Читать книгу Was ist Ruhm? - Max Kretzer - Страница 6
III.
ОглавлениеBildhauer Walzmann schob sich auf seinen kurzen Beinen herein, halb seitwärts, in jener eigentümlichen Gangart, die durch die rechte emporgezogene Schulter hervorgerufen wurde, hinter der das mächtige Haupt eingeengt, fast haltlos lag. Etwas Monumentales sprach aus diesem Kopf, der, fest gefügt, den wackligen Körper mit seiner Wucht zu erdrücken versuchte, so dass die Beine mit dem hervorgekehrten Knie etwas Schlotterndes hatten.
„’n Abend, Kollegen, ’n Abend,“ sagte er eintönig mit seiner verrosteten Stimme, ging im Kreise umher und schüttelte jedem kräftig die Hand. „Ich suchte dich schon, ich suchte dich schon,“ wandte er sich dann sofort an Kempen. „Es gibt zu tun. Neue Nahrung! . . . Unhöfliche Menschen hier im Hause! Dja. Kann man auch nicht wissen, dass du vier Treppen wohnst. Dja. Die Maler ziehen nächstens in den Keller. Verkehrte Welt.“
Jeden, der zum Bau gehörte, nannte er du, wie ein Fürst, der besondere Gnaden erteilt, wobei es ihm gleichgültig war, mit welcher Anrede man ihn bedachte. Im Dunkeln hatte er bereits die beiden grossen Höfe hinten abgesucht, um die Spuren der Freunde zu entdecken, bis man ihn schliesslich hier hinauf wies.
„Wie geht’s Ihnen, Meister?“ sagte Kempen, der ihn mit sichtlicher Achtung behandelte.
„Danke, danke,“ erwiderte Walzmann in seinem Telegraphenstil, klemmte den schäbigen Schlapphut unter den linken Arm und kraute sich mit der Rechten in dem kurzen, stark ergrauten Flockenhaar. „Man vegetiert. Backt seinen Kunstmist ruhig weiter . . . Dja. Und Ihr lebt bon. Prasst. Habt wohl geerbt? Kann mir nie passieren. Ich beerbe mich selbst. Meinen Kadaver. Ist auch danach. Krepiere ich, heulen nur die Professoren.“
Alle Berühmtheiten unter den Bildhauern bezeichnete er mit diesem Sammelbegriff, wodurch er seinen grausigen Spott zum Ausdruck brachte. Er hatte den Geruch von feuchtem Gips mit hereingebracht, den ganzen strengen Duft der Arbeit, den er ewig mit sich herumtrug. Weisse Spritzerchen sassen ihm noch auf dem Gesicht und hafteten an seinem pfefferfarbigen Rock, der liederlich einen Knopf baumeln liess. Die engen Beinkleider langten nach unten nicht, so dass die Strippen der Stiefel sichtbar wurden. Etwas Weltabgeschiedenes war mit ihm hereingekommen, etwas Sonderbares und zugleich Possierliches. Aber niemand lachte, denn alle kannten diesen Ruhmlosen, der sein Genie zu Markte trug, um „die grossen Hühner fett zu machen,“ wie er sich auszudrücken pflegte. Ganze Sagen hatten sich bereits um ihn gesponnen, von seinen Schrullen, seinem Einsiedlerleben und der Fixigkeit, mit der er gleich einem Heinzelmännchen die schwierigsten Aufträge im Handumdrehen überwand. Man raunte sich bedeutende Namen zu, die durch ihn zu Glanz gekommen seien, sobald er ihnen als stummer Gehilfe sein mächtiges Können geliehen habe. Und noch war es im Gedächtnis der Alten, dass die grosse Gruppe: „Germania, Elsass und Lothringen umarmend“, die am Einzugstage 1871 den Potsdamer Platz schmückte und allgemeines Aufsehen erregte, von ihm in einem Zuge zusammengekittet worden war, ohne dass man damals viel Notiz von dem eigentlichen Schöpfer genommen hatte. Ein richtiger Lohnsklave der Ateliers, hatte ihn längst jeder Ehrgeiz verlassen, und so tappte er gewohnheitsmässig als ein Furchentreter der Kunst weiter, liess hinter sich ruhig säen und machte sich nichts aus der Ernte, die die Klügeren auf Kosten seiner Kraft hereinbrachten.
Kaum hatte er sich in der anderen Sofaecke neben Schmarr niedergelassen, als Nuschke ihn fragte: „Sagen Sie, Meister, was ist Ruhm?“
Walzmann kniff die Äuglein zusammen und verzog den etwas schiefen Mund. „Eine gute Jauersche, Erbsen mit Pökelfleisch. Wenn’s hoch kommt, ein saftiges Beefsteak. Dja. Es kann auch Bratwurst mit Lorbeer sein. Gewiss, gewiss! Sag’, doch, mein Junge —.“
Sein trockener Ernst reizte zum Lachen, ohne dass man sich Mühe zu einer Widerlegung gab; denn man wusste, dass sich dahinter nur sein tiefer Ingrimm versteckte, der ihm zur Philosophie der Wurschtigkeit verholfen hatte.
Er begriff nicht, wie man sich über solche Dinge noch aufregen konnte. Dann langte er nach der Skizze des Löwenkämpfers, die er sorgsam drehte und prüfte. „Kerl du! Neuer Michel Angelo. Dja,“ wurde seine Bewunderung laut. „Und so etwas zeigst du mir nicht? Verflucht noch mal. Idee, Idee! Das seh ich. Mal was andres als die Konditorschmiere. Marzipanguss, wohin man sieht. Dja. Glasierte Kuchenmänner, was nachher Denkmal heisst. Pfui Deibel, ist die Kunst zur Dirne gesunken!“
Und er spie aus, hob die linke Schulter, um ein Gleichgewicht herzustellen, und fuhr fort: „Schlüter, Schlüter! Der Grosse Kurfürst und die Schlossfassade. Danach strebe, danach strebe! Nichts Grösseres als dieser Kerl! . . . Nein, nein, ich will nicht trinken!“ unterbrach er sich. „Gib mir ein Glas Wasser, nur Wasser, ich muss nüchtern bleiben. Morgen früh um sieben knete ich schon. Es muss, es muss! Der Dreck will gemacht sein. Zwei tüchtige Schinken, du kannst dir denken.“
Er schob das Bier zurück, faltete die welken Hände über den Leib und sprach mit geschlossenen Augen seine Kunstandacht weiter, in der ihn niemand störte. „Schlüter, Schlüter! Dieser Gott, dieser Spitzbube! Hat mir mein Herz gestohlen, die eine Hälfte; die andere hat Beethoven. Dja . . . Habt Ihr denn keine Drahtkommode? Spiel Beethoven, Nuschke! Die Neunte! Die Herrliche . . . Die Pathétique, was du willst, nur Beethoven! Meine Seele dürstet. Hab mich geärgert über einen Hundsfott von Professor. Dja. Handelt sechs Dreier ab, dieser Krämer. Die Welt ist voller Lumpen.“
Nuschke sagte nichts, aber plötzlich blies er mit den Lippen „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“, so wunderschön, dass alle ergriffen lauschten.
„Gut, gut, mein Sohn,“ liess sich Walzmann wieder hören. „Ausgezeichnet, aber etwas eintönig dein Klavier.“ Er gluckte ein kurzes Lachen herunter. „Könntest als Solist gehen. Bleib in der Übung, bilde dich aus. Wenn deine Opern nicht aufgeführt werden, hast du doch ein Handwerk. So war’s mit mir. Träumte von einem Tempel aus Marmor. Sitz jetzt im Müllkasten. Kinder, man muss kriechen, man muss kriechen! Dann kommt man zur Höhe. Wer aufrecht steht, ist ein Rebell. Dja! Ein Anmassling, ein Stolzling, ein Kümmerling, ein Krümelsucher, ein nichtsnutziger Strassenspatz. Dja. Futterneid, nichts als Futterneid! Jawohl, meine lieben Zigeuner. Der Kampf um die Krippe. Die Bauchrutscher siegen . . . Kommt, kommt und seht Euch meinen Goethe an. Ausgeschlossen von der Konkurrenz, das Mass stimmte nicht. Herrlich, himmlisch! Ein Denkmalkomitee aus Sardellenhändlern. Als ob man Jupiter nach Zollen messen könnte! Nicht nach Metern, sondern nach Meilen. Dja. Über die Toga sitzt der Frack zu Gericht. Jupiter flieht. Auf seinem Sockel steht Stadtrat Meyer. Der Tempel stürzt, die gute Stube wird zum Tribunal. Alt-Hellas sitzt auf der Rosinante, und der Droschkengaul zieht den Strassenkarren der Thebaner. ‚Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft!‘ Dja. . . . Stand gestern beim Mondschein vor Schlüter, hielt Zwiesprache mit ihm. Kam mir wie ein richtiger Seifensieder vor, schlich beschämt weiter. Sah dann seine Totenmasken am Zeughaus, hatte eine Vision. Lacht nicht, Kinder, ich war nüchtern! Die Ruhmlosen starben und sandten die Anklagen zum Himmel. Verflucht, dieser Skandal! Brechende Augen und Flüche. Sterbesenfzer, Jammern nach einem Labetrunk.“
Plötzlich unterbrach er sich und blickte auf Kempen. „So gib mir doch etwas zu trinken, Hermann. Ja, denkst du vielleicht —?“ Wiederholt hatte er nach dem Glas mit Wasser gegriffen, das er aber jedesmal wieder von sich schob, wie jemand, der zwischen zwei Dingen zu wählen hat. „Ich verstehe dich nicht, mein Junge, die Arbeit läuft doch nicht fort, nein,“ sagte er dann mit Milde in seiner Stimme. „Übermorgen ist auch ein Tag. Was habe ich dir denn getan? Gönn mir doch den Schluck.“ Und ohne erst die neue Einladung abzuwarten, holte er sich das Bier heran und trank den übrigen zu.
Schon der erste Tropfen Alkohol warf ihn um und kehrte den andern in ihm hervor, der nach Betäubung verlangte. Aber noch hatte er sich in der Gewalt. „Nein, nichts mehr.“ Er verdeckte mit der Hand das leere Glas, das Lorensen ihm aufs neue füllen wollte. „Einen Schluck noch, meinetwegen.“ Die Reue, nicht festgeblieben zu sein, packte ihn bereits, denn wochenlang trank er nur Wasser und kalten Kaffee, den er sich selbst in einer riesigen Kanne braute.
Kempen riss Lorensen die Flasche fort, aber schon fühlte Walzmann immer mehr die Schwäche, die ihn am seidenen Faden zog. Sein Mut sank zum Eigensinn, der ihn rauhbeinig stimmte. „Kempen, mein Junge, dankst du mir so? Wer hat dir was beigebracht? Ich, ich, Peter Walzmann, der Prolet, der Lohnschinder, der Dachspatz, der den Grossen etwas auf die Köpfe macht. Das ist mein Trost, meine Freude, dass ich wenigstens wegfliegen kann, wenn ich will . . . Jungs, jetzt wollen wir lustig sein. Ins Nirwana hinein. Hier, holt Bier, holt Kognak, einen mit drei Sternen. Lasst die Kunst leben, die heilige, edle Kunst, die Trösterin der Armen und Bedrückten. Die Göttliche, die Ewige, die Eine! Denn es gibt nicht die Kunst, sondern nur eine. Das ist’s, was die Banausen alles vergessen, die alles rubrizieren möchten. Bleibt ihr treu, dieser Einen, die uns alle umschlingt mit ihren weissen Armen. Meidet den Schmutz, blickt immer nach oben, wo die Reinheit den Erdendunst verzehrt. Prosit, prosit, meine Jungs, es lebe die Jugend, denn ihr gehört die Zukunft!“
Drei harte Taler waren auf den Tisch geflogen, denn er hatte den Lohn für die letzte Arbeit in der Tasche, ein nettes Sümmchen, das er aber noch nicht an den Mann hatte bringen können, weil die neue Bestellung so plötzlich gekommen war. Nun, wo ihm das Bier die Zunge gelöst hatte, sprach er nicht mehr in abgehackten Sätzen, sondern fliessend wie aus einem Buch. Gleichsam war Schwung in ihn gefahren, der ihn fortführte vom Alltag in den seligen Zustand der Vergessenheit. Er fand bilderreiche Worte, stieg und sank in seiner Empfindung, pfiff, stimmte ein Lied an und fühlte sich plötzlich jung unter diesen Strebenden, die, eine vergnügte Nacht vor sich sehend, die Lobeshymne auf ihn in jeder Tonart sangen.
„Es lebe der Meister, es lebe der Meister!“
Die Gläser klirrten, und Nuschke blies einen Posaunentusch dazu. Schmarr erhob sich und wechselte den Platz, denn der Gedanke, als Verwachsener neben einem ähnlichen zu sitzen, hatte ihn längst unruhig gestimmt. Diese beiden betrachteten sich immer mit feindlichen Blicken, ohne dass sie sich es merken liessen; gewissermassen wollte jeder der Schönere von ihnen sein, machte der eine den andern im stillen für das eigene Übel verantwortlich. Trotzdem kamen sie gut miteinander aus, sobald es sich um ihre Kunst handelte.
Blankert setzte sich neben Walzmann und berichtete ihm von dem Eigensinn des Kleinen, worauf sofort die Antwort kam: „Bravo, bravo, Schmarr! Lieber Kitscharbeit machen, Säulenheilige und Torherkulesse, wasserspeiende Frösche und Postamentgesindel. Nur nicht den personifizierten Stumpfsinn verewigen. Deine Kurrendejungs, prima fein! Brauchst du Geld, brauchst du Geld? Hier, mein Junge, zier dich nicht. Pumpen ist keine Sünde, nur das Wiedergeben.“
Er holte sein geblümtes Taschentuch hervor, in das er das Gold eingeknotet hatte, und schob ihm nun ein Zwanzigmarkstück hin, das aber Schmarr nicht nahm, obwohl seine grossen Augen darauf haften blieben. Erst als Walzmann zartfühlend ihm erklärte, dass er gern dafür einen Abguss seiner „Singenden Knaben“ haben möchte, streckte er den langen Arm aus und strich das Geld vergnügt ein. Gleich darauf zog ihn Lorensen beiseite und setzte ihm leise auseinander, dass ihm die Hälfte davon heute noch zufallen müsse als Abschlagszahlung für die Schuld. Kempen brauche davon nichts zu wissen, denn er halte ihn so knapp, dass er ihn selbst an den Groschen zum rasieren dreimal ermahnen müsse.
„Gut, gut,“ raunte Schmarr zurück und hielt in seiner Tasche das Goldstück krampfhaft fest. „Gehen wir nachher wechseln.“
Kempen dachte nicht daran, Kognak holen zu lassen, denn dann würde die ganze Gesellschaft sicher betrunken werden und den Skandal noch vergrössern; aber knickrig, wie er war, hatte er sich doch einen Taler angeeignet, während er das andre Geld dem Spender wieder zusteckte. Draussen war Frau Lemke mit Worten von ihm bestochen worden; sie kam herein, brachte Zigarren und frisches Bier und gebrauchte dabei die Ausrede, dass das andere Gewünschte nicht zu haben sei. Sofort sprang Walzmann auf, fasste sie unter und wollte sie mit Gewalt zum Platz nehmen bewegen. „Setz dich doch, mein Kind, sei vergnügt mit uns. Das Leben ist so kurz! Hast du nicht noch eine hübsche Tochter? Siehst du, ich feiere heute meinen Geburtstag.“
Das sagte er zehnmal im Jahre, trotzdem es nie wahr war. Sie lachte und wehrte sich, entsetzte sich dann aber aufs neue über diese Wirtschaft, die sie noch nie erlebt hatte. Sie müsse nun um etwas Ruhe bitten. Das Fräulein nebenan, das Fräulein!
„Ist sie jung? Herein mit ihr!“ schrie der Alte sofort; dann aber, als er hörte, dass die Dame eine Lehrerin von fünfzig Jahren sei, fügte er hinzu: „Lass sie draussen, lass sie draussen! Wir können nur Jugend und Schönheit gebrauchen, die Hässlichkeit wird abgeschlachtet. Sieh mich an, ich wäre beinahe als Apoll auf die Welt gekommen, aber meine Mutter war dagegen. Du hast einen Jungen? Steck ihm das in die Sparkasse und halt dir die Ohren zu.“
Kopfschüttelnd über diesen Unsinn verzog sie sich, umbrüllt von den heiteren Gesellen.
Alle sechs drückten sich in dem Zimmer umher, durch das der Tabaksqualm seine blauen Wogen trieb, die die Köpfe umnebelten, unaufhörlich zur Decke stiegen und erst allmählich durch das geöffnete Fenster zogen. Sie schwatzten und lärmten, sprachen von ihren Plänen, schimpften auf die Kritik und rissen die Grössen herunter, die augenblicklich mit Kaiserdenkmälern das beste Geschäft machten. Ein Scherzwort von Begas rief lautes Gelächter hervor. Er sollte über die Eintönigkeit der vielen Reiterstandbilder des alten Kaisers die Bemerkung getan haben, dass in späteren Jahrhunderten bei einer Ausgrabung all dieser Arbeiten ein zukünftiger Schliemann die Worte sprechen würde: „Hat der Mann viel zu tun gehabt.“ Und Walzmann erzählte von einem bekannten Dutzendfabrikanten, der Denkmäler in jeder Grösse und in jeder gewünschten Veränderung anbiete und die Probemodelle dazu stets auf Lager halte. Er selbst habe in diesem „Pferdestall“ die Paraderosinanten geknetet und Bewegung in die steife Gangart hineingebracht. Als er dann aber einmal etwas „geschüttert“ habe, sei ihm der „Konditormeister“ gleich mit dem Vorwurf der Unnatur gekommen, die heute nicht mehr herrschen dürfe, mit dem Hinweis auf Rollkutscherbestien und schwere Litauer, die dem Zeitgeschmack nicht mehr entsprächen.
„Jungs, Jungs, das ist’s eben, worunter wir leiden,“ rief er wild aus, „unter dem Kleingehirn dieser Marzipangiesser. Sie sehen nur die Gattung und nicht das Individuum. Ewigkeitsgrösse will ich sehen, Ewigkeitsgrösse! Rosse will ich sehen, aber keine Pferde. Dja. Ein grosser Mann muss auch sein grosses Tier haben. Menschliches und tierisches Ideal vereint zu einem Guss. Herrscher oben und Herrscher unten. Zwei Grössen in einer. Das Pferd des Kopagniechefs ist nicht das Pferd des Kaisers. Und der alte Wilhelm auf dem Tempelhofer Feld ist nicht der Wilhelm auf dem Postament. Gestaltung, Kinder, Gestaltung, nicht blöden Abklatsch. Aber wo ist das Grossgehirn unsrer Zeit, das diese Kunst erfasst? Tausend Zwerge und kein Riese . . . So, nun wollen wir Sekt trinken, Kinder. Kommt, ich lade Euch ein.“
Es war nichts dagegen zu machen; sie mussten alle mit. Der Quartaltrinker in ihm hatte sich plötzlich gemeldet, der ihn in solchem Zustand von einer Budike zur andern trieb. Nur Kempen blieb zurück, denn jede Schlemmerei erfüllte ihn mit Widerwillen. Es war noch nicht zehn Uhr, und so stolperten sie lachend die Treppe hinunter. Als der Enthaltsame sich dann zum Fenster hinauslegte, sah er sie drüben ans der andern Seite in einem gewöhnlichen Lokal verschwinden, zu dem die Stufen direkt von der Strasse führten. Vorn trank man Weissbier und Schnaps; nebenan, im besseren Zimmer, durfte der gute Rock sich breit machen. Für solche Halb-Destillen hatte Walzmann eine besondere Vorliebe; dann setzte er sich mitten unter die Arbeiter, liess sie trinken, was sie wollten, und hielt ihnen einen Vortrag über Kunst, wie sie ihn sicher noch niemals zu hören bekommen hatten.
Es war still in diesem Winkel; kein Wagen fuhr, so dass der Schall jedes Wort herauftrug, das drüben gesprochen wurde. Tür und Fenster standen offen. „Sekt, Sekt wollen wir haben. Lass ihn holen, wenn er nicht da ist“, hörte Kempen den Wunderlichen laut rufen. „Jawohl, Herr Professor,“ war die Antwort von jemand, der ihn schon kennen musste. „Scher dich mit deinem Professor zum Teufel! Beleidige mich nicht,“ rief Walzmann wieder. Dann, als man im dunklen Zimmer Licht gemacht hatte und die Köpfe sich in dem hellen Schein bewegten, brüllte er fort: „Beethoven, Beethoven, mein Junge. Schlag den Kasten auf.“
Rauschend drangen die Klänge einer Sonate heraus. Zwei Droschken fuhren vorüber, deren Gerassel die Stimmung zerstörte. Hin und wieder trat ein schwarzer Schatten in die erleuchtete Tür, verschwand drinnen, oder verlor sich auf der Strasse, deren Häuser fast schon dunkel lagen.
Als Kempen dann schärfer hinunterblickte, bemerkte er drüben ein Mädchen, das unbeweglich lauschte, dann aber die Augen zu ihm erhob und freundlich nickte, als begrüsste sie einen guten Bekannten. Es war die Kleine, die ihr Paket trug und sich wahrscheinlich verspätet hatte.
„Bist du schon wieder da, scher dich doch nach Hause!“ knurrte Kempen vor sich hin, selbst überzeugt davon, dass sie ihn nicht verstehen würde. Ärgerlich und verstimmt über das Ende dieses Abends zog er den Kopf zurück, brachte den Tisch in Ordnung, holte Papier, Tinte und Feder hervor und schrieb an seine Mutter, in grossen und kräftigen Buchstaben, die sich wie mit einem Streichholz gemalt ausnahmen. Deshalb hatte er den Stubengenossen gehen lassen, um noch eine Stunde allein mit seinen Gedanken zu sein.
Als er fertig war und Lorensen noch immer kein Pfiffsignal gab, wie sie verabredet hatten, stülpte er sich den Hut auf und stieg die Treppe hinunter, um ihn von drüben zu holen. Durch die Tür sah er nur den Wirt, der einsam am Schanktisch sass und seine Zigarre rauchte; nebenan jedoch schlug die Unterhaltung ihren tollen Wirbel, gingen die Wogen des Gelages hoch, so dass sie in kräftigen Worten überschäumten. Die Vorhänge waren zugezogen, ein Fensterflügel jedoch stand noch offen. Schon wollte Kempen hineingehen, als er Walzmann mächtig dazwischen fahren hörte, der schon ganz nett angeschmort zu sein schien und mit schwerer Zunge sprach. „Was hat Kempen gesagt? Der Ruhm ist ein Mann? Quatsch! Der Ruhm kommt von Kunst, und die Kunst ist ein sprödes Weib, das erobert sein will. Herkules ist Roheit, Venus Vollendung. Dja. Nur das Weib gibt uns Kraft, jawohl, meine Jungs. Denn die Mutter trägt uns bis zum Licht. Auf das Weib also! Auf die passive Athletin, die alle Goliaths bezwingt! Stosst an! Hoch das Weib, hoch die Schöpferin hinter der Kulisse! Alles Leid kommt vom Weibe, alles Grosse kommt durch das Leid. Ergo!“
„Jawohl. Hoch das Weib!“ brüllte der Chor in wüsten Zecherton, und die Gläser klirrten.
„Pst. Nicht so laut, meine Herren!“ rief der Wirt hinein.
„Noch eine Pulle,“ grunzte Walzmann und empfing sofort höfliches Entgegenkommen; dann bezwang seine Stimme wieder die andern. „Lorensen, er kann was, er kann was, das muss ich dir sagen,“ fuhr er fort. „Du bist Teig, er ist Eichenholz. Bin neugierig, wer weiter kommen wird, er oder du. Merkwürdige Kerle, die Ihr beide seid! Aber beim Becher bist du mir lieber, denn du bist kein Spielverderber. Er aber ist ein Wasserheiliger . . . Nuschke, schenk ein. Trinkt, Kinder, trinkt! Das Leben ist so kurz.“
Ein neuer Pfropfen war gesprungen, und der Knall hatte sich scharf und hell in die Nacht hinaus gefunden. Kempen ging nicht hinein, denn sicher würde man ihn mit einem Halloh empfangen und nicht mehr loslassen. Es bohrte etwas in ihm, was ihn traurig stimmte um Lorensens willen, der nie an sein gegebenes Wort dachte, sobald er beim Becher sass. Mochte er sehen, wie er ins Haus kam.
Kempen schritt wieder hinauf in seine Wohnung und legte sich aufs Ohr, bewegt von dem Gedanken an sein grosses Ziel.