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II.

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Die Türe war offen geblieben, und so konnte Sonter deutlich den Seufzer seiner Frau vernehmen, dem er unwillkürlich einen von gleicher Art folgen liess, was beinahe wie eine ungewollte Antwort auf die Zweifelsfrage der enttäuschten Frau klang.

Er setzte sich, nahm wieder das Aktenstück vom Schreibtisch und hielt es, wie es seine Gewohnheit war, fast dicht vor das Gesicht, weil die dunkle Übergardine diese Fensterecke ganz unnötig dem Lichte entrückte. In diesem dämmrigen Winkel spannen sich aber die Gedanken zu gut, und wenn er sich weit in den Sessel zurücklegte, brauchte er nicht zu befürchten, von dem Mummelgreis da drüben, der während des ganzen Tages den Rauch seiner Pfeife gegen die Scheiben blies, als Schaufensterobjekt betrachtet zu werden.

Sonter kam aber heute nicht zur Sammlung, obwohl er sich die grösste Mühe gab, seine Anmerkungen an der richtigen Stelle anzubringen. Rein mechanisch griff er nach dem dickleibigen Band auf dem Aufsatze des Tisches, um sich in die Kommentare gewisser Paragraphen zu vertiefen, aber er las nur die Worte, ohne ihren Begriff zu erfassen. Seine Gedanken waren auf andere Dinge gerichtet. Er hörte, wie Käthe, um ihn nicht zu stören, fast geräuschlos das Geschirr zusammensetzte, und wie sie dann mit ihrem etwas schweren Schritt davonging. Das zwang ihn, das Buch fahren zu lassen und sich wieder zu erheben. Als er sie aber noch einmal hereinbitten wollte, war sie bereits verschwunden.

Um mehr zur Ruhe zu kommen, zündete er sich eine Zigarre an und ging dann, die Hände auf dem Rücken, ein paarmal in dem einfenstrigen Zimmer auf und ab, wie er es manchmal tat, wenn ihn Zweifel über eine Rechtsfrage beschäftigten. Dann trat er wieder an seinen Schreibtisch und nahm einen mit der Morgenpost eingetroffenen Brief, den er vordem in die Schreibunterlage geschoben hatte. Im Stehen las er ihn nochmals, obwohl er seinen Inhalt bereits genau kannte.

Der Brief war von seiner Mutter, der Inhaberin eines flottgehenden Hotels in seiner märkischen Heimatstadt, die ihm in ihrer merkwürdigen, mehr an Krähenfüsse erinnernden Schrift mitteilte, dass sie am nächsten Sonnabend nach Berlin kommen werde, um ein paar Tage dort zu verbringen, und dass er pünktlich auf dem Bahnhofe sein möchte, um sie abzuholen. Natürlich hoffe sie, bei ihm Logis zu finden; er möchte nur so freundlich sein, sich darauf vorzubereiten und alles in Ordnung zu bringen. Als alte Frau würde sie ihm ja nicht viel Mühe machen, besonders weil sie die Zeit geschäftlich ausnützen müsse.

Das war es, worüber er noch mit Käthe hatte reden wollen, denn nun sah er die unangenehme Situation kommen, der er so gerne, vorläufig wenigstens, entgangen wäre. Wahrhaftig, es war keine Kleinigkeit, dieser guten, starrköpfigen Alten, die trotz ihrer siebzig Jahre noch wie ein Gardekürassier dahinmarschierte, und deren ganzer Stolz „ihr Sohn, der Herr Landgerichtsrat“, war, in dürren Worten begreiflich zu machen, weswegen er in diese heimliche Ehe, von der sie nicht die blasseste Ahnung hatte, so über Nacht hineingesprungen war. Gott sei Dank war er bereits Anfang der Vierziger und ein gefestigter Mann mit Grundsätzen und abgeklärter Lebensanschauung, obwohl er für Frau Hotelbesitzer Sonter immer noch mehr von einem „Jungen“ hatte, dem man bei jeder Gelegenheit Verhaltungsmassregeln mit auf den Weg geben müsse.

Das Lesen des Briefes brachte dem Landgerichtsrat erst recht nicht die Ruhe, was um so erklärlicher war, weil er im Augenblicke niemand hatte, mit dem er über diesen stillen Kummer ein vernünftiges Wort hätte austauschen können. Es lag daher nur zu nahe, dass er seinen Spaziergang wieder aufnahm und ihn schliesslich nach dem Speisezimmer verlegte, in dem er nun um den grossen, viereckigen Esstisch aus schwerem Eichenholze herumging, so ganz unsinnig, als wäre es ihm aus Gesundheitsrücksichten empfohlen worden, auf diese Art Fussgymnastik zu treiben.

Es sah wohnlich in diesem Zimmer aus, weil hier allerlei altmodische Familiendinge zusammengetragen waren, die ihm Elternliebe ins Haus geschickt hatte, und die er auch in dieser neuen Behausung aus Pietät überall da angebracht hatte, wo sie nicht gar zu störend und aufdringlich wirkten. Dieses Talent hatte er vom Vater, dem es daheim, schon als Hotelbesitzer, noch Spass machte, mit dem Hammer in der Hand herumzulaufen und überall Nägel einzuschlagen, wo noch irgendein Plätzchen für ein Bild war.

Anton Friedrich Sonter selig hatte eben niemals den kleinen Winkelgastwirt und Bierabzieher, der in seiner Schankstube alles selbst machen musste, ablegen können, und an diesem Brauche hatte er auch noch bis zum Tage seines ganz plötzlich erfolgten Todes festgehalten.

Als der Landgerichtsrat viermal die Runde um den Tisch gemacht hatte, blieb er vor dem Luxusofen hinten in der Ecke stehen und betrachtete ganz aufmerksam die Photographien seiner Eltern, die auf dem mit Stoff überzogenen und mit roten Fransen versehenen Kaminbrette rechts und links von der altertümlichen Bronzeuhr standen, die man ihm damals von Hause zur Vervollständigung seiner Junggesellenausstattung geschickt hatte. Der goldige Junge, der da oben sass und nun schon seit vielen Jahrzehnten immer denselben Schmetterling auf dem Zeigefinger betrachtete, machte ihm stets Spass, nicht bloss des unglaublich dicken Kopfes wegen, sondern auch aus tieferen Gründen; denn sobald er ihn anblickte, befand er sich wieder im Elternhause, sah er die trauliche Wohnstube mit den alten Mahagonimöbeln vor sich und sich selbst als den hoffnungsvollen Stammhalter, der schliesslich andere Wege ging, als der Erzeuger von ihm erwartet hatte. Diese alte Bronzeuhr war sozusagen der Zeitmesser, an dem er gross geworden war, und deshalb liebte und schätzte er sie.

Sonter sah sich zuerst das Bild seines Vaters an, in dessen Gesichtszügen schon der „Napoleon“ zu finden war, aber mehr der gemütliche der Kleinstadt im Schlafrocke, dem die Natur aus Versehen die Erinnerung an den „l’empereur“ mitgegeben hatte. Es war mehr der Komiker in der Maske. Den nötigen Welternst hatte dem Sohn erst die Strenge der Mutter gegeben, was natürlich unabsichtlich geschehen, aber nicht zu leugnen war.

Und als nun Sonter mit seinen Augen zu ihrem Bilde überging, das rechts von der Uhr stand, weil Damen immer diesen bevorzugten Platz an der Seite eines Herrn einnehmen müssen, brachte ihn der ernste Ausdruck ihres Gesichts wieder auf das am Sonnabend bevorstehende Ereignis.

Er hielt es nun für besser, sofort das nachzuholen, was er vorhin in augenblicklicher Aufwallung seines Blutes versäumt hatte.

Schon wollte er auf den weissen Knopf der elektrischen Klingel drücken, als Käthe leise zurückkehrte, das silberne Teeservice in Händen, das, frisch geputzt, nun wieder bis zum Abend den Büfettisch zieren sollte.

„Gerade wollte ich nach dir klingeln“, sagte Sonter, nun gefestigt in seinem Entschlusse.

„Wünschen der Herr Landgerichtsrat etwas? Soll etwas besorgt werden? Vielleicht Briefe? Frau Klenke muss sowieso für mich nach unten.“

„Nein, nein, es ist nichts zu besorgen. Sei doch so gut und komme ins Arbeitszimmer.“

„Einen Augenblick, Herr Landgerichtsrat.“

Etwas umständlich setzte sie das Tablett fort.

Als sie dann zu ihm hineinging, sass er bereits auf seinem Sessel und bat sie, auf dem Stuhle neben dem Schreibtische Platz zu nehmen, was sie auch, nun ersichtlich eingeschüchtert, tat, so in der Weise einer Person, der eine Ehre damit erwiesen wird. Immer befürchtete sie, der Tag könnte kommen, wo ihr Mann zu ihr sagen würde: Die ganze dumme Herrlichkeit hat ein Ende, packe deine Sachen und gehe. Unsere Ehe war weiter nichts als ein kleiner Spass von meiner Seite.

Sonter zeigte aber durchaus kein erzürntes Gesicht. Er rauchte behaglich seine Zigarre, die ihm im Augenblick vortrefflich schmeckte, und blickte sie heiter an, als er begann:

„Zuerst möchte ich dich mal wieder um etwas bitten, Käthe. Lass doch endlich das lange Landgerichtsrat fort, wenn wir unter uns sind, — ich glaube dir das schon einmal auseinandergesetzt zu haben. Denk’ ich.“

„Aber ich muss doch immer den Abstand zwischen mir und dem Herrn Landgerichtsrat wahren.“

Ihre Unterwürfigkeit kühlte ihn ab.

„Ich kann dich ja so ziemlich verstehen, siehst du. Ich glaube dir gern, dass es dir immer noch schwer wird, zu vergessen, was du vordem bei mir warst. Aber wie die Verhältnisse nun einmal liegen ...“

Er sah sie verlangend an und wollte ihr schon durch zärtliche Worte jede Scheu nehmen, als sein Blick noch rechtzeitig auf die Akten Goland kontra Goland fiel, was ihn rasch daran erinnerte, dass er von nun an andere Wege zu nehmen habe. Und so änderte er sofort seinen Ton.

„Na, wenn du es schon nicht lassen kannst ... Vielleicht ist es auch besser so. Dja. Dann bleibe doch einfach bei Herr Rat. Meinetwegen sage nur Herr Sonter. Mich geniert’s nicht, wenn wir allein sind.“

„Ich will es mir merken, Herr Rat.“

„Das freut mich, Käthe. Denn siehst du, — ich will gar kein Hehl daraus machen, — manchmal habe ich so die Empfindung, als wenn sich hinter deiner ewigen Dienerei so etwas wie Mucken versteckt. In solchem Falle weiss ich eben nicht, was ich mit dir anfangen soll.“

Käthe, die, nur auf der Kante des Stuhles sitzend, die Hände in den Schoss gelegt hatte, schüttelte mit dem Kopf und lächelte.

„Dabei denke ich mir nun gar nichts, Herr Landgerichts — — Herr Sonter. Das ist mir nur alles so geläufig geblieben.“

„Ich will es dir glauben. Aber du wirst mir auch glauben, dass ich das auf die Dauer furchtbar langweilig finde. Nun, wie du willst. Deswegen keine Feindschaft zwischen uns. Und nun zur Hauptsache.“

Als Käthe ihn so sprechen hörte und daraus nur die Vorwürfe entnahm, war sie der Meinung, dass sie als seine Frau auch gewisse Ansprüche auf Pflichten erheben dürfe. Auf Rechte hatte sie, ihrer Dienerinnatur folgend, ganz von selbst verzichtet.

„Herr Rat haben mir ja von Anfang an verwehrt, so zu sein, wie es eigentlich zwischen Eheleuten — Ich kann mich im Augenblick nicht so ausdrücken.“

Sonter lachte zu ihrer Verlegenheit.

„Das ist nun wieder ganz schief von dir aufgefasst, Käthe. Du ganz allein hast mir den Weg dazu erschwert, indem du bei deinen alten Gewohnheiten geblieben bist. Der beste Beweis dafür, dass du mich soeben erst wieder indirekt angeredet hast.“

„Ich kann’s mal nicht anders.“

Käthe biss sich auf die Lippe, blickte zu Boden und sass da wie eine Sünderin, die sich selber zürnt.

Sonter betrachtete sie so ein paar Augenblicke, ohne jedoch ihre inneren Empfindungen dabei ergründen zu wollen.

„Denk’ nur, Käthe, wen wir am Sonnabend als Logiergast bekommen“, sagte er plötzlich. „Meine hochverehrte Mama. Und deshalb wollte ich eigentlich mit dir reden.“

„Herrje!“ Käthe fuhr in die Höhe, und sofort war jede Spur von Geknicktheit von ihr gewichen. „So ganz plötzlich kommt die gnädige Frau?“

Sonter nickte heiter. „Und ganz ungerufen dazu. Nun müssen wir einmal beraten, wie wir das machen. Es wird ja nur ein paar Tage sein. Ich denke, ich räume ihr mein Zimmer ein und schlafe einstweilen hier vorn auf dem Sofa, das ist ja zum Ausziehen.“

Er hatte schon die Worte auf den Lippen: Du bist natürlich das „Fräulein“, als er sich noch rechtzeitig besann. Er schämte sich seiner Feigheit, hielt es auch für würdelos, sich von dieser Seite zu zeigen, und so wollte er erst lieber abwarten, was Käthe dazu sagen würde.

Ihr Gesicht hellte sich auf, denn sofort hörte sie heraus, dass Frau Sonter von der heimlichen Ehe noch nichts wisse, also nicht etwa nur erscheine, um den Skandal darüber ins Haus zu tragen. Sie durfte auch nichts erfahren, das stand bei Käthe sofort fest, und so war sie auch schon mit ihrem Plane fertig.

„Nein, das geht nicht, Herr Rat, das dulde ich auf keinen Fall. Das wäre ja noch schöner. Ich könnte ja doch nicht ruhig schlafen. Gnädige Frau bekommt mein Zimmer, und ich schlafe in der Mädchenkammer. Das ist doch sehr einfach, nich? Ich werde gleich morgen alles in Ordnung bringen. Frau Klenke kann heute schon das Gerümpel aus der Kammer schaffen. So wird uns allen geholfen, nich?“

Als sie sich nun eilig erhob, als müsste sie sofort an die Arbeit gehen, sprühte sie beinahe vor Freude, denn sie merkte Sonter wohl an, dass er dagegen nichts einzuwenden habe.

In der Tat erfreute ihn dieser Einfall, wenn er ihm auch wie eine kleine Komödie erschien, wie das Leben sie als Notbehelf tagtäglich schafft. So überhörte er denn Käthes weiteren Vorschlag, dass sie ebenso gern auch auf ein paar Tage das Haus verlassen würde, wenn der Herr Rat vielleicht sonstige Unannehmlichkeiten befürchte. Er überhörte es mit Absicht, weil die Komödie zu rasch in eine Tragikomödie überzugehen drohte, in welchem Falle er sich wiederum scheute, die richtigen Worte dafür zu finden; und überdies: er konnte doch am allerwenigsten ohne Bedienung sein, wenn die Frau Hotelbesitzerin Gast bei ihm war.

„Gut, gut, Käthe, wir reden noch darüber“, schnitt er alle weiteren Erörterungen ab, schon zufrieden, das nötige Verständnis bei ihr gefunden zu haben. Und als müsste er ihr gleichsam im Augenblick eine Belohnung zuteil werden lassen, zog er sie plötzlich an sich, beugte ihren Kopf nach hinten über und küsste sie auf die roten, schwellenden Lippen, die ihn gar zu verführerisch dazu eingeladen hatten. Es war so plötzlich über ihn gekommen, dass er sich gleich darauf selbst darüber wunderte, wie er sich zu dieser Zärtlichkeit wieder hinreissen lassen konnte, nachdem er sich fest vorgenommen hatte, diese Zwangsehe nur als ein Nebeneinanderleben zweier verirrter Menschen zu betrachten.

„Es war wieder recht dumm von mir, Käthe, mich so zu vergessen“, sagte er sofort, wie zur Entschuldigung, als er das fast leidenschaftslose Verhalten der Überrumpelten bemerkte.

„Wieso, Herr Rat?“ fragte Käthe, die, ganz rot geworden, heftig atmend vor ihm stand. „Wir sind doch Mann und Frau.“

„Eben deshalb“, erwiderte Sonter verdriesslich. „Wenn ich dich jetzt ärgern wollte und du wärst eben eine andere, als du bist, dja, so müsste ich einfach sagen: keine Spur von Leidenschaft, kein Verständnis für meine gute Laune ... Geh’ nur.“

Sonter raste durch das Zimmer, so in der Art eines Mannes, der sich unmöglich ganz äussern darf, um in seinen Empfindungen richtig begriffen zu werden.

„Ich bin gewiss nicht schuld daran. Herr Rat haben doch selbst gewünscht, dass ich mich in keiner Weise nähern soll. Wenn ich nur wüsste, was daraus noch werden soll.“

Ohne weiteres machte sie kehrt und ging hinweg, aber doch mit stolzer Haltung, was er, als er sie mit seinen Blicken durch die offene Tür verfolgte, deutlich bemerken konnte. Er sah, wie sie den Kopf in den Nacken warf und hörte dann noch, wie sie die Tür des Speisezimmers, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, ziemlich laut schloss.

In Sonter überwogen nun die Selbstvorwürfe den offenen Ärger, denn er sah ein, dass er diese Szene, die eigentlich nur zu seiner eigenen Pein diente, unüberlegt heraufbeschworen hatte, und das gerade zu einer Zeit, wo er des grössten seelischen Gleichgewichtes bedurfte. Und es lag nur zu nahe, dass er sich in seiner aufgeregten Gedankenwelt alles zurückrief, was ihm zur Erklärung seiner ehelichen Verbindung mit Käthe Schlegel hätte dienen können.

Da war zuerst der Umstand, dass Käthe, als sie vor etwa zwei Jahren, noch in der alten Wohnung, zu ihm zog, sofort den Eindruck auf ihn machte, kein Dienstmädchen gewöhnlicher Art zu sein, dem man erst sozusagen das Benehmen eintrichtern müsse, damit es sich den Gewohnheiten und den Umgangsformen der jeweiligen Herrschaft hübsch anpasse. Sie hatte erst einen Dienst bei einem Fabrikdirektor gehabt, von dem sie ein ganz vortreffliches Zeugnis mitbrachte. Ihr Vater war Landmesser in der Niederlausitz gewesen, der seine liebe Not gehabt hatte, für die grosse Familie anständig zu sorgen. Weil zwei ihrer Schwestern verheiratet waren, litt es Käthe nicht mehr zu Hause, da eine Freundin ihr schrieb, sie möchte nur nach Berlin kommen, wo tüchtige Mädchen ihr gutes Fortkommen fänden. Es war auch Zeit, dass sie sich ihren Unterhalt selbst verdiente, wie es die Schwestern vor ihrer Verheiratung schon getan hatten.

Sonter sah ein frisches, aufgewecktes Mädchen vor sich, das kluge Antworten zu geben verstand, sich willig und bescheiden zeigte, das noch keinen Bräutigam hatte und die Sonntage nicht dazu benutzte, in die Tanzlokale zu gehen und sich dem ersten besten Mann an den Hals zu werfen. Irgendwo in einer Vorstadt Berlins sass eine Tante von ihr, der allein ihre Besuche an freien Tagen galten. Pünktlich um elf Uhr war sie zu Hause, so wie er es angeordnet hatte, und kam sie durch eigenes Verschulden später, so sprach sie am anderen Tage freiwillig ihre Entschuldigung aus.

Bisher hatte Sonter eine ältere Köchin gehabt, die ihm zugleich die Wirtschaft führte. Als er nun hörte, dass das neue Mädchen gut bürgerlich kochen könne, wozu sie ihre frühere Dienstherrin während eines Jahres allmählich angelernt habe, musste er sich erst recht gestehen, einen guten Griff getan zu haben; denn gewöhnt an häusliches Behagen, hatte ihm die Frage, wie sich nun alles zur Zufriedenheit seines Magens gestalten würde, bereits erhebliche Sorge gemacht. Besonders war er gegen jedes Mittagsmahl im Restaurant, schon weil es sich mit seinen Dienststunden so wenig vertrug und er nicht aus einer Aufregung in die andere kommen wollte. Deshalb konnte er doch ausschwärmen, wie und wann er Lust hatte, was so eine Folge seines ganzen Berufes war, den er zwischen öffentlichem Amt und häuslicher Arbeit teilen musste.

Sonter war in Wirtschaftsdingen etwas genau, was er von seiner Mutter hatte. Er rechnete gern mit Pfennigen, zum Ärger der guten, alten Köchin. Käthe Schlegel dagegen hatte Verständnis dafür, und so konnte es nicht ausbleiben, dass er bald der lieben Mama, die auch in ihren Briefen auf das Wohl ihres Sohnes bedacht war, schreiben konnte, er habe jetzt ein „Mädchen für alles“ gefunden, das geradezu als das Ideal eines bequemen Junggesellen gelten könne.

Denn schliesslich brachten es die Gewohnheit und die Leutseligkeit seines Wesens mit sich, dass er Käthe als eine Art Hausvertraute betrachtete, zu der er sich über allerlei kleine Familienzwiste und Berufssorgen offen aussprechen konnte.

Diese Art des kameradschaftlichen Verkehrs wurde erst bedenklich, als der etwas weiberscheue Sonter die Entdeckung machte, dass ein hübsches und sauberes Dienstmädchen auch ihre gefährlichen Reize haben könne, besonders in einer Stunde, wo die aufgepeitschte Phantasie eines Mannes mit seiner gesunden Vernunft durchzugehen die unleugbare Absicht habe.

Das war an einem sehr denkwürdigen Sonntagabend im Sommer gewesen, als der Landgerichtsrat von einem Herrendiner kam, bei dem der Sekt ihm das nötige Feuer durch die Adern getrieben hatte.

Diesem Sektteufel war es wohl zu verdanken, dass er sich mit Käthe, die ihm in ihrer duftigen Batistbluse heute ganz besonders verführerisch erschien, in ein Scherzgeplänkel einliess, das dann eine ganz verfängliche Richtung nahm.

Er sah nicht sein Dienstmädchen in ihr, sondern nur das Weib, und sie vergass ganz den Brotherrn und Landgerichtsrat und hörte immer nur den verliebten Mann sprechen, der ihre Sinne aufstachelte und ihr eine ganz neue Welt offenbarte.

Halb zog er sie, halb sank sie hin ...

Auf diese Art war es um ihn geschehen.

Folgender Dialog schwebte ihm noch wie ein stets sichtbares Menetekel vor Augen, das am anderen Tage mit elementarer Gewalt in seinen moralischen Katzenjammer hineinplatzte.

„Herr Landgerichtsrat haben mir die Ehe versprochen und mir Ihr Ehrenwort gegeben, mich zu heiraten.“

„Ich? Aber Käthe, Sie träumen wohl?“

„Aber der Herr Landgerichtsrat müssen das doch ebensogut wissen, wie ich.“

„Das kann ich wirklich nicht mehr wissen, Käthe. Sie müssen doch gleich gemerkt haben, dass ich mich in bedenklicher Sektstimmung befand.“

„Gewiss. Herr Landgerichtsrat hatten einen kleinen Schwips weg, sprachen aber doch ganz vernünftig. Sie haben mich ja förmliche beäthert mit Liebenswürdigkeiten.“

„Deshalb brauche ich Ihnen doch nicht gleich die Ehe versprochen zu haben. Für so unvernünftig müssen Sie mich nicht halten. Du lieber Himmel, ich habe eben eine kolossale Dummheit gemacht, das gebe ich zu. Sie aber auch.“

„Ich? Aber Herr Landgerichtsrat! Sie haben ja beinahe auf den Knien vor mir gelegen, so dass ich mich kaum zu retten wusste. Ich wollte ausreissen und war schon an der Tür, da haben Sie so viel gebeten ... Und dann haben Sie den Riegel vorgeschoben und mich gleich umarmt und geküsst, dass ich wehrlos war. Herr Landgerichtsrat wissen, dass ich noch nie gelogen habe ... Mein Gott, wenn das nun meine Mutter erfährt. Dann gehe ich einfach ins Wasser.“

Diese Worte schwammen in einem Tränenbach, der die Empfindung zu echt lockerte, als dass sie der Landgerichtsrat als bloss gemacht betrachten durfte. Hier offenbarte sich die Natur eines einfältigen Menschenkindes, die ausser der herkömmlichen Reihe an einen Ehrenmann herantrat und sein Gewissen ganz überwältigend aufschreckte.

„Gut, Käthe, — beruhigen Sie sich nur, ich werde darüber nachdenken.“

Mit diesem schon halben Eingestehen seiner Schuld ging er in seine Studierstube und dachte gründlich über den „Fall Käthe“ nach, bis ihm allmählich die Überzeugung kam, dass dieser Fall Käthe eigentlich ein „Fall Sonter“ war. Diese Überzeugung kam ihm wenigstens als Richter, nicht als Mensch. Denn nach menschlichen Begriffen hatte Käthe ebensoviel schuld wie er, wenn von einer Schuld bei einem Liebesrausche überhaupt die Rede sein konnte. Denn kein Mensch musste müssen, am allerwenigsten im Spiel der Leidenschaften.

Jedoch lag dieser Fall wesentlich anders, weil hier ein unbescholtenes und unerfahrenes Mädchen unter dem passiven Zwang ihrer Dienstbotenabhängigkeit gestanden und gesündigt hatte, er somit von dem Vorwurfe der Ausnutzung der Vertrauensseligkeit nicht freizusprechen war.

Der Richter geriet mit dem Menschen in Konflikt, obwohl schliesslich der Richter mit der Ansicht kam, sein leidenschaftliches Vergessensein sei auf Grund des Paragraphen 51 des Strafgesetzbuches zu entschuldigen, der bekanntlich gewisse in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangene Handlungen, durch welche eine freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist, für straffrei erklärt.

Landgerichtsrat Sonter fand aber diese Selbstbeschönigung so blamabel, dass er die Gedankenberufung auf den berühmten Paragraphen sofort ausschaltete und nur den menschlichen Standpunkt walten liess.

Was war geschehen? Ein Herr hatte den Weg zu seiner hübschen Dienerin gefunden und, statt Dank zu ernten, zum mindesten Verständnis, war er mit einer vernichtenden Anklage überschüttet worden, die sogar das fürchterliche Gespenst einer notgedrungenen Eheschliessung an die Wand malte. Zehn andere hätten vielleicht darüber gelacht und sich mit dem Humor der Situation abgefunden, — Leopold Sonter dagegen verspürte die Tragik des Vorfalls, wenn er auch, in Selbstironie übergehend, die Bezeichnung „Tragikomödie“ als die allein richtige erachtete.

Drei Tage nahm sich Sonter Zeit, über die etwaigen Folgen dieser ad hoc - Eheschliessung, wie er sie nannte, gründlich nachzudenken, bis er zu der Einsicht kam, dass sie immerhin das kleinere Übel sein würde gegenüber den ihm drohenden Nachteilen, wenn dunkle Mächte ihn nicht nur um sein ganzes Ansehen als Mensch, sondern auch als preussischer Richter, brächten.

In seiner bedauerlichen Gemütsverfassung sah er bereits eine gefundene Mädchenleiche, einen öffentlichen Skandal und schliesslich sein Scheiden aus dem Staatsdienst, was gleichbedeutend auch mit seiner Lebensvernichtung gewesen wäre, denn er war Richter mit Leib und Seele.

Noch einmal schreckte er vor allem zurück, als sich die kalte Vernunft höhnisch an ihn herandrängte und ihm sein durchgeistigtes Napoleongesicht als lächerlich wirkende Fratze zeigte.

Als er aber die sonst lebenslustige Käthe still und weltfremd umherschleichen sah, wie sie ihm absichtlich aus dem Wege ging und jedesmal rot unter seinem forschenden Blicke wurde; sie dann eines Abends in ihrem Kämmerlein verloren weinen hörte, als sänge sie schon auf diese Art ihr Abschiedslied von der Welt, fand er nicht den Mut zu einer Beruhigung durch irdische Güter. Er schämte sich auch ein wenig, auf diese Art seine Ehre zu Markte zu tragen und zu dem Geständnis seiner Schuld auch noch die Verachtung mit in den Kauf zu nehmen.

Denn so sah dieses Mädchen aus: dass es aufspringen und ihm den Rücken zukehren könnte, um dann ihre sittliche Grösse vor ihm in der Tiefe eines Wassers zu begraben. Und dann hätte er niemals mehr mit reinem Gewissen Recht sprechen können, — das fühlte er so mit der ganzen elementaren Wucht eines unbestechlichen Mannes.

So kam denn der Gang nach dem Standesamt, ein etwas heimlicher Gang mit zwei bezahlten fremden Zeugen, „Urkundenstatisten“, wie sie der Landgerichtsrat grimmig für sein Gedächtnisbuch getauft hatte. Lange hatte er geschwankt, ob er nicht wenigstens seinen Schwager, den Fabrikanten Netzbein, einen sonst besonnenen Mann, ins Vertrauen ziehen solle, aber der hatte den Fehler, alles seiner Frau zu erzählen, und wenn die liebe Schwester erst über ihre neue Schwägerin das Nähere erfuhr, dann fiel sie sicher in Ohnmacht, erholte sich aber schnell und teilte die Geschichte sofort halb Europa mit.

Es gab da auch einen Kollegen am Landgericht, der in ähnlicher Weise hängen geblieben war, also Verständnis für den Schicksalsgenossen hätte haben müssen; aber auch ihn umging Sonter, denn es erschien ihm als in der menschlichen Natur begründet, dass, wer einmal unbesonnen in eine Grube gefallen war, sich gerne freute, wenn einem anderen dasselbe passierte.

Wenn Landgerichtsrat Sonter an diesen Gang zum Standesamte dachte und sich dabei den trüben, regnerischen Tag vorstellte, die beiden, übrigens sonntäglich gekleideten „Individuen“ noch vor Augen hatte, die mit derselben Gleichgültigkeit sein Glück besiegeln halfen, wie sie es, ein Gewerbe aus dieser Not machend, schon bei einem Dutzend anderer Pärchen getan hatten (fast jedes Standesamt in Gross-Berlin hat mit derartigen Aushilfezeugen aufzuwarten), dann verfolgte ihn noch immer die Vorstellung, den Weg zum Richtplatz angetreten zu haben.

Leider war er am Leben geblieben, weil man ihn durch Handschlag und mit Glückwunsch zum friedlichen Aushalten auf diesem seltsamen Planeten, und zwar an der Seite einer frischen, unternehmend aussehenden Lebensgefährtin, begnadigt hatte, und das drückte ihn als die Moral davon.

Im übrigen hatte er noch in der Erinnerung, dass sich alles sehr kurz und sehr geschäftsmässig abgespielt hatte, ohne jede besondere Aufregung der anderen mitwirkenden Geister, woraus er schloss, dass der Herr Standesbeamte gegen derartige aussergewöhnliche Eheschliessungen bereits ganz abgestumpft gewesen sein musste.

Noch merkwürdiger aber fand es Landgerichtsrat Sonter, dass man bis heute so wenig Notiz von seiner Heirat genommen, dass sein Leben sich während dieses ganzen Jahres gleichmässig wie immer abgespielt hatte; dass trotz alledem keine Berufsstörung bei ihm eingetreten war, noch weniger sein scharfes Denken nachgelassen hatte. Und er hatte doch geglaubt, mindestens den Verstand verlieren zu müssen, hatte befürchtet, über Nacht zum Mittelpunkte gesellschaftlicher Verlästerung zu werden und einen Familienboykott zu erleben, was gleich einer privaten Verrufserklärung gewesen wäre. Es meldete sich aber niemand, am wenigsten von seinen Kollegen, der ihn auf den Isolierschemel hinwies, — im Gegenteil trat durchaus keine Veränderung in seinem Verkehr ein, denn wenn die üblichen Einladungskarten ins Haus kamen, so lauteten sie nach wie vor nur auf Herrn Landgerichtsrat Sonter allein, ganz ohne den Zusatz „und Frau Gemahlin“.

Zuerst hatte Sonter seine Verwunderung darüber nicht unterdrücken können und dahinter so etwas wie zarte Rücksichtnahme auf seine menschliche Verirrung erblickt, die man dem ausgezeichneten Richter nicht übelnehmen wolle; allmählich aber kam er zu der Einsicht, dass man, weil er niemand von seiner „Vermählung“ Kenntnis gegeben hatte, auch keine Notiz von der Existenz seiner „Gemahlin“ zu nehmen brauche, falls man überhaupt von seiner Ehe etwas wisse.

Als Landgerichtsrat Sonter zu dieser Überzeugung gekommen war, schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und nannte sich einen Narren, lobte aber zugleich die wundersamen gesellschaftlichen und sozialen Einrichtungen einer Grossstadt, die es ermöglichten, dass sich kein Mensch um das Privatleben des anderen bekümmerte, sobald es nicht an die grosse Glocke gehangen wurde.

So gab er sich selbst den schönen Titel „verheirateter Junggeselle“, während die, die es am meisten hätte angehen sollen, ihn nach wie vor für total ledig hielten.

Und das war nicht zuletzt der Bescheidenheit und Verschwiegenheit seiner „Geheimfrau“ zu verdanken, wofür er ihr im stillen auch nicht die Anerkennung versagte, weil gerade dadurch das Zusammenleben einigermassen erträglich wurde.

Der irrende Richter

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