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I
ОглавлениеAm Abend des 2. Dezember hielt sich Frau Ernestine Frobel auffallend lange in ihrem Geschäftszimmer auf, ohne jedoch ihren gewohnten Platz an dem mächtigen Diplomatentisch einzunehmen, über dem das Licht sonst regelmässig Punkt 7 Uhr zu erlöschen pflegte, falls aussergewöhnliche Umstände es nicht eher bedingten. Sie durchschritt vielmehr aufgeregt das Zimmer — diesen ausgedehnten Raum, der mit seinen drei breiten Fenstern etwas Saalartiges hatte und in seiner ganzen Ausstattung mit dem schweren Teppich, dem Ruhebett mit türkischer Decke, den bequemen Sesseln und den seidenen Übergardinen überwiegend einen privaten Charakter zeigte, so dass man ihn eher als eine Fortsetzung der Wohnung nebenan hätte betrachten können. Nur der eintürige Geldschrank in der äussersten Ecke, ein elegantes Regal mit etikettierten Buchkartons und sonstige, von einem grossen Kaufmannshause unzertrennliche Dinge zeugten von dem geschäftlichen Eifer, der hier tagtäglich entwickelt wurde und sich durch die geöffnete Tür gleichsam hinüberspann zu dem grossen Kontor hinten, wo sich zwei Reihen bereits verlassener Doppelpulte, nur noch schwach von einer einzigen Deckenflamme beleuchtet, aus dem gähnenden Dunkel hervorhoben.
Im kleinen Nebenkabinett, das die Verbindung nach dort herstellte, arbeitete als Letzter noch Herold, der alte, biedere Herold, der schon unter dem seligen Chef seine verschiedenen Gros Stahlfedern in aller Ruhe verschrieben hatte und dem im Laufe der Jahre beim Lampenlicht die letzten Haare allmählich vom blanken Schädel gefallen waren wie der dünne Schnee von einer Bergeskuppe, den der Sturmwind ins Tal hinunterfegt. Die goldene Brille etwas weit auf die spitze, vom Lampenschirm grün angehauchte Nase gerückt, vergass er nicht, über sie hinweg zeitweilig besorgte Blicke nach dem erleuchteten Nebenzimmer zu werfen, falls seine wasserblauen Augen nicht den Weg gerade nach der Wanduhr nahmen. Denn obwohl in jahrzehntelanger Zucht daran gewöhnt, sich der alten Gewohnheit zu beugen, die ihn nach dem Ultimo über dem Privatkonto der Frau Chef länger als sonst hier festhielt, noch mehr dem eisernen Willen dieser seltenen Frau da drinnen, die als Muster von Pflicht und Herzensgüte gelten konnte, erschien ihm für seine mürben Knochen die Tagesarbeit diesmal jedoch ein wenig zu ausgedehnt — gerade heute, wo sein Schwiegersohn zu Besuch kommen wollte und, wie immer bei dieser Gelegenheit, ausnahmsweise ein saftiges Filet zu erwarten war.
Etwas Aussergewöhnliches musste Frau Frobel bewegen, denn noch niemals hatte er ihre stattliche Gestalt den Lichtschein der geöffneten Tür so oft durchkreuzen sehen wie jetzt — selbst in jenen schweren Tagen nicht — mit Schauern dachte er daran —, als der Zusammenbruch der alten, angesehenen Firma C. D. Frobel zu befürchten war und ein Sturm die Seele dieser Frau aufgepeitscht hatte, der für alle älteren Angestellten, die um ihr Brot bangten, etwas Erschütterndes hatte.
Es war so still in den Räumen, dass man nur das Rauschen des Kleidersaumes hörte, denn obgleich Frau Frobel, die einst so überschlanke Frau Frobel, allmählich üppige Formen angenommen hatte, zeigte sie doch die Geschmeidigkeit der eleganten Dame, und so vernahm man kaum ihre Tritte, die obendrein durch Teppich und Dielenbelag gedämpft wurden. Nur von draussen schallte das schon im Erlöschen begriffene Leben der stillen Kanalstrasse herein, das sich wie ein dumpfes Grollen der anbrechenden winterlichen Nacht ausnahm, die auch in dieser wenig arbeitsamen Gegend Berlins allmählich nach Ruhe verlangte. Dann machte sich ein Räuspern des Alten bemerkbar, das entschieden der Ausdruck einer Art verhaltenen Aufmuckens sein sollte. Und dazwischen hinein stahl sich nun ein leiser, langgezogener Seufzer der Frau, der das feine Knistern ihres Taftkleides begleitete und sich bis zu Herold verlor, der nun erst recht nicht den Mut fand, sich mit einem „ergebenen Diener“ zu melden, um seine Bitte für heute anzutragen. Vor einer Stunde etwa hatte ihn Frau Frobel ersucht, noch „einige Minuten“ zu bleiben, wonach denn glücklich eine Viertelstunde nach der anderen vergangen war. Und während er hin und wieder, diesmal unruhiger als zuvor, die Feder eintauchte und die Buchung fortsetzte, brachte er den Seufzer mit der Wohnung zusammen, die man allgemein im Geschäft „das Lazarett“ nannte, weil fast die ganze Familie aus kranken Menschen bestand: aus den Nachkommen einer degenerierten Rasse, die teils mit diesem, teils mit jenem Mangel behaftet waren.
Frau Ernestine selbst hatte diese Bezeichnung schon zur Zeit gebraucht, als die nun Erwachsenen noch Kinder waren und sie selbst noch mehr Zinn dafür hatte, die Vergehen der Natur durch Liebe, Güte und ewige Geduld auszugleichen.
Und der biedere Herold, der so gern sprach, wenn ihn etwas bewegte, blickte unwillkürlich durch das Fach des Pultaufsatzes der Stelle zu, wo tagsüber Frobel junior seinen dunklen Krauskopf über die Papiere beugte und so oft sein hübsches Gesicht zu ihm erhob, wenn es sich um Auskunft über schwierige geschäftliche Dinge handelte, die in sein zerstreutes Gehirn nicht gleich hinein wollten. Und schon hatte er die gewohnte Frage auf den Lippen: Nicht wahr, mein lieber Herr Günther, — die Frau Mama hat wohl wieder recht ihre Sorgen drüben? als er sich noch rechtzeitig seines Alleinseins bewusst wurde und mit einem Lächeln den Augen wieder die Richtung nach unten gab. Dabei erfüllte ihn aber etwas wie ein stiller Neid gegen den Abwesenden, der seine Lampe schon längst ausgedreht hatte.
Dieser junge Herr Günther hatte es gut —: er schenkte seiner Mutter keine Minute mehr über Kontorschluss und flog mit dem ersten Glockenschlag aus, und zwar seit Wochen schon. Wohin, das mussten die Götter wissen, weshalb sollte er es auch nicht tun — er, der einzige Gesunde unter dem Nachwuchs, der Temperamentvolle und Lebenslustige, der nur am Tage die Beharrlichkeit seiner Mutter zeigte, um sie dann am Abend gehörig abzuschütteln! Gott hatte ihr diesen blühenden Knaben geschenkt (sie selbst hatte es ihm, dem alten Vertrauten, in einem Augenblick der Glückseligkeit in überschwenglicher Weise zugerufen), und er und die älteren Köpfe im Geschäft, die Anteil an der Familie nahmen, hatten sich darüber gefreut, dass dem gesunden Blute der Mutter diesmal zum Siege verholfen war.
Bis hierher war Herold in seinen Gedanken gekommen, als Frau Frobel auf die Schwelle des Zimmers trat und mit ihrer tiefen, melodischen Stimme, die etwas von dem Klang einer Heroine hatte, ihn zu sich herein bat. Als dann aber die Uhr acht schlug, rief sie erstaunt aus: „Schon so spät? Aber mein lieber Herr Herold, weshalb sagen Sie das nicht! Entschuldigen Sie nur, aber ich bin heute wirklich sehr zerstreut.“
Herold tat das, was brave Angestellte bei solcher liebenswürdigen Offenheit ihres Chefs immer zu tun pflegen: er lächelte krampfhaft und behauptete mit gemachter Überzeugung, dass eine derartige Verzögerung durchaus nichts auf sich habe. Dann brachte er die Papiere in seinem Pulte unter, wischte die Feder sauber aus, nahm die Brille ab, die er etwas umständlich in das Futteral steckte, und ging auf seinen steifen Beinen, mit dem Buch in der Hand, zu Frau Frobel hinein, denn es war Gebrauch, dass das Privatkonto, in dem vertrauliche Dinge standen, an jedem Abend hier eingeschlossen wurde.
„Nun, werden Sie bald in Ordnung sein?“ fragte Frau Frobel, während sie ihm gestattete, den Folianten in ihren Privatschrank zu legen. „Es ist diesmal ein bisschen viel nachzuholen, nicht wahr?“
„Wenn nichts dazwischen kommt, hoffe ich in acht Tagen fertig zu sein. Tja“, erwiderte Herold mit seiner klebrigen Stimme, an die man sich erst gewöhnen musste, um ihn zu verstehen. Dieses „Tja“ pflegte er immer erst nach einer Gedankenpause hinzuzusetzen, gleichsam wie nach einer nochmaligen Überlegung.
Abwartend blieb er vor ihr stehen in der losen Haltung aller jener Leute, die ihr ganzes Leben lang den Rücken über die Bücher krümmen mussten. Mit seinem bartlosen, faltenreichen Gesicht, das schon die rostbraunen Flecke des Alters zeigte, und in dem langen, schwarzen Kontorrock (einem abgelegten Sonntagsrock), den er gegen sein Strassenjackett noch nicht eingetauscht hatte, machte er fast den Eindruck eines ehrwürdigen Lehrers vom Lande in den Darstellungen, wie sie auf Bildern typisch geworden sind. Nur eine gewisse Koketterie in der Wahl seiner Krawatte, das blendend-weisse Oberhemd unter der mässig ausgeschnittenen Modeweste und die schwere goldene Uhrkette — der Bestandteil eines Jubiläumsgeschenkes — gaben ihm einen Zug ins Moderne, dem er mit der Zeit doch nicht hatte widerstreben können; schon aus Rücksicht auf die stete Nähe der Frau Chef, die ihn so gern zu Rate zog.
„Nehmen Sie doch einige Augenblicke Platz, lieber Herr Herold“, sagte Frau Frobel wieder und wies auf den Rohrsessel neben dem Schreibtisch, der solchen Unterredungszwecken diente. Gegen diesen alten Herrn, der sie schon als Backfisch gekannt hatte, war sie stets von grosser Zuvorkommenheit, die als besondere Auszeichnung aufgefasst werden konnte.
„Ich möchte Sie nur um etwas bitten“, fuhr sie fort und brachte, noch im Stehen, rasch einige Briefschaften beiseite.
Herold, der sich vor ihr nicht zu setzen wagte, vergass im Augenblick seinen Schwiegersohn und das Filet, denn er machte sich nun auf irgendeine Entlastung ihres Herzens über neue Aufregungen im Lazarett gefasst. Seit etwa acht Tagen sollte es mit Annemarie, der Jüngsten, nicht besonders gut stehen, so dass man bereits in Erwägung gezogen hatte, ob es nicht besser wäre, dass Herr Frobel, der im Geschäft eigentlich gar nicht zählte, sobald als möglich mit ihr nach dem Süden ginge. Solche Reisen wurden fast in jedem Jahr unternommen, und Frobel senior, der selbst „schwach auf der Brust“ war, wie man sein dispositionsloses Viveurtum zartfühlend an den Pulten umschrieb, hatte dann den Beschützer und Reisebegleiter zu spielen, was er sich, schon aus Gründen der eigenen Erholung, gern gefallen liess.
Zu seiner Enttäuschung musste aber Herold erfahren, dass es sich nur um einen kleinen Auftrag handelte, den er, gewissermassen diskret, gleich in der Frühe des andern Tages ausführen lassen sollte. Frau Frobel wünschte zu einem bestimmten Abend einen guten I. Rang-Sitz zu einer Vorstellung im Theater des Westens, das sie allein zu besuchen wünsche.
„Ich möchte aber nicht gern, dass mein Sohn etwas davon erfährt, weil ich gewisse Absicht damit verbinde“, fügte sie mit der Gleichgültigkeit einer Frau hinzu, die es selbstverständlich findet, dass man sich über den Grund ihres Vorhabens nicht den Kopf zerbreche.
Herold jedoch, der des Abends, wenn er ermüdet von der Kontorarbeit nach Hause kam, seine Zeitung bis auf die letzte Zeile las und dem daher nichts verheimlicht blieb, was im grossen Berlin vorging, entfuhr es unwillkürlich: „Ei, ei, tritt da nicht wieder Herr Emmerich auf? Nach so langer Zeit wieder. Mir ist’s, als hätte ich es gelesen. Tja.“ Und bevor noch Frau Frobel etwas erwidern konnte, fügte er, ganz eingenommen von diesem Ereignis, hinzu: „Also hat er sich doch wieder emporgerafft, dieser Herr Don Juan, der uns so schwere Sorgen gemacht hat.“ Wenn der Alte „uns“ sagte, so sprach er gewissermassen im Namen des Geschäftes, oder doch im Sinne des Privatkontos, in dem der Buchstabe „E“ seine finanzielle Bedeutung hatte, die ausser Frau Frobel er allein nur kannte.
Damit hatte es eine eigene Bewandtnis. Eines Tages, vor etwa fünfundzwanzig Jahren, hatte man Ernestines Mutter, Frau Kommerzienrat Brüning, die damals schon Witwe war, aber immer noch in den Spuren ihres Gatten wandelte, in ihrem Salon alles, was in der Kunst einen Namen hatte, um sich zu sehen, einen jungen, angehenden Tenor zugeführt, einen bildhübschen Menschen von grosser Figur, der, armer Leute Kind, weder Mittel noch Verbindung besass, den Schatz in seiner Kehle zu heben. Es dauerte nicht lange, so wurde er der umschwärmte Schützling Frau Brünings, die ihn ausbilden liess, ihn völlig erhielt und ihm zum ersten Siegeszug über die weltbedeutenden Bretter verhalf. Einige Jahre erfüllte sein Ruhm ganz Deutschland, man warf ihm das Gold in den Schoss, und unzählige Frauenherzen flogen ihm zu. Dann aber verlor er infolge eines Halsleidens — Boshafte meinten infolge seiner Trunksucht — seine Stimme; der Stern erlosch, und es trat ein, was immer bei gefallenen Grössen einzutreten pflegt: er geriet in Vergessenheit, vegetierte im Auslande und in den Provinzen und liess sich dann vorübergehend irgendwo als Gesanglehrer nieder, wo er nur noch eine lokale Rolle spielte.
Gegen seine Wohltäterin hatte er sich sehr undankbar benommen, was ihm aber seines über Nacht entstandenen Grössenwahns und seiner exzentrischen Neigung wegen verziehen worden war, obgleich sie unter seiner Renommage mit ihrer Freundschaft, die zu Andeutungen aller Art Veranlassung gegeben hatte, sehr gelitten hatte. Und selbst dann noch, als er, zurückgekehrt in seinen Staub, sich mit Briefen späten Dankes der einstigen Gönnerin erinnerte, hatte sie eine offene Hand für ihn, die seltsamerweise später auch auf die Tochter überging und sich bis auf den heutigen Tag bewährte.
Das ungefähr war die Geschichte, die zur Kenntnis Herolds gelangt war und ihm nun den Mut gab, eine scherzhafte Anspielung zu wagen. Und als er sah, dass keine Einwendung kam, fuhr er ermuntert fort: „Frau Frobel wollen sich gewiss davon überzeugen, ob seine Stimme noch nicht ganz passé ist.“
„Ja, das will ich. Sie sorgen dafür, nicht wahr?“
Es klang zwar freundlich, aber an der veränderten Tonart merkte er, dass diese Sache für sie erledigt sei. Einigermassen verschnupft stand er da, denn gar zu gern hätte er das Gespräch darüber weitergesponnen, weil ihn dieses Konto „E“ von jeher besonders interessiert hatte. Schliesslich war es doch wundersam, dass man immer noch bedeutende Summen an einen Menschen verschwendete, zu dem man persönlich gar keine Beziehungen mehr hatte, obwohl ihm von Frau Frobel einmal angedeutet worden war, dass sie damit nur eine letzte Bestimmung ihrer Mutter erfülle. Aber es war nicht seine Aufgabe, sich den Kopf hierüber zu zerbrechen, selbst wenn dieser Grossmut tiefere, geheimnisvolle Dinge zugrunde lagen. Was konnte sich eine Millionenfirma nicht alles leisten! Er hatte nur zu buchen und zu schreiben. Punktum.
Dann aber sagte er verbindlich, um Gelegenheit zur Verabschiedung zu finden: „Wenn Sie nichts dagegen hätten, Frau Frobel, würde ich das Billett selbst besorgen. Ich ginge einmal früher zu Tisch.“
Sofort war sie wieder die Gütige. „Das wäre mir eigentlich das liebste, Herr Herold. Wie gesagt, soll mein Sohn nichts davon wissen.“
Obgleich noch Hans Gerhard, der Älteste, vorhanden war, sprach sie im Geschäft nur von Günther, als von ihrem Sohne, was man auch erklärlich fand, weil dieser nur der Firma diente. Und da Herold wusste, dass der junge Frobel sich über diese „unverständliche Wohltätigkeit“ seiner Mutter bereits mehrmals aufgehalten hatte, so fand er diesen Standpunkt auch erklärlich.
„Es freut mich, dass Sie mich verstehen“, sagte sie durchaus liebenswürdig. Kein Zug in ihrer Miene verriet, was dabei in ihrem Innern vorging. Die Linke auf den Rand des Schreibtisches gestützt, den Oberkörper der elektrischen Flamme zugeneigt, überflog sie anscheinend gespannt ein Schriftstück, nach dem sie inzwischen gegriffen hatte, und markierte so die ewig beschäftigte Frau, die kleine Dinge nebensächlich abtut, ohne sich in den grossen dadurch stören zu lassen. Dann legte sie den Brief wieder fort, tat einen grossen Atemzug und ging zur geöffneten Tür, um einen Blick in die menschenleeren Räume zu werfen. Und als sie sich davon überzeugt hatte, dass der Kontordiener, der da hinten noch herumlungern musste, nicht zu sehen war, nahm sie ihren Platz am Schreibtisch ein und gab Herold stumm einen Wink, sich endlich zu setzen.
„Sagen Sie, — haben Sie vielleicht eine Ahnung, wo mein Sohn jetzt des Abends steckt?“ begann sie unvermittelt. Seit ein paar Wochen wird mir die Sache zu bunt. Er fängt an zu bummeln.“
Herold, der endlich etwas Tragisches erwartet hatte, lachte unwillkürlich.
„Die Sache ist nicht zum Lachen, lieber Herr Herold“, warf Frau Frobel ein. „Im Gegenteil, — sie ist sehr ernst. Und deshalb hoffe ich auf Ihre Hilfe. Ich weiss ja, dass Sie sehr von ihm eingenommen sind, aber auch er hat viel für Sie übrig. Er kroch Ihnen ja schon als Kind gewissermassen zwischen den Beinen herum. Und nun hängen Sie ja den ganzen Tag über am Pult zusammen. Gerade darauf baue ich. Denn sehen Sie: er plaudert so gern mit Ihnen und erzählt Ihnen gewiss so manches.“
Herold, ein wenig geschmeichelt, nickte; dann aber fasste er diese Dinge nicht so schlimm auf. Herr Günther sei eben kein Duckmäuser. Jedenfalls werde er seine Freunde haben, mit denen er sich des Abends amüsiere, wie es immer bei jungen Leuten der Fall sei. Im übrigen zeigte er sich durchaus nicht verändert. Er sei immer pünktlich zur Stelle, habe Liebe zur Arbeit und trage sein altes verbindliches Wesen zur Schau, das ihn in den Augen aller so angenehm mache.
„Ja, ja, das weiss ich“, wandte Frau Frobel lebhaft ein. „Dass seine Umgangsformen darunter nicht leiden, das ist ja selbstverständlich. Dazu ist er viel zu gut erzogen, denn ich habe ihn erzogen, worauf ich mir etwas einbilde . . . Aber ich sehe doch anders als Sie, mein lieber Herr Herold, was vielleicht daher kommt, dass mir diese Dinge mehr im Kopfe liegen. Sie werden eben durch Ihre Bücher zu sehr abgelenkt; was auch ganz erklärlich ist. Sehen Sie, mein Bester, — die Pünktlichkeit allein macht es nicht, denn das kann Gewohnheit und Zwang sein; meinetwegen auch Klugheit, um zu täuschen. Aber sagen Sie offen: ist es Ihnen nicht aufgefallen, dass mein Sohn jetzt öfters des Morgens aus dem Gähnen nicht herauskommt, wie? Es gibt doch solche Vormittage.“
Herold lachte nicht mehr, denn er sah die besorgte Miene seiner Gebieterin und konnte sich nicht verhehlen, dass ihm diese Vorgänge nicht entgangen seien. Und da ihm daran lag, dieser vortrefflichen Mutter jedes Bedenken zu nehmen, so wies er auf die anderen jungen Leute im Geschäft hin, die dasselbe täten, wogegen aber nichts zu machen sei, solange sie ihre Arbeit erledigten und man ihnen nicht den Vorwurf der Nachlässigkeit machen könne. Frau Frobel zeigte leichten Ärger. Was sie die anderen jungen Leute angingen! Hier handele es sich um ihren Sohn, der den Angestellten als Vorbild dienen und nicht Veranlassung geben sollte, ihnen gleichgestellt zu werden.
„Ich verstehe wohl, weshalb Sie das alles entschuldigen“, fuhr sie fort. „Sie entschuldigen es eben mit der Jugend. Das ist hübsch, und das freut mich, weil ich zum Teil denselben Standpunkt vertrete. Ich habe diese Sorte von Eltern niemals leiden können, die mit Vorliebe die Einmauerung ihrer Kinder verlangen. Gewöhnlich ist es die Sorte, die früher am meisten gesündigt hat.“
Und ihr Gesicht nahm unwillkürlich die Richtung nach der Wohnungstür, so dass Herold sie verstehen musste.
„Nein, nein, ich klage niemals ungerechtfertigt an“, fuhr sie mit verlorenem Blick fort, wobei sie nach einem Bleistift griff und auf den Rand der Abendzeitung zu stricheln begann. „Ich war ja auch mal jung und vergnügte mich nach Herzenslust. Natürlich soweit es jungen Mädchen erlaubt ist — namentlich in unseren Kreisen. Und doch kann ich Ihnen sagen: — manchmal hatte ich einen Drang, alles Konventionelle über den Haufen zu werfen und mich einmal gründlich auszuleben, wie es sich unsere modernen Töchter so sehnlichst herbeiwünschen, zum Teil auch schon tun. Die Zeiten haben eben andere Anschauungen gebracht. Und mir wäre es nicht schwer geworden, denn ich hatte ganz das Blut von meinem Vater. Aber ich wurde verdammt streng gehalten, ich sage Ihnen! Bei jeder Gelegenheit bekam ich’s von der Mutter zu hören: das schickt sich nicht, das passt sich nicht, so was tut man nicht. Für die Frauen gibt’s ein eigenes Moralgesetz, das die Männer für sie zusammengebaut haben. Manchmal hätte ich gewünscht, ich wäre ein Junge und könnte auf und davon gehen.“
Männliche Tatkraft haben Sie ja genug, hätte Herold am liebsten eingeworfen.
Frau Frobel hatte gar nicht die Empfindung, das alles zu einem Angestellten zu sagen, der schliesslich nur stilles Erstaunen darüber zeigen musste. Es war ihr vielmehr nur darum zu tun, sich an ihren eigenen Worten zu berauschen, während ihre Gedanken ganz wo anders waren. Fortwährend dachte sie an Sänger Emmerich, an den Mann, der damals ihr junges Mädchenherz bestrickt und sie bezaubert und vernarrt gemacht hatte und dessen Frau sie geworden wäre, wenn sich die Mutter und alle Verwandten nicht so energisch dagegen gewehrt hätten. Und so bereitete es ihr eine gewisse Befriedigung, noch einmal an Dinge zu rühren, die sich gerade an diesem Tage mit dem einstmals Geliebten verbanden.
Dieser Zustand dauerte aber nur wenige Minuten, dann war sie wieder die kluge Frau, die sich von überflüssigen Gefühlen nicht mehr bewältigen liess. „Also hören Sie mal, mein lieber Herold,“ sagte sie mit offener Heiterkeit, „Sie müssen mir ein wenig helfen, aus meinem Jungen etwas herauszubekommen. Ich glaube, es steckt ein Mädel dahinter — na, und das wäre das Schlimmste, was ich mir denken könnte. In seinen Jahren schon, und bei diesem Temperament! Ich möchte es nicht wünschen, aber, aber! — Ich befürchte, ich werde recht behalten.“ Und sie enthüllte ihm, dass Günther in letzter Zeit niemals vor zwei Uhr morgens nach Hause gekommen, ja, dass es einmal schon gegen fünf gewesen sei, ohne dass eine besondere Festlichkeit vorgelegen habe, die als Entschuldigung hätte dienen können. Und das müsse sie mit ihm, dem bisher Soliden, erleben.
„Mein lieber Herr Herold,“ fuhr sie erregt fort, „Sie wissen, was für ein unbegrenztes Vertrauen ich zu Ihnen habe, und Sie wissen auch, dass ich mit meinem Mann über solche Dinge nicht reden kann, für die er kaum Verständnis finden würde. Oder doch höchstens in seiner Auffassung, die, wie immer, minderwertig wäre. Steht es nicht ganz traurig um mich?“
Ein bewegender Seufzer kam über ihre Lippen, ähnlich dem, der schon vordem bis zu Herold gedrungen war, und den er sich jetzt nur zu sehr erklären konnte. Überrascht hatte er kein Wort hervorgebracht, sondern sein stilles Bedauern nur durch leichtes, verständnisvolles Nicken ausgedrückt. Das waren allerdings Dinge, die er nicht erwartet hatte und die manche Zerstreuung des jungen Herrn Günther in letzter Zeit erklärlich machten. Also auch dieser ging aus dem Gleise, wenn auch auf seine eigene Art; und alle Welt hatte sich bisher darüber gefreut, in ihm den Brauchbaren und Tüchtigen zu sehen, den Menschen mit gesunden Gliedern und unverrücktem Verstande, der dereinst die Firma kräftig leiten sollte. Obwohl das alles in seinem Kopfe herumging, begann er doch, die Gebieterin nochmals zu trösten, und je mehr Worte er dazu fand, die schönen und aufrichtigen Worte eines treuen Ratgebers, je mehr gewann er selbst der Sache die leichte Seite ab, an der er schliesslich nur etwas Vorübergehendes erblickte, eine kleine Verführung durch leichtsinnige Freunde, der man durch vernünftige Vorstellungen bald werde Abhilfe schaffen können.
Frau Frobel jedoch schüttelte mit dem Kopf, denn sie wusste bereits mehr, als sie angedeutet hatte. „Fangen Sie die Sache nur recht schlau an, dann wird’s schon gehen“, scherzte sie los. „Heucheln Sie ein wenig, schwindeln Sie meinetwegen auch, ich verzeihe es Ihnen. Alle Diplomaten haben ja zwei Gesichter . . . Nur darf er nicht wissen, dass ich dahinter stecke. Sagen Sie ihm doch, Sie seien ihm des Nachts in der Friedrichstrasse Arm in Arm mit einem hübschen Mädel begegnet und wären erstaunt über die Schönheit gewesen. So etwas schmeichelt und macht redelustig, wenn’s auch nicht wahr sein sollte. Und dann kommt ein Wort zum anderen.“
Herold, der sich bereits erhoben hatte, sah sie mit einer Miene an, in der in diesem Augenblick durchaus nichts von einer zu erwartenden Schlauheit zu lesen war. Dann lachte er aus Anstand mit, aber es war das Lachen eines Gefolterten. Bei knifflichen Dingen pflegte er sich die Nase zu reiben, und das tat er jetzt auch in ausgiebiger Weise, so dass es fast unschön war. Er, der schon seit Jahren regelmässig spätestens um elf Uhr in sein schmales separiertes Bett stieg und selten aus seiner stillen Gegend herauskam, sollte sich des Nachts in der Friedrichstrasse umhertreiben! Und er, der sich rühmen durfte, stets wahr und aufrichtig gewesen zu sein, sollte diese Tugend plötzlich ablegen! Aber was tat man nicht alles einer besorgten Mutter wegen, der obendrein geschäftlich zu dienen man sich zur Ehre rechnen durfte.
„Die Bummelei würde ich ihm schon verzeihen, wenn er sich nur an kein Frauenzimmer hängt“, sagte Frau Frobel nach seiner Zustimmung noch und benutzte die Gelegenheit, sich noch rasch nach dem Befinden seiner Familie zu erkundigen.
Dadurch war Herold endgültig bezwungen.