselte immer dasselbe eintönige Zeug, um seine kränkliche Mutter mit ernähren zu helfen. Während dieser Zeit aber hatte sein bildhauerisches Talent sich entwickelt. Schon als Junge war er ein Kneter gewesen, der aus Brotkrumen und Wachs allerlei Figuren formte, bis er zum ersten Mal weichen Ton in die Hände bekam, wodurch ihm ein neuer Horizont aufging. Mit der Zähigkeit des begabten Menschen, dem der Vater weiter nichts als den gesunden Organismus hinterlassen hatte, stahl er sich die Freistunden ab, um seinen brennenden Kunstdurst zu stillen und zugleich die Lücken seiner Bildung zu überbrücken. Er besuchte die Fortbildungsschule am Sonntag, sass beim Lichtstumpf die halben Nächte über Büchern und sah in trostloser Einsamkeit ein fernes Paradies vor Augen.
Eines Tages tauchte Lorensen wieder vor ihm auf, der endlich seinen Vater breit geschlagen hatte und nun zu seiner weiteren Ausbildung auf dem Wege nach Berlin war. Als er die Kunstversuche des Freundes erblickte, in denen bereits die Klaue des Löwen sich zeigte, fand er zuerst vor Erstaunen weiter nichts als sein berühmtes: „Das ist furchtbar echt;“ dann aber war es für ihn eine ausgemachte Sache, dass Hermann sofort die Tretmühle verlassen müsse, um mit ihm zu fahren. Es wäre eine Sünde, ein Verbrechen an der heiligen Kunst, wenn er sein Talent verkümmern liesse! In Berlin würden sie sich schon durchstümpern, und er leiste einen Schwur, alles mit ihm zu teilen.
Er hatte bare dreihundert Mark in der Tasche, und so machte er mit seinem Versprechen gleich den Anfang. Für die Mutter Kempens wurde der Unterhalt auf einen Monat im voraus bestritten, was Hermann gern annahm, denn er hatte sich im Augenblick auch ferner sein festes Ziel gesteckt: in Berlin neben der Kunst die Arbeit nicht zu vergessen. So würde er dem Freunde bald alles vergelten können.
Sie fuhren also los, hinein in die verschleierte Zukunft.
Ein Jahr lang besuchten sie die Modellierklasse der Berliner Akademie, bis dann Lorensen in ein Meisteratelier ging, während Kempen der Gehilfe eines alten Bildhauers wurde, der zeitweilig von seinen vielgenannten Kollegen Aufträge erhielt, die er allein in seiner Scheune aber nicht bewältigen konnte. Der verschlossene Hamburger, der bereits bärtig wie ein Vierzigjähriger war und sich ein wenig unter den Jünglingen genierte, hatte bald herausbekommen, dass die akademischen Formen nicht für ihn geschaffen seien, und so klopfte er bei Walzmann an, dem halb verkommenen Genie, der nur arbeitete, wenn er Geld brauchte, die übrige Zeit sich jedoch dem Alkohol ergab. Hier konnte Kempen lernen und dabei auch verdienen, denn in der Heimat sass noch immer das Mütterchen, das von den Sorgen des Sohnes nichts erfahren durfte. In solchen Arbeitswochen blieb Walzmann durchaus nüchtern; er schloss sich dann in seinem „Müllkasten“, wie er das Atelier nannte, gänzlich von der Aussenwelt ab, um die Lieferungsverträge pünktlich innehalten zu können, die seine Auftraggeber mit ihm gemacht hatten. Ein gewisser Paragraph brachte ihn um einen Teil seines Lohnes, sobald er rückfällig zu werden drohte; und das gab ihm die jämmerliche Kraft, in Enthaltsamkeit auszuharren.
Während Lorensen zu einem Professor ging, um sorgsam eine Sprosse der Kunstleiter nach der andren zu nehmen, machte sich Kempen an jedem Morgen in aller Frühe wie ein Handwerker auf den Weg, um erst des Abends auf der gemeinsamen Bude mit dem Freunde zusammenzutreffen; und gleich einem Scharwerker brachte er an jedem Sonnabend seinen Lohn nach Hause, der dazu beitrug, die beiden notdürftig über Wasser zu halten, denn Lorensens Vater konnte nur einen geringen Zuschuss leisten.
So standen die Dinge, als die Freunde sich genötigt sahen, ihre Wohnung in der Nähe des Schiffbauerdammes aufzugeben, nachdem ihr dortiger Wirt, ein Kellner, erklärt hatte, die „Schweinerei“ nicht mehr ertragen zu können. Lorensen war allerdings in der Ausnutzung des Hofzimmers in letzter Zeit ein wenig zu weit gegangen. Eines Sonntags, in den Ferien, während Kempen im Zoologischen Garten weilte, um Löwenstudien zu treiben, hatte er sich ein bekanntes weibliches Modell der Akademie kommen lassen und ungeniert seine „Eva in Scham erglüht“ lebensgross zu modellieren begonnen. Das war der Ehehälfte des biederen Serviettenschwenkers zu viel, da sie sich obendrein in ihren Reizen zurückgesetzt fühlte. Sie schlug Lärm bei ihrem Manne, und die Folge davon war, dass der zum Leben erweckte Ton wieder sein feuchtes Klumpendasein führen durfte und die Stubengenossen nach einer gastlichen Stätte für ihren Ehrgeiz sich umsehen mussten. Da es bei Meister Walzmann nichts mehr zu tun gab, so machte Kempen den Vorschlag, die vierzehn Tage bis zum Umzug in der Heimat zu verbringen, wogegen Lorensen nichts einzuwenden hatte, schon aus praktischen Gründen, weil das Leben zu Hause nichts kostete.
Frisch gestärkt, mit gebräunten Wangen, war man wieder zurückgekehrt, hatte sich einen Wagen geliehen und die kühne Fahrt nach dem Westen gemacht.