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III
ОглавлениеFrau Frobel hatte das Zeitungsblatt sinken lassen und sass nun unbeweglich da, die Hände im Schoss gefaltet, den Blick verloren vor sich gerichtet auf irgend etwas, was sie sah und wieder nicht sah, weil ihre Augen weiter gingen: über die ganze Umgebung hinweg, hinein ins Reich der geistigen Vorstellungen. Kaum hatte sie noch ihres Mannes letzte Worte gehört. Der Harmlose! Wenn er wüsste, weshalb sie diesen Platz hier niemals aufgeben wollte, diesen Sitz im Zimmer, an den alles herantreten musste, was sie berührte; wenn er auch nur ahnte, dass die Furcht sie hier zur täglichen Wache trieb, die Furcht eines ewig zitternden Weibes bei dem zehrenden Gedanken an die geheime Schmach ihres Lebens!
Die stattliche Frau Frobel stöhnte auf, erhob sich und ging mit gesenktem Haupt träge durchs Zimmer. Und während sie diesen Gang machte, sah sie wieder den Abend vor zehn Jahren, wo Emmerich hier vor ihr stand und sie mit versteckten Anspielungen an ihren Sündengang erinnerte, und zwar — es wurde ihr nur zu klar — nur zum Vorteil seines Beutels. Damals hatten diese üblen Gewohnheiten begonnen, und was andere für unbegreifliche Wohltaten hielten, war nur ein Blutopfer, das sie brachte, dem Zwange folgend, nicht dem eigenen Willen. Und sie sah ihn wieder gehen, gleich einem liebenswürdigen Schuft, der in seinem Vorgehen nichts Besonderes fand, vielmehr nur sein persönliches Recht darin erblickte, von ferne mitzugeniessen an einem glänzenden Leben, das ihm versagt bleiben sollte, trotzdem er es hatte mit versüssen helfen. Und sie sah sich danach wie zusammengebrochen auf den Stuhl sinken und hörte sich heisse Tränen weinen, die stillen, heissen Tränen einer doppelt betrogenen, tief verkannten Frau.
Und als das alles jetzt in Ernestinens Seele wieder erwachte, war sie nahe daran, in die gleiche Stimmung zu verfallen; aber sie wollte sich heute nicht unterkriegen lassen, nicht von diesen jämmerlichen Gefühlen, die nach Entlastung schrieen. Weiter tragen diese Bürde, diese sich selbst auferlegte schwere Seelenlast, das sollte nach wie vor der Leitspruch ihres Daseins sein. Um ihres Sohnes willen!
Stark war, wer sich selbst bezwang.
Und Frau Frobel bezwang sich. Sie holte aus ihrer Kleidertasche den Brief Emmerichs hervor, in dem er sie mit pathetischen Worten an die alte, ewige Freundschaft erinnerte und sie bat, seiner „künstlerischen Wiedergeburt“ beizuwohnen, ging an den Majolikaofen in der Ecke, schraubte ihn auf, warf das zusammengeknickte Papier in die Asche und liess es durch ein brennendes Streichholz so lange in Flammen aufzüngeln, bis nichts mehr davon übrig geblieben war. Dann nahm sie die Feuerzange, vermengte noch die Asche und verschloss den Ofen mit derselben Sorgfalt. Und als sie sich dann wieder erhob und tief Atem holte, kam sie sich im Augenblicke nicht nur wie erleichtert vor, sondern auch wie gesäubert von etwas Unreinem, das sie wider Willen mit herumgetragen hatte.
Noch einmal hielt Frau Frobel Umschau im Zimmer auf ihrem Schreibtisch. Sie nahm die Zeitung, drehte die Arbeitslampe ab, ging bis zur Wohnungstür und schaltete die letzte Deckenflamme aus, was sie erst tat, als ihr schon das Licht aus dem anderen Zimmer entgegenflutete. Dann, verriegelte sie auch hier die Tür von innen und setzte zugleich den Knopf der elektrischen Klingel dreimal in Bewegung, was das Zeichen für ihre Ankunft war, wonach denn gewöhnlich alles rebellisch wurde.
Frau Doktor Rumpf, die Hausdame, wurde sichtbar, um noch rasch einige Anordnungen für die Abendtafel entgegenzunehmen. Sie war die alleinstehende Witwe eines vermögenslosen Arztes, eine angenehme, noch nicht alte Dame mit offenem, freundlichem Wesen, aber ohne jede Leidenschaft. Als Frau Frobel einsah, dass sie sich schwer vom Geschäft werde lossagen können, suchte sie nach einer gebildeten Stütze, und so kam sie auf die ihr so warm empfohlene „Frau Doktor“, wie man sie allgemein im Hause nannte, die besonders kinderlieb war und nun schon seit einem Jahrzehnt sich als das Muster einer klugen und treuen Helferin in Alltagsdingen bewährt hatte.
„Es ist heute ein bisschen spät, hoffentlich ist die Gesellschaft nicht unruhig geworden“, sagte sie und ging mit raschen Schritten voran durch den grossen, in Herrenzimmerstil ausgestatteten Durchgangsraum, der in den bis in den Garten hineingebauten Seitenflügel führte. Öde und still lagen die Prunkräume, durch deren offene Türen man hinten einen schwachen Lichtschimmer erblickte, der aus dem Musiksalon kam, wo der Bechsteinflügel etwas suchend bearbeitet wurde.
„Es ist Edda, die sich den Rigoletto vorgenommen hat“, sagte Frau Rumpf. „Herr Frobel erzählte nämlich vor seinem Fortgehen, dass nächstens ein alter Bekannter der Familie darin auftreten werde. Und da hat sie sich gleich darüber hergemacht.“
„Was mein Mann nicht alles anstellt“, sagte Ernestine ärgerlich.
„Herr Günther ist gleich weggeflitzt, ohne was genossen zu haben“, fuhr die andere fort. „Er hatte es wieder sehr eilig.“
„Ja, er hat mich darum gebeten“, sagte Frau Frobel wieder. „Ich glaube, die jungen Herren wollen da irgendwo einen Klub gründen, und da muss man die kleinen Unarten verzeihen.“ Schon seit einiger Zeit gebrauchte sie solche Ausreden, um Günthers spätes Ausbleiben zu entschuldigen.
Statt nach hinten zu gehen, nahm sie nunmehr den Weg nach dem Musiksalon, wobei sie den langen und breiten, ganz hell gehaltenen Korridor, der fast wie ein blendender Saal aussah, durchschritt. Überall sah man weiss lackierte Türen und dazwischen Spiegel in vergoldeten Rahmen, üder denen die Glasbirnen wie riesige Wassertropfen aus dem Metallgerank hervortraten. An grossen Gesellschaftsabenden wurden die Gäste hier von einem Meer des Lichts empfangen, das sich in dem lackierten Glanz wie Sonnenglitzer wiegte.
„Aber Kind, was quälst du dich denn hier ab, du wirst dich erkälten“, sagte Frau Frobel zu ihrer Tochter, zwar vorwurfsvoll, aber doch mit der ganzen Zärtlichkeil einer liebenden Mutter. Und sie nahm Edda das Opernbuch vor der Nase fort und klappte den Flügel sanft zu.
„Aber Ma’chen, ich erkälte mich doch nicht“, schmollte Edda mit ihrer dünnen Stimme, hing sich aber, durchaus nicht böse, sofort an den Hals der Mutter, soweit das bei ihrem zurückgebliebenen Wachstum möglich war, denn sie war klein und niedlich, fast wie eine Zehnjährige; und wenn nicht ihr ausgewachsener Kopf auf breiten, fast gar nicht hängenden Schultern gewesen wäre, so hätte man sie auch dafür halten können.
„Doch, doch, es ist ja hier nicht geheizt“, fuhr Frau Frobel fort und drückte einen Kuss auf das seidenweiche Blondhaar ihres Schmerzenskindes. „Obendrein hast du nur eine dünne Bluse an. Übe doch hinten, da hast du doch dein Klavier.“
„Sei nur nicht böse, Ma’chen, nein? Der Flügel klingt doch viel schöner, und da die Noten nun gerade hier lagen . . . Sieh mal, mir ist gar nicht kalt, fühl mal meine Hände.“
Ein starker Liebreiz sprach aus ihrem Wesen, etwas sein Kindliches, das sofort gefangennahm. Dazu redete ihr grosses Auge, das mitzulächeln schien, wenn die Pupille unter der hellen Wimper beweglich hin und her ging. Überhaupt lachte das ganze Gesicht, sobald die roten Lippen des breiten Mundes sich verzogen und die etwas auseinanderstehenden Zähne weiss hervorblinkten. Sie lachte zu viel und fast immer, wenn man mit ihr sprach, — das war ihr Fehler, aber doch einer, der sie kleidete. Entschieden trug sie die Züge ihres Vaters, was besonders am Profil erkennbar war. Nur den Schädel hatte sie von der Mutter, diesen wohlgeformten Schädel, der sich so prächtig und rund am Hinterkopf ausbaute, wie eine schön gezeichnete Plastik.
„Du irrst dich, deine Hände sind ganz kalt“, sagte Frau Frobel aufs neue zärtlich und rieb ihr die dünnen, weissen Finger. „Komm und wärme dich, du hast viel zu wenig Blut.“
„Kann ich was dafür, Ma’chen? Das sagst du immer. Und Gerhard, der Ekel, nennt mich schon die Blutlose, wenn er mir eins auswischen will.“
„Ja, ein Ekel ist er manchmal, aber nur, wenn er seine unliebenswürdige Laune hat“, beruhigte sie Frau Frobel.
„Aber die habe ich doch nie, liebe Mama“, mischte sich unerwartet Gerhard hinein, der alles vom Nebensalon mit angehört hatte und nun mit seinen Albernheiten zu ihnen hereintrat. Er war länger als sein Vater, glich ihm aber sonst wie ein Ei dem anderen, nur dass bei seinem Entstehen die Schablone etwas verrückt worden war, wodurch der Trottel in ihm sich mehr nach der Richtung ins Übermoderne ausgebildet hatte.
Die Kleine war so erschrocken, dass sie die Hand aufs Herz legte. Dann klagte sie ihn an: „Siehst du, Ma’chen, so schleicht er nun umher und erschreckt die Menschen. Schon vorhin hat er’s so mit mir gemacht.“
Gerhard nahm das gar nicht übel und zeigte nach wie vor seine grossen Hauer, die sich unter dem nach englischer Art gestutzten Schnurrbart etwas sehr afrikanisch ausnahmen. Dazu das infolge des letzten Kopfschmisses durchsichtig geschorene Kopfhaar, der schlecht geheilte Durchzieher auf der linken blauroten Wange, der drei Zoll hohe Stehklappkragen, der seinen Beruf als Röllchen verfehlt hatte, und der degenerierte Korpsstudent war fertig. Natürlich ging er auch schlapp und krumm, weil die ewige Sorge, wie dieses bisschen Dasein wohl zu ertragen sei, ihn niederdrückte; und natürlich suchte er etwas darin, auch in der Kleidung, gleich seinem Alten, den kleinen Lord herauszubeissen, allerdings mit einem bedenklichen Stich ins Gigerlhafte: durch auffallend punktierte Modeweste, durch Stoffjackett, schildpattartig gemustert, und dito Beinkleider, selbstverständlich aufgekrempelt, so dass das schmale, schwarz bestrumpfte Fussgelenk über dem Lackschuh zu sehen war. Beinkleider natürlich mit Bügelfalte, Jackett auf Taille gearbeitet, Weste mit zweireihigen blanken Knöpfen stark in Bedientenmanier, — der ganze Kerl tipp-topp, herausgeschnitten aus dem neuesten Mode-Katalog seines teuersten aller Schneider.
„Aber erlaube mal, Püppchen — umherschleichen!“ zerrte er die Worte hervor, „wie sich das anhört. Tu ich absolut nicht, du bist doch auch wirklich kein Objekt dazu . . . Ich trete mir nur diese neuen Parkettkähne aus, die mir dieser Idiot von Schuster natürlich wieder zu eng gemacht hat. Dieser ganz unheilbare Idiot! Hat so ein Individibum wohl eine Ahnung, was für einen Kulturmenschen die Hühneraugen bedeuten? Nee. Hat er nicht.“
Danach gab er zunächst seiner Mutter zur Begrüssung den üblichen Handkuss, ganz im Galanteriegenre seines Vaters, natürlich auch mit demselben Achtungsbedürfnis, denn er hatte vor ihr denselben heillosen Respekt wie alle in der Familie. Und nun fuhr er in seinen Kehlkopftönen, die noch komischer wie die seines Vaters wirkten, fort, sich über den Schuhmacher zu beklagen, und zwar mit einer Wichtigkeit, als hinge das Wohl der ganzen Welt davon ab. Er gehörte eben zu den Leuten, die über die nichtigsten Dinge einen Vortrag halten können. Was war ihm sein ganzes Jus, was der innere Mensch, wenn der äussere nicht seine Befriedigung erweckte! Aber sein Ärger war liebenswürdiger Art, mehr das hilflose Jammern eines bedauernswerten Menschen, der seine eigenen Sparren nicht kennt.
Frau Frobel, die sich längst an solche einfältigen Klagen gewöhnt hatte, hörte gleichgültig zu und nickte nur.
Edda jedoch, die über das „Püppchen“ aufgebracht war, sah sie mit einem heimlichen Tipp auf die Stirn bezeichnend an. Sie hatte nur die körperlichen Mängel vom Vater, den scharfen Verstand aber von der Mutter. Fortwährend verdrehte sie wie entsetzt die Augen, schöpfte wiederholt Luft, um etwas zu sagen, und platzte endlich in seine Redepause hinein. „Nun musst du es auch noch mal hören, du Ärmste. Und schon zu Günther hat er denselben Salm daraus gemacht . . . Ja, ich sage Salm, weil du immer Püppchen zu mir sagst.“
Wütend sah sie den Grinsenden an und stiess mit dem Fuss auf. „Denkst du denn, ich weiss nicht, was du damit sagen willst? Ich sei zurückgeblieben und ein unbedeutendes Ding! Ein Püppchen setzt man überall hin, wo man will, nicht wahr? Und da muss es warten, bis man sich wieder seiner erbarmt. Aber ich bin gelenkiger, als du glaubst. Obendrein vernünftiger. Pah!“ Verächtlich hob sie die Schultern. „Denk nur nicht, dass ich um ein Paar Schuhe so viel Theater mache.“
Gerhard schüttelte sich vor Lachen. „Aber Püppchen, Püppchen! Du wächst ja ordentlich.“
„Ma’chen, du musst es ihm verbieten“, wehrte sich die Kleine. „Weisst du, was er noch gesagt hat? Ich würde nie einen Mann bekommen.“
„Aber Püppchen, das sagst du doch selbst immer.“
„Dann brauchst du es doch nicht zu sagen.“ Sie war, eingedenk ihrer armseligen Figur, dem Weinen nahe. Aber, sich beherrschend, liess sie die Worte weiter sprudeln. „Ich beschäftige mich doch wenigstens mit etwas, ich erfülle doch schon meinen Zweck. Papa habe ich heute zwei Stunden bei seinen Münzen geholfen. Und wie hat er mich gelobt! Soll ich dir was sagen, Grosser? Lerne von Günther. Gegen den nimmst du dir so was nicht heraus, trotzdem er auch jünger ist als du. Vor dem hast du Respekt. Siehst du, da hast du auch etwas von mir bekommen.“
Gerhard nahm das wiederum nicht übel, sondern lachte ins Leere, gerade wie sein Vater lachte, wenn er sich damit für den Mangel an Worten entschuldigen wollte. Die Hände in den Hosentaschen, stolzierte er durch das Zimmer. „Respekt, Respekt“, echote er dann. „Natürlich habe ich Respekt vor ihm, du Püppchen. Weil er dazu da ist, später das Vermögen zu vermehren. Einer muss es doch tun.“
Frau Frobel hatte genug von diesem Streit, und so ging sie mit ihnen in das Speisezimmer, wo der Tisch bereits gedeckt war.
Geschäftshaus und Wohnhaus stiessen zusammen und waren im ersten Stockwerk mit einem Durchbruch verbunden. In dieser ruhigen Gegend am Kanal, wo man kein Gegenüber hatte, wohnte und lebte es sich so schön, dass man niemals Verlangen nach dem äusseren Westen gezeigt hatte, obwohl man dort mehrere Mietpaläste besass, in denen alle Annehmlichkeiten der Neuzeit zu finden waren. Gerhard hatte zwar schon manchmal darüber gemuckt, heimlich unterstützt von seinem Vater, aber Frau Ernestine liess sie ruhig grollen und umging die Sache immer mit der Ausrede, dass sie selbst in die Nähe des Geschäfts gehöre und erst Günther so weit sein müsse, dass man sich auf ihn verlassen könne. Sie hatte auch sonst noch ihre besonderen Gründe, die aber niemand von ihnen zu wissen brauchte.
Im übrigen brauchte man sich durchaus nicht zu schämen, in einem Hause zu wohnen, das noch von Schinkel erbaut war und in dem sich schon beim seligen Kommerzienrat Minister wohlgefühlt hatten. In den letzten zehn Jahren hatte man nach und nach sechzigtausend Mark hineingesteckt, um der Wohnung grössere Räume zu schaffen und sie neuzeitlicher zu gestalten, und dieses Kapital musste erst wieder abgewohnt werden.
Das war wenigstens Frau Frobels Meinung, die sie gewöhnlich noch durch Bemerkungen ergänzte, dass man ja, wenn sie mal tot sei, machen könne, was man wolle. Ihr Mann lachte dann gewöhnlich und behauptete, sie werde sicher hundert Jahre alt werden. Gerhard jedoch dachte bei sich: Hübsche Aussicht für den Zug nach dem Westen!
Am Tische sass bereits Annemarie, die Dreizehnjährige, ein blasses, spillriges Ding, mit dem Vogelgesicht des Vaters aus dessen späterer Periode, was sich namentlich zeigte, sobald ihre Augen suchend in die Höhe gingen. Mit diesem Kinde hatte man am meisten durchgemacht, denn, obwohl tadellos gewachsen, war es von frühester Jugend au schwach und kränklich gewesen, trotzdem man es fast in Watte gewickelt und ihm die gesundeste Amme gehalten hatte, die man finden konnte. Die Neigung zur Bleichsucht war nicht herauszutreiben. Ewig war sie müde, klagte sie über Kopfschmerzen, so dass man sie wie ein Wesen aus Glas behandelte. Nur vorübergehend hatte sie die Schule besucht, dann war sie wieder ihrer Erzieherin anvertraut worden, die sich abquälte, sie aus ihrer geistigen Trägheit aufzurütteln. Neuerdings trug man sich mit der Absicht, sie auf mindestens zwei Jahre in eine Pension im Süden zu bringen, deren Inhaberin die Frau eines Arztes war, so dass man sie in guter Behandlung wusste. Geheimrat Völckner, der alte Hausarzt, hatte es so verordnet, und deshalb sollte Frobel senior die Reise nach da unten machen und Edda gleich auf ein paar Wochen mitnehmen.
Ewig voll zappelnder Unruhe, wie Annemarie war, hatte sie das Sitzen bereits lästig gefunden, und so lief sie auf ihren Storchbeinen der Mutter mit den Worten entgegen: „Mammi, wo bleibst du denn? Ich verhungere schon.“ Und sogleich knutschte sie die Mutter ab, springend wie ein junger Hund, der sich mit seinem Schnäuzchen durchaus reiben will. Sie sagte immer Mammi, weil sie das süsser als das „Ma’chen“ der Älteren fand.
Jedes der Kinder hatte überhaupt seine besondere Art, sich der Mutter gegenüber zu geben, die sie alle zusammen am liebsten vor Herzlichkeit aufgegessen hätte. Daran war nicht zu zweifeln.
„Und nachher isst du wieder so wenig“, erwiderte Frau Frobel und schickte dann gleich den Diener hinaus, der ihr heute, wo der Hausherr nicht anwesend war, überflüssig erschien. Das war mit Annemarie immer so: sie hatte zuerst mächtig Appetit, und kam dann das Essen auf den Tisch, so war sie auch schon wieder satt.
„Du gehst gleich nachher ins Bett und nimmst dir deine Wärmflasche“, fuhr Frau Frobel fort. „Und morgen, in der Mittagstunde, fahrt ihr wieder spazieren, du und Edda. Wir haben jetzt immer Sonnenschein, das wird euch gut tun, dir ganz besonders, der Geheimrat ist auch dafür. Ihr werdet euch hübsch die Pelzschuhe anziehen.“
„O ja, Mammi.“ Annemarie klatschte in die Hände und benahm sich beinahe dumm vor Freude. Sie war und blieb immer das Baby.
Man setzte sich und begann zu essen. Eines der Hausmädchen trug auf und Frau Doktor gab in ihrer stillen, bestimmten Art die Anweisung, oftmals nur durch einen Wink nach dem Anrichtetisch hin. Man tafelte immer schnell und ohne Aufenthalt, denn jedes war froh, wenn es vom Tisch weg war, weil es seinen Neigungen nachgehen wollte. Am meisten sehnte sich Frau Ernestine danach, denn für gewöhnlich war die Unterhaltung öde und ohne Reiz. Jeder ritt sein Steckenpferd. Der Alte sprach von seinen Münzen, der Älteste erzählte die nichtigsten Dinge, Edda schwieg sich aus, wenn sie nicht gerade einen neuen Roman erwähnungswert fand, und die Jüngste plauderte von ihren Puppen, mit denen sie immer noch so gern spielte, und ärgerte damit die Ältere, die kleiner als sie war und daher mit diesen leblosen Wesen immer verglichen wurde. Und wenn die Mutter und Günther sich über Geschäftsdinge unterhielten, so interessierte das wieder die anderen nicht.
Es kam höchstens Leben in die Unterhaltung, sobald Günther mit seinem Temperament dazwischenfuhr und irgendeine Tagesfrage anschnitt. Denn er interessierte sich auch für alles, was ausserhalb der Kontorfrage lag. Dann fühlte sich Edda besonders hingerissen, und auch der Chefgemahl liess sein Münzthema fallen, während der Erstgeborene seine Gedanken zusammensuchte, um dem Jüngeren seine Weisheit entgegenzuhalten. Er liebte ihn zwar, aber stritt um so mehr mit ihm, weil er die Unterjochung seines bisschen Geistes nicht dulden wollte.
Um so einsilbiger ging es also heute zu, da Günther wieder einmal den Tisch der Eltern verschmäht hatte. Ausserdem war auch Fräulein Assmus, die Erzieherin, nicht anwesend, da sie heute zu Verwandten geladen war. Sie wusste viel, gab, da sie immer aufgelegt zum Sprechen war, der Unterhaltung eine gewisse sachliche Färbung, wodurch dann die Pausen ausgefüllt wurden. Frau Doktor aber sprach am wenigsten, denn sie musste die Augen überall haben.
„Wenn Günther nicht hier ist, weisst du, Mammi, dann ist schon gar nichts los“, meldete sich endlich das „Baby“, nachdem es von dem Braten langsam genug gekaut hatte, als hätte sie Pappe im Mund. Über diesen Geschmack klagte sie immer.
„Zum Piepen ist es“, mischte sich Gerhard hinein, wobei er durch sein Kauen die Worte zerriss. „Dieser Knabe Günther fängt an, uns fürchterlich zu werden. Schneidet uns Abend für Abend. Schliesslich kommt man noch auf den Gedanken, dass er eine heimliche Braut hat. Willst du glauben, Mama?“
„O, Mammi, Günther hat schon eine Braut, hörst du?“ rief die Kleine aus und hüpfte vergnügt auf ihrem Stuhl. „Eine heimliche sogar, Edda, denk nur! Damit zieh ich ihn morgen auf. O ja.“
„Ganz still bist du und plapperst solchen Unsinn nicht nach“, sagte Frau Frobel streng und machte dem Ältesten Vorwürfe, auf solche törichte Dinge zu kommen. Und um sich diesmal selbst zu belügen, sagte sie dasselbe, was sie vorhin zu der Hausdame gesagt hatte.
„Na, an den Klub glaubst du doch selbst nicht“, meinte Gerhard mit dickem Kopf.
„Natürlich glaube ich daran“, sagte Frau Frobel noch bestimmter. „Beruhige dich darüber und gönne ihm die Freiheit. Du hast sie ja von früh bis spät.“
„Das ist nun wahr, Gerhard“, erhob Edda ihre dünne Stimme, um ihm wieder eins auszuwischen. „Vor zehn Uhr stehst du nie auf, und Günther ist der einzige von uns, der den ganzen Tag über arbeitet. Ausser Ma’chen natürlich.“
„Ja, das ist er, deshalb verdient er auch, dass man mehr Gutes von ihm spricht“, sagte Frau Frobel wieder und schloss damit dieses Gespräch.
„Mama, was sagst du denn bloss dazu, dass dieser Emmerich wieder auftritt,“ fistelte Gerhard dann unvermittelt. „Papa sprach vorhin davon. Du, Edda, sprach er nicht davon? . . . Mir war die Geschichte von eurem Protegé, weisst du, schon ganz entfallen. Den hat Grossmama ja wohl berühmt gemacht, nicht wahr?“ Und er unterbrach sich: „Wollen Sie mir mal das Roastbeef herüberreichen, Frau Doktor, ja? Das ist ausgezeichnet heute. Danke, danke . . . Ja, also Mama, wie war doch die Geschichte gleich? Du hast mal für den Sänger geschwärmt, sehr geschwärmt, nicht wahr? Als er noch auf der Höhe stand, nicht wahr? Und dann benahm er sich unfreundlich zu Grossmama, nicht wahr? Ich habe die Chose nicht ganz kapiert, denn — Edda, die Remoulade, sei so gut, — denn Papa war wieder recht zerstreut dabei. Um nicht zu sagen konfus.“
„O, Mammi hat für einen Sänger geschwärmt, denk nur, Edda!“ meldete sich Annemarie wieder und liess die Augen vergnügt nach oben gehen. „Das muss schön sein.“
„Weshalb soll Mama nicht mal für einen Sänger geschwärmt haben“, diente ihr Edda altklug. „Das ist doch gar nicht etwas so Besonderes. Das tun viele junge Mädchen. Manche verschiessen sich sogar in die Tenöre und schreiben ihnen Liebesbriefe.“
Annemarie wollte in die Luft gehen vor Erstaunen. „Mammi, hörst du? Was Edda alles weiss!“
Edda nickte grossartig. „Dass Claire Rüter das getan hat, das weiss ich bestimmt. Die hat es mir selbst erzählt. Sie hörte nämlich den Don Juan mit d’Andrade und war rein futsch in ihn.“
„Claire Rüter! Hör doch nur, Mammi. Sie hat schon Liebesbriefe geschrieben“, rief Annemarie abermals aus und drehte pfiffig das Vogelgesicht, während sie unter dem Tisch mit den Beinen strampelte.
„Dann hat sie es gewiss als dummes Gänschen getan und verdiente eine ordentliche Lektion von ihrer Mutter“, sagte Frau Frobel ruhig.
„Allerdings war sie noch ein dummer Backfisch,“ sagte Edda wieder, die ganz verkrümelt zwischen Mutter und Schwester sass. „So wie du zum Beispiel, Anne.“
„Na, das verbitt’ ich mir nun doch“, sagte die Jüngste durchaus entrüstet. „Weisst du! Ich kann schon mehr Staat machen als du.“
Gerhard brachte verschiedene Lachtöne hervor, ohne aber die Worte zu finden, weil er nach einer bedeutsamen Bemerkung suchte. Endlich aber kam doch seine Meinung zum Vorschein. „Was sagen Sie dazu, Frau Doktor? Sind das nicht ganz moderne Mädels?“
„Dazu gehört wohl noch ein bisschen mehr“, erwiderte Frau Rumpf mit ihrer kalten Gemessenheit.
„Das meine ich auch“, sagte Frau Frobel bestimmt. „Sie plappern, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Das ist die einzige Entschuldigung. Lassen wir das Thema ruhen.“
Zum Glück kam auch Gerhard darauf nicht mehr zurück, denn seine Gedanken, soweit er welche hatte, jagten wieder, leider aber kreuz und quer. Er hatte plötzlich entdeckt, dass seine Handmanschetten neuerdings nicht mehr die mittlere Steifheit zeigten, wie er sie sich in letzter Zeit gewünscht hatte. Und so liess er sich darüber mit Frau Doktor in eine längere Erörterung ein, die fast einer wichtigen Zeitfrage glich. Er beklagte sich wie ein Kind, das immer dieselben Worte gebraucht. Alsdann fiel ihm ein, dass er noch ins „Weihenstephan“ an der Potsdamer Brücke müsse, wo er an diesem Abend seinen Stamm hatte. Alle wussten das zwar bereits, aber es gab ihm doch wieder Gelegenheit, seiner Mutter auseinanderzusetzen, wer alles da sei: drei Korpsbrüder, zwei Leutnants auf Kriegsakademie, mehrere Zivilisten und besonders Herr von Eixling, „sein Freund“, der neuerdings seine eigenen Pferde laufen lasse. Dieser Herr von Eixling kehrte immer wieder, sobald er auf die Gesellschaft zu sprechen kam.
So waren sie bald fertig mit der Tafelei. Und als man sich dann erhoben hatte und Frau Frobel auf Minuten allein war, kam ihr die Bemerkung der Jüngsten zum Bewusstsein: Ja, es war immer langweilig, sobald Günther nicht am Tische sass. Heute hatte sie es mehr denn je empfunden.