Читать книгу Der irrende Richter - Max Kretzer - Страница 4
I.
ОглавлениеAls der Landgerichtsrat Sonter die Durchsicht des Aktenstückes in Sachen Goland kontra Goland beendet hatte, erhob er sich von seinem bequemen Rohrsessel und ging durch das nebenan liegende Speisezimmer hinaus auf den Balkon, um die Blumen zu betrachten, die, wohlgeordnet, in fast gleichmässig hohen Töpfen die steinerne Brüstung dermassen schön zierten, als hätte die sorgende Hand eines Gärtners mit Verständnis gewaltet.
Es war im Juni, und die Vormittagssonne brannte schon heiss, so dass Sonter es unter der herniedergelassenen, blaugestreiften Markise als eine Wohltat empfand, sich, wie gewöhnlich bei seinem Studium, ledig der zu sehr beengenden Kleidungsstücke zu befinden, was ihn (er hatte es auf Umwegen erfahren) bei den Bewohnern des gegenüberliegenden Hauses in den Ruf gebracht hatte, noch immer ein an Bewegungsfreiheit gewöhnter Junggeselle zu sein, der es mit seinem losen Aufzug nicht so genau nehme. In dieser stillen Strasse des bereits auf Charlottenburger Gebiet liegenden Westens, wo schon ein vorübersausendes Auto die Menschen aus ihrer Ruhe schreckte, sahen sich die Leute gegenseitig in die Fenster und versuchten, schon aus den täglichen Gewohnheiten der Nachbarn deren Beruf und Lebensweise zu ergründen.
Sonter, der unter dem gelben Alpakajackett die Weste vermissen liess, zeigte sich auch ohne Stehkragen, weil dieser ihn zumeist bei seiner häuslichen Arbeit genierte, was wohl mit dem etwas kurz geratenen Halse zusammenhing, auf dem der massive, prachtvolle Napoleonkopf etwas schief sass, so dass dadurch der Eindruck einer leichten Verwachsung hervorgerufen wurde. Es war aber lediglich eine Angewohnheit des Landgerichtsrats, das Herrscherhaupt etwas seitwärts zu neigen, weil er auf dem rechten Ohre besser hörte als auf dem linken.
Sonter schritt bedächtig von einem Blumentopf zum andern, die ganze Brüstung des viereckigen Balkons entlang, der nur so gross war, dass vier Menschen, sitzend, ihn hätten ausfüllen können. Sein Gesicht glitt dabei über die Blüten der Rosen und Geranien hinweg, die abwechselnd ihr dunkelrotes und rosa Farbenspiel zeigten, und entschieden mussten ihn die Leute für einen zärtlichen Blumenfreund halten, der seine Liebe zur Flora auf diese Art äussern wolle. In Wahrheit waren seine Gedanken nur bei den Ehescheidungsakten Goland kontra Goland, die ihn ganz besonders interessierten. Wenn den Landgerichtsrat Sonter eine Rechtsfrage stark beschäftigte, dann ging er an diesen heissen Tagen stets auf den Balkon hinaus und roch an den Blumen, oder erfreute doch sein Auge daran, was er aber rein mechanisch, wie ein Gewohnheitsmensch tat, dem irgendwelche Ablenkung zum Bedürfnis geworden ist.
In diesen Betrachtungen (es waren in der Tat mehrere) wurde Sonter durch das Erscheinen seiner Frau gestört.
„Wünschen der Herr Landgerichtsrat hier draussen zu frühstücken? Es ist nämlich gerade so weit!“
Sonter behandelte diese Frage nur als die Aufmerksamkeit einer Dienerin, der man nur alltägliche Beachtung zu schenken brauche. Er erhob kaum den Kopf, machte auch keine höfliche Körperwendung, als er erwiderte: „Nein, Käthe, ich danke. Decken Sie nur ruhig drin ... Was haben Sie denn heute?“
„Es war noch etwas kaltes Huhn da. Dazu habe ich frischen Spargel gekocht. Auch sonst ist noch allerlei kalter Aufschnitt da. Der Spargel darf aber nicht kalt werden!“
„Schön, schön, Käthe. Ich werde gleich kommen, trotzdem ich heute keinen grossen Appetit habe.“
Er hatte nun das Napoleonhaupt erhoben und blickte auf die Strasse, deren blanker Asphalt in fast weissem Sonnenglanze lag, denn die Häuser gegenüber waren allmählich dem breiten Schattenrisse entrückt. Drüben wurde eine Autodroschke mit Gepäck beladen, und das zog sein Auge an, während die Gedanken fortwährend bei der Sache Goland kontra Goland weilten. Es war da ein ganz bestimmter Paragraph des Bürgerlichen Gesetzbuches heranzuziehen, der ihn andauernd beschäftigte.
„Der Herr Landgerichtsrat haben jedenfalls gestern abend wieder zu gut gegessen, und dann schmeckt das Frühstück niemals, das weiss ich schon“, fuhr Frau Sonter ruhig fort, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Sie stand noch immer hinter der Schwelle, im Schatten des Zimmers, aus dem ihr frisches Gesicht, noch rot von der Hitze des Kochherdes, über der hellen Hausbluse hervorleuchtete und einen auffallenden Gegensatz zu der etwas fahlen Farbe ihres Mannes bildete, die nicht gerade gehoben wurde durch das schreiende Gelb des vor ihm stehenden Goldlacks.
„Da mögen Sie schon recht haben, Käthe“, erwiderte Sonter in derselben freundlichen Weise, wobei er sich wunderte, wie viele Koffer man da drüben herbeischleppte, die seiner Meinung nach gar nicht auf dem Verdeck des Autos Platz hätten.
Die fünfte Zivilkammer des Landgerichts, die sogenannte Ehescheidungskammer, hatte nur Dienstag und Freitag Sitzung, und da heute Mittwoch war, so hatte Sonter gestern abend etwas spät am Stammtisch der alten Weinstube in der Potsdamer Strasse gesessen. An solchen Abenden pflegte er seinem Magen, über den er sich durchaus nicht beklagen konnte, etwas Besonderes anzutun, was aus dem Geleise der häuslichen Küche glitt. Ja, er schwelgte dann sogar ein wenig in den Speisekartengenüssen, so mit dem Behagen eines Ehemannes, der stets ohne seine Frau ausgeht und dann nicht zu befürchten braucht, bei seinen Wünschen irgendwelchen Einwendungen zu begegnen, oder gar für zwei zu bezahlen.
So hatte er sein Leben als Junggeselle geführt, und so führte er dieses Leben auch weiter, nachdem er in die Ehe hineingeplumpst war, so wie der Wanderer, der ahnungslos in der Dämmerstunde über die blühende Heide streicht, plötzlich in einen verlorenen Tümpel gerät, aus dem man schwerer herauskommt, als hinein.
„Wer mag denn da drüben schon verreisen?“ fragte er so nebenbei, während seine Gedanken nun wieder völlig bei Goland kontra Goland waren, indem er ernstlich erwog, ob neben dem Paragraphen 1568 nicht auch der Paragraph 1566 als entscheidend heranzuziehen sei; natürlich zugunsten der Frau, die in diesem Falle ohne Zweifel die Märtyrerin war, die nicht nur aus ihrem Joche befreit werden wollte, sondern auch musste. Das stand für ihn als Referent in dieser Sache durchaus fest, wenn auch der Vorsitzende der Kammer seine Meinung bisher nicht teilte, vielmehr immer wieder vorschlug, den neuen Beweisanträgen des Ehemannes, dass die Behauptungen seiner lieben Gattin nur ihrer hysterischen Veranlagung entsprängen, stattzugeben. Aber dieser liebe Kollege Dienstel war ein Nörgler, ein ausgesprochener Weiberfeind, der sich schon aus diesem Grunde immer mehr auf seiten der Männer stellte und sich erst überzeugen liess, wenn der Buchstabe des Gesetzes es verlangte.
Frau Sonter trat nun auf den Balkon und blickte ebenfalls auf die Strasse, wobei sie es vermied, sich an die Seite ihres Mannes zu stellen, damit die Nachbarschaft drüben nicht etwa ihre Schlüsse auf eine Intimität zwischen beiden zöge; denn solange sie hier wohnten, sah man den Landgerichtsrat stets allein auf dem Balkon sitzen und sie nur als Dienerin um ihn, die kam und ging, sobald er ihrer bedurfte.
„Ach, da verreist ja schon der Baumeister, das sind die beiden Töchter seiner Ersten, die jetzt einsteigen“, sagte sie dann und stützte sich mit den verschränkten Armen auf die innere Eisenstange der Balkonbrüstung, weil es sie nun selbst interessierte, zu beobachten, wer alles die Reise mitmache. Dabei dachte sie: Er ist ja heute sehr gemütlich. Sonst gingen ihn doch die Menschen nichts an.
Diesmal machte Sonter eine Ausnahme, was wohl mit seiner guten Laune zusammenhing; denn im Augenblick war er zu der Erkenntnis gekommen, dass der Paragraph 1566 unstreitig als ausschlaggebend angewandt werden müsse, trotz der verwickelten Rechtsfrage. Der Ehemann Goland hatte seiner Frau nach dem Leben getrachtet, indem er sie mit dem Revolver bedrohte, und deshalb brauchten seine sonstigen ehelichen Entgleisungen nicht mehr unter Beweis gestellt zu werden. Die Ehe konnte geschieden werden. Diese Sache brauchte ihm also kein Kopfzerbrechen mehr zu machen.
„Sagen Sie mal, — Sie sind wohl schon über die ganze Nachbarschaft informiert, wie?“ fragte Sonter und liess nun seinen scharfen Napoleonblick wohlgefällig auf ihrer vollen Gestalt ruhen, besonders auf der schönen Rundung der Oberarme und des Nackens, die sich unter der dünnen, fast durchsichtigen Sommerbluse in ihrer ganzen kraftvollen Straffheit zeigten, fast reizvoll in diesem verhüllten Zustande.
Nun, da er über die Rechtsfrage mit sich einig war, opferte er die Ehemärtyrerin bis auf weiteres zugunsten dieses Stück blühenden Lebens da vor sich, das ihm gesellschaftlich so entfernt war wie der Mond von der Erde, seine gesunde Sinnlichkeit aber beizeiten so sehr beschäftigte, dass er ganz vergass, sein Dienstmädchen geheiratet zu haben und somit einfach Mann ohne Schmuck und Würde wurde.
„Das wird einem alles so zugetragen, Herr Landgerichtsrat“, erwiderte Käthe mit Absicht laut, weil auf dem Balkon des benachbarten Hauses, der kaum zwei Meter entfernt lag, gerade die dicke, jüdische Dame erschien, die dort regelmässig vormittags ihr Gemüse zurechtputzte und nur zu gern die Ohren spitzte, sobald es etwas zu erlauschen gab. Denn wenn rechts und links gesprochen wurde, so konnte man fast jedes Wort vernehmen. „Die Mädels klatschen zusammen und dann wissen sie bald, wer hier und dort wohnt. Na, und was dann noch fehlt, das reimt sich die Herrschaft selbst zusammen.“
Das sagte sie weniger laut, weil ihr der Zweck nun erreicht zu sein schien, denn immer war sie darauf bedacht, den äusseren Abstand zwischen sich und „ihrem“ Landgerichtsrat zu wahren.
„So, so“, sagte Sonter kurz und ging nun in das Speisezimmer, weil Käthe ihn abermals gebeten hatte, den Spargel nicht „ganz kalt“ werden zu lassen. Die beweglichen Kirschaugen der fetten Nachbarin genierten ihn auch ein wenig, denn wenn es in ihnen aufblitzte, schien die Funkensprache immer zu melden: Verstellt euch doch nicht so, ich weiss schon genügend Bescheid.
„Wünschen der Herr Landgerichtsrat vielleicht etwas zu trinken? Ein Glas Rotwein?“ fragte Käthe, als Sonter, durchaus noch in derselben guten Laune, am Tische Platz genommen hatte.
Obwohl sie von robuster, ländlicher Art war, hatte sie viel Beweglichkeit in ihren Gliedern, weil das gesunde Blut sie stets zur Arbeit drängte. Schon war sie an dem Büfett, öffnete die geschnitzte Türe und langte in das oberste Fach hinein, um ein Glas herauszuholen. Dabei musste sie sich auf die Fussspitzen stellen, und so reckte sie ihre Gestalt, die nun beinahe etwas Schlankes bekam, wodurch Sonters Auge noch mehr erfreut wurde, natürlich nur „vorübergehend“, wie er sich bei derartigen Aufwallungen zu entschuldigen pflegte.
„Nein, nein, ich danke, — lass nur“, hielt er sie von ihrem Tun ab. „Du weisst doch, dass ich am Tage nie etwas trinke.“
Rasch hatte er, wie immer, wenn sie unter sich waren, das Du gefunden, aber es war mehr das Du des freundlichen Brotherrn, als das vertrauliche des Geliebten.
„Das schon, aber ich glaubte, der Herr Landgerichtsrat würden vielleicht heute ...“
„Weshalb gerade heute, Käthe? Komm, setz’ dich zu mir. Ich habe mit dir zu reden.“
Ganz verblüfft blickte sie ihn an, so mit dem Ausdruck eines grossen Kindes, das noch nicht weiss, ob es Strafe oder Belohnung zu erwarten hat. Denn das war auch der Grundzug dieser emporgezogenen Frau, dass ihrem Wesen immer etwas Kindliches anhaftete, ob sie es nun verleugnen wollte, oder nicht.
Während sie rot wurde, hob ihr rascher Atem die Brust, und als Sonter sie so fast aufgeregt dastehen sah in ihrer ganzen häuslichen Sauberkeit, auf die sie so grosses Gewicht legte, mit dem etwas kokett frisierten, fast rötlich-blonden Haar, sah er wieder jenen schwülen Sommerabend vor sich, wo es um ihn geschehen war. Ein paar Sekunden schloss er die Augen, er wusste kaum weshalb: geschah es, um die Erinnerung zu bannen, oder aus Furcht vor sich selbst. Dann erhob er den klugen Blick und wiederholte: „Komm’, Käthe, komm’, setz’ dich.“
Es kam selten vor, dass Sonter sich zu einer derartigen Einladung verstieg, denn zu sehr klaffte, seiner Ansicht nach, der Bildungsunterschied zwischen ihnen, und ausserdem liebte er die Schweigsamkeit auch beim Essen, wenigstens im Hause. Und da Käthe das wusste, hielt sie sich in respektvoller Entfernung von ihm.
„Ich möchte nur erst einmal sehen, ob Frau Klenke —“
Sonter verstand sie und liess sie hinausgehen. Seitdem er hier wohnte, hielt er sich für die gewöhnlichen Hausarbeiten nur eine Aufwartefrau, denn Käthe, gewöhnt an Arbeiten von früh bis spät, fasste kräftig mit an und tat das übrige, was eine Fünfzimmerwohnung verlangte.
„Herr Landgerichtsrat möchten jetzt nicht gestört sein“, sagte sie hinten in der Küche zu der biederen Frau Klenke, die gerade dabei war, eine Zinkwanne mit einem Strohwisch auszuscheuern. „Sollte also was vorkommen, hat’s keine Eile, hören Sie? Ich habe da auf dem Balkon etwas zu tun, bin aber bald wieder hier.“
„’s jut, Fräulein, ich werde mir danach richten“, erwiderte die dürre Frau Klenke, krallte die linke, knochige Hand wieder um den Rand der Wanne und scheuerte mit der rechten weiter, bereits gewöhnt an derartige Wünsche. Als sie sich hier eines Tages meldete und von dem jungen, derben Weibe in der Küche empfangen wurde, gebrauchte sie sofort die Anrede „Fräulein“, denn unter einer Frau Landgerichtsrat hatte sie sich etwas anderes vorgestellt. Käthe hatte dazu gelacht, ohne aber irgendwelche Einwendung zu machen. Und als dann Frau Klenke immer hörte, wie das Fräulein von ihrem Gebieter nur in der dritten Person sprach, glaubte sie eine Wirtschafterin vor sich zu haben. Dabei war es geblieben. Mochte man auch so manches andere tuscheln, — ihr konnte das gleichgültig sein, wenn sie nur gut bezahlt bekam.
Sonter hatte inzwischen mit Appetit zu essen begonnen. Er war bei Stimmung, das merkte er an seinem körperlichen Wohlbehagen. Der Wein war ihm gestern gut bekommen, und die Nacht hatte er traumlos durchgeschlafen. Er sah ein, dass er sich zusammennehmen müsse, denn als Käthe nun zurückgekehrt war und ihm gegenüber sass, sah sie ihn ganz herausfordernd und verliebt an.
„Hör’ mal, ich habe da eine Haarnadel von dir gefunden, sie liegt drin auf dem kleinen Tisch“, begann er dann, während er ruhig weiter kaute. „Das wäre ja nichts Besonderes, nein, denn weshalb sollte man nicht mal ’ne Haarnadel verlieren.“
„Eine Haarnadel?“ erwiderte Käthe verlegen. „Die werde ich dann wohl beim Aufräumen verloren haben.“
„Ob es aber durchaus notwendig war, dja, sie bei meinen Akten als Lesezeichen zu verlieren, das möchte ich bezweifeln“, fuhr Sonter unbeirrt fort und richtete nun den Herrscherblick mit Bedeutung auf sie. „Denn du weisst doch, dass ich dir streng verboten habe, an meine Akten zu gehen, selbst wenn sie einmal offen daliegen sollten.“
Er sprach es nicht in bösem Tone, aber innerlich ärgerte er sich doch, dass diese Neugierde gerade an der Sache Goland kontra Goland befriedigt worden war, weil darin Dinge erörtert wurden, die nicht an die Öffentlichkeit gehörten. Vor allem war es ihm unangenehm, eine Mitwisserin im Hause zu haben, obendrein in einem Falle, der ihn tiefer berührte, als man es von einem Richter erwarten durfte.
Käthe sah ein, dass Leugnen nichts helfen würde. „Ich weiss gar nicht, wie ich dazu gekommen bin“, sagte sie kleinlaut. „Die Akten lagen auf dem Tisch, und da habe ich die obersten aufgeschlagen. Und dann habe ich mich gleich so vertieft, dass ich alles andere um mich her vergass. Nehmen’s der Herr Landgerichtsrat nur nicht übel, ich werde es gewiss nicht wieder tun. Muss ich auch gerade die dumme Haarnadel drin liegen lassen! Weiter bin ich nämlich nicht gekommen.“
„Ist das wahr?“
„Wahrhaftig, so gesund ich hier sitze. Ich klappte die Akten zu, weil ich später noch weiter lesen wollte. Dann aber wurde ich müde und ging zu Bett.“
Sonter glaubte ihr und fühlte sich nun beruhigt, dass sie die undelikaten Dinge nicht gelesen hatte. Das war jedenfalls zum Nutzen ihrer und der anderen, die, er fühlte es in diesem Augenblicke mehr denn je, noch ein Stück seines ferneren Lebens ausmachen würde. Und so warf er gutmütig ein: „Na, einmal ist ja keinmal, Käthe. Ich wünsche jedoch, dass sich das niemals mehr wiederhole.“
„Ich hatte auch gerade genug davon, das können der Herr Landgerichtsrat glauben“, sagte Käthe, nun wieder ermuntert durch seine Verzeihung. „Das ist ja ein netter Ehegemahl, dieser Herr Goland! Nimmt erst seiner Frau das Geld ab, und dann schlägt er sie obendrein noch und will sie totschiessen. Ein feiner Mann ...“
„Nicht wahr?“ ging Sonter lebhaft darauf ein, weil dieses Urteil sich völlig mit seinem Empfinden deckte, und nicht nur mit dem richterlichen. „Unterschreibe ich vollständig, Käthe. Man braucht ja auch nicht besonders gelehrt sein, um zu einer solchen Ansicht zu kommen.“
„Dumm genug von der Frau, dass sie sich das alles gefallen liess“, eiferte Käthe weiter. „Ich jedenfalls hätte mich gewehrt, und wenn ich das erste beste Ding genommen hätte. Die Augen hätte ich dem Kerl ausgekratzt.“
Sonter lachte auf. „Ei, ei, was muss ich hören, ich bekomme ja ordentlich Angst vor dir. Übrigens ist Kerl der richtige Ausdruck.“
Genugtuung sprach aus seinen Zügen, denn während des ganzen Prozesses hatte sich in ihm der Widerwille gegen Goland in dem Masse gesteigert, in dem er die bedauernswerte Klägerin zu verehren begann.
„Herr Landgerichtsrat würden sich doch auch niemals so vergessen können. Und nun gerade vor mir Angst haben, — ach, du lieber Himmel!“ Nun lachte sie. „Erstens bin ich viel zu wenig, und zweitens krieche ich jetzt schon in ein Mauseloch, wenn ich manchmal sehe, dass Herr Sonter ärgerlich sind.“
„Ich hielt dich immer für ungemein demütig, sozusagen für eine Dulderin“, sagte er, um bei dieser Gelegenheit ihre Natur einmal vollständig zu erschöpfen, und nun muss ich zu meiner Überraschung hören, dass du aufsässig sein könntest. Mir ganz etwas Neues.“
„Na, das käme doch auf die Verhältnisse an. Ich meinte ja nur, wenn ich an Stelle dieser Frau Goland gewesen wäre.“
Die etwas wegwerfende Betonung des Namens ärgerte nun Sonter, so dass er plötzlich einen anderen Ton anschlug. „Das verstehst du nun ganz und gar nicht, weil du die Auffassungen dieser Kreise nicht kennst.“
„Entschuldigen Herr Landgerichtsrat nur, aber was sind das für Auffassungen, wenn ein Mann seine Frau mit der Reitpeitsche schlägt?“
Sonter sah ein, dass er sich in seiner Belehrnug vergriffen hatte. „Ich meinte das ja auch nur in bezug auf die Dame, — auf die Dame, verstehst du? Eine Dame der Gesellschaft kann eben nicht zu jedem ersten besten Ding greifen, wie deine einfältige Vorstellung es dir ausmalt. Dja. Sie erträgt die Schmach einmal, vielleicht auch zweimal, vielleicht noch öfters, wenn sie Rücksicht auf ihren Ruf zu nehmen hat, oder wenn noch andere Verhältnisse vorliegen sollten, die ihre Scheu vor einem öffentlichen Skandal erklärlich machen. Ist aber schliesslich das Mass voll, dann sucht sie sich ihr Recht auf anständigem Wege und — findet es auch. Dja.“
„Na, dann ist auch an der Dame nicht viel dran, — nehmen’s mir der Herr Landgerichtsrat nur nicht übel. Aber wenn sie sich das so gefallen lässt, dann fordert sie den Mann ja geradezu heraus, es öfters zu tun. Ich wenigstens nähme meine Beine in die Hand und liefe, so weit ich laufen könnte, um mich allein zu ernähren.“
„Das ist deine Meinung“, sagte Sonter nun so abweisend, dass sie erschreckt zurückwich. Am liebsten hätte er sie nun nach dieser Herabsetzung Frau Golands, die er auch persönlich empfand, vom Tische gejagt, aber sofort erinnerte er sich der „Sache“, und so fühlte er sich in der Rolle des wohlmeinenden Richters, der es sich während seines ganzen langjährigen Berufes zur Aufgabe gemacht hatte, Unwissenheit und offener Ehrlichkeit das nötige Verständnis entgegenzubringen.
„Verzeihen der Herr Landgerichtsrat mir nur, wenn ich etwas zu viel gesagt haben sollte, ich kenne die Dame ja gar nicht“, kam ihm danach Käthe eingeschüchtert entgegen. „Ich würde mir wohl sonst eine derartige Beurteilung nicht erlaubt haben. Aber der Herr Landgerichtsrat sagen ja immer selbst, dass die Richter ohne Ansehen der Person zu urteilen pflegen, — neulich erst haben der Herr Rat es wieder ausgesprochen, als die Herren hier waren. Und da habe ich mir das gemerkt. Ich merke mir eben alles, was der Herr Landgerichtsrat sagen.“
„Im Ernste?“ lenkte Sonter nun heiter ein. „Das ist hübsch von dir. Dann merke dir also nochmals: steck’ deine Nase nicht in meine Akten, lass vor allem nicht deine Haarnadeln als Andenken zurück.“
„Ich werde es gewiss nicht wieder tun, Herr Landgerichtsrat, und den Mund will ich mir auch nicht wieder verbrennen.“
„Nun könntest du doch den Rotwein und zwei Gläser bringen. Ich denke, wir stossen einmal auf dein Gelöbnis an. Wenn du willst.“
„Wenn der Herr Landgerichtsrat erlauben ...“
Sie hatte sich erhoben und holte nun wieder vom Büfett die Flasche, aus der sie einschenkte, Sonter ein volles Glas und sich ein halbes. „Der Herr Landgerichtsrat wollten doch auch noch mit mir reden“, sprach sie dabei.
„Ach so“, sagte Sonter, gleichsam ernüchtert. Mit dem Reiz, den sie vorübergehend auf ihn auszuüben begonnen hatte, war es sofort vorbei, denn zu sehr trug sie die Vernunft der Dienerin zur Schau, die alle Illusionen zerstörte.
Er sah sie wie bedauernd an, erhob das volle Glas, ohne jedoch mit ihr anzustossen, nippte daran und stand dann auf, um den übrigen Wein Schluck für Schluck bei dem Studium der Akten zu nehmen. Es war wie eine Flucht vor seiner Frau, vor dieser Frau, mit der ihn eigentlich weiter nichts verband als das Zusammenleben unter einem Dache.
„Wann wünschen der Herr Landgerichtsrat zu Mittag zu speisen?“ fragte Käthe betroffen. „Vielleicht um zwei?“
„Es ist mir recht.“
Danach ging er ohne weiteres in sein Arbeitszimmer, denn die Sache Goland kontra Goland verlangte es, dass er sich noch einmal in sie vertiefte. Jetzt erst recht.
Die blonde Käthe blickte ihm ein paar Augenblicke nach, so mit dem Gefühl eines verlassenen Geschöpfes, das soeben von dem Geliebten etwas ganz anderes erwartet hatte. Sie fuhr sich mit der arbeitsharten Hand über die Augen, weil es ihr da feucht emporgedrungen war. Dann trug sie die Flasche mit dem Wein und das Glas, so wie es war, nach dem Büfett, ging wieder zu dem Tische zurück und begann ihn abzuräumen.
Ein leiser Seufzer kam über ihre Lippen. Sie sah ein, dass ihr Reich wohl ewig die Küche sein und bleiben werde.