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IV

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Zwei Tage später fuhr Frau Frobel ins Theater des Westens. An diesem Abend machte es sich gerade so, dass ausser den beiden Mädchen niemand von der Familie zu Hause war: und so konnte sie allen Fragen entgehen und das Coupé mit den Karossiers Punkt halb acht vorfahren lassen, ohne auf Gesellschaft rechnen zu brauchen. Am anderen Tage konnten sie ruhig erfahren, wo sie gewesen sei; nur heute wollte sie allein sein, — allein sein mit der herben Sehnsucht einer gealterten Frau, die mit geschlossenen Augen über eine morsche Brücke fährt, nicht wissend, was passieren wird. So wenigstens malte sie sich dieses Bild aus, als sie endlich, in ihren warmen Abendpelz gehüllt, in der Ecke des Wagens sass und die schwarzen Bäume des Ufers an ihr vorüberhuschten. Die Fahrt ging den langen Kanal entlang, dem Kurfürstendamm zu, wo dann der Wagen links abzubiegen hatte.

Was wollte sie eigentlich? Weshalb fuhr sie hin? Warum begab sie sich auf diese Brücke, die sie doch nur einem öden Ufer mit abgestorbenen Resten entgegenführen musste?! Frau Frobel, von einem Eingeweihten gefragt, hätte nicht gewusst, was sie darauf erwidern sollte; sie war eben nur einem Entschluss gefolgt, den man ausführt wie hundert andere, nur um sich selbst zufriedenzustellen. So sagte sie sich, und so wollte sie es sich einreden. Aber während sie sich auf weichen Gummirädern wiegte und ihr Auge immer wieder hinaus irrte in den dunklen Winterabend ohne Schnee, wo die Lichter im schwarzen Wasser aufblitzten und wieder verschwanden, hin und wieder eine weisse elektrische Kugel in die Finsternis hineingellte, spukhaft erleuchtete Fenster am anderen Ufer vorüberzogen, tiefe Schatten unter klaffenden Brücken die Unterwelt gähnen liessen, Wagenflämmchen kümmerlich dahinschossen, ohne dass man kaum die Pferde vor ihnen sah, und menschliche Schatten vorüberflatterten, — da musste sie an eine ähnliche Fahrt vor vielen Jahren denken, fast denselben Weg entlang, aber nicht im eigenen Wagen, sondern in einer Droschke zweiter Klasse, die ihr bei ihrem Sündengang gerade über den Weg gelaufen kam.

Damals war es im Mai beim warmen Sonnenstrahl eines Spätnachmittags. Die ganze Natur stolzierte im Frühlingsstaat; Bäume und Sträucher waren mit zartem Grün besteckt, die Bläue des Himmels wiegte sich im Wasser, die Nachtigall flötete ihr Lied hinaus, und die Leute lachten in die Welt hinein. Mutter Erde liess überall die frischen Triebe spriessen, und die Menschen fühlten sich mitgerissen davon, wie sie, Ernestine Frobel, sich hinreissen liess, dem Lockrufe desselben Mannes zu folgen.

Damals zwang sie ihr heisser Sinn, heute aber nur ihr Verstand. Es musste so sein, denn ihr Herz schlug ruhig, nicht wie in jener Stunde unter dem stürmischen Drang sehnlichster Erwartung. Oder war es nicht einmal der Verstand, der sie hinführte, um sich selbst auf ihre Festigkeit zu prüfen, sondern nur die Neugierde, zu sehen und zu hören, was eine ausgebaute Ruine noch für einen Eindruck machte? Oder vielleicht gar nur die Klugheit, mit der man einer Gefahr begegnen will?

Frau Frobel bewegte sich unruhig und warf sich zur Abwechselung in die andere Ecke des Wagens. Ja, so war es, ihr Gefühl sagte es ihr: es war nur die Klugheit, der sie folgte; vielleicht war auch die Neugierde dabei, dann aber doch nur in geringem Masse.

Sie sah noch den Lützowplatz im weissen Schimmer seiner vielen Laternen an sich vorüberhuschen, dann schloss sie die Augen, um sich einen Seelenschlummer vorzutäuschen. In ihren Gedanken aber, die unheimlich munter blieben, kehrte immer wieder die Frage zurück: Weshalb fährst du hin, warum hast du dich in deinem Gleichmut stören lassen? Und plötzlich fühlte sie ihr Herz so unruhig schlagen, dass sie nach Luft schnappte und den Pelz aufriss, weil ihr unheimlich warm wurde. Aber es war ein Zustand, den nur ihre Einbildung geschaffen hatte: die Angst hatte sie wieder aufgestört, die Furcht vor etwas Niederträchtigem, das ihr begegnen könnte. Deshalb folgte sie seinem Rufe, deshalb nur allein! Und sie kam sich wie eine Spionin vor, die den Gegner umschleichen will, um aus seiner Miene auf seine Angriffsfähigkeit zu schliessen.

Das war das Tragische in ihrem Leben: dass sich die Liebe des anderen in Feindschaft verwandelt hatte; nicht in jene offene, für die grosse Naturen ihr Leben einsetzen können, sondern in eine kleinliche und niedrige die im geheimen die Seele mordet und sie ohne Aufschrei verbluten lässt.

Und Frau Frobel hätte doch so gern einmal aufgeschrieen, um sich Luft zu machen im namenlosen Leid.

Ein Zug donnerte über die eiserne Stadtbahnbrücke, unter der der Wagen hindurchfuhr, und gleich darauf war sie im Theater. Der livrierte Türhüter sprang hinzu, öffnete den Schlag und half ihr höflich hinaus. Sonst sass noch der Diener mit auf dem Bock, um eilig herunterzuspringen und seine Pflicht zu tun, — heute hatte sie ihn zu Hause gelassen, um überflüssiges Aufsehen zu vermeiden. Rasch rief sie dem Kutscher, der mit der Hand am Hut salutierte, ein paar Worte zu; dann rauschte sie die Stufen hinauf und durch die Vorhalle, vorbei an den wenigen Menschen, die dort umherstanden. Denn es war noch früh, und man drängte sich nicht gerade zu diesem Theater, das als Kunststätte in diesem Jahre nicht auf der Höhe stand. Und obendrein befand man sich im Weihnachtsmonat, der die Menschen auf andere Gedanken brachte.

An der Garderobe angelangt, hatte sie es nicht mehr so eilig. Langsam legte sie ihren Pelzmantel ab, und ebenso gemächlich löste sie das Kopftuch. Dann streifte sie sich die wollenen Überhandschuhe von den zarten, weissen Glacés, steckte sie in den Mantel, nahm die silberne Panzertasche, die ihr den Pompadour ersetzte, und trat vor den nächsten Spiegel, um sich das Haar ein wenig glatt zu drücken. Eigentlich aber geschah es nur, um sich rasch einer Musterung zu unterwerfen. Sie war keine eitle Frau, war es auch nie gewesen; heute jedoch hatte sie die Empfindung, als müsste sie sich noch einmal besonders prüfen, bevor sie sich unter das Publikum mischte. Eine Art Selbstkritik lockte sie dazu, der sich Frauen so gern unterwerfen, die sich ihrem einstigen Geliebten nahe fühlen und befürchten, plötzlich von ihm unter die Lupe genommen zu werden. Obgleich das nun Frau Frobel nicht zu befürchten hatte, fragte sie sich doch, ob sie sich noch sehen lassen könne. Und sie war mit sich zufrieden. Zwar hatte sie nicht grosse Toilette gemacht, wie sie es sonst zu tun pflegte, sondern nur ein elegantes Tuchkleid angelegt, aber sie war vom Kopf bis zu den Füssen die Dame der Gesellschaft, deren guten Geschmack man schon aus der diskreten Farbenzusammenstellung erraten konnte.

Ja, sie „machte“ sich noch; selbst in der Taille noch die so schön herausgearbeitet war. Mit Vergnügen strich sie darüber hinweg. Die gut erhaltene Frau von achtundvierzig Jahren stand vor ihr, deren frisches und molliges Gesicht unter dem noch dunklen Haarbau das Alter Lügen strafte. Wie klar noch ihr Auge war, wie fast rosig noch ihre Lippen sich wölbten, wie wenig erst die Krähenfüsse sich bemerkbar machten! Andere hätten sie mehr gesehen, Frau Frobel sah in diesem Augenblicke nur so, wie es die Einbildung ihr vorschrieb. Wie weiss ihr Hals noch war, wie fest sich ihre Schultern rundeten: und wie gerade und stolz ihre Haltung war! Sie lächelte sich an und sah die noch wohl erhaltenen, echten Zähne blitzen, auf deren Pflege sie immer so viel gegeben hatte. Ja, ihre kräftige, gesunde Natur hatte sich von all dem inneren Leid nicht unterkriegen lassen, sondern hatte sich eher daran gestärkt, wie die Flamme aufleuchtet, wenn sie sich selbst verzehrt.

Würde sie so noch Eindruck auf ihn machen, wenn er sie sähe? Sie wusste, dass es dumm von ihr war, diese Frage aufzuwerfen, aber es machte ihr Vergnügen, sich ein paar Augenblicke in diesen Gedanken zu wiegen.

Ein ödes Gesicht tauchte hinter ihr auf, das seinen Seehundsbart mit zwei Bürsten zu bearbeiten begann: und so war der schöne Spuk vorüber.

Frau Frobel ging und sah sich die Lage der Parkettloge an, in der sie einen Vordersitz hatte. Der biedere Herold, darauf bedacht, dass seiner Frau Chef jedenfalls damit gedient sein werde, möglichst unauffällig und doch standesgemäss der Vorstellung beizuwohnen, hatte sich einfach das Adressbuch mit dem Theaterplan vorgenommen und ihr zu diesen Plätzen geraten, was sie dankbar anerkannt hatte. Sie liess die noch leere Loge öffnen, warf einen Blick hinein und ging dann in das Foyer hinauf, denn es fehlten noch zehn Minuten an acht. Stolz liess sie die kurze Schleppe hinter sich herrauschen. Oben, in dem glänzenden Saal, wollte sie ein wenig Umschau halten, ob sie nicht irgendwie ein bekanntes Gesicht sähe, aber vergeblich spähte sie unter den wenigen Menschen.

Sie trat ans Büfett und trank ein Glas Bier, denn sie hatte Durst. Dann ging sie auf der anderen Seite hinunter und liess sich die Loge aufschliessen. Noch befand sie sich allein, und wenn sie richtig voraussah, so würden die übrigen Plätze wohl auch leer bleiben, denn das Parkett wies grosse Lücken auf, trotzdem das erste Klingelzeichen bereits gegeben war.

Frau Frobel, noch im Hintergrunde sitzend, überflog rasch den Theaterzettel, auf dem sie nur unbekannte Namen fand. Dann nahm sie an der Brüstung Platz, der Dinge harrend, die da kommen würden. Nichts von einer besonderen Teilnahme war zu merken, die man sonst einem beliebten Gast entgegenzubringen pflegt. Kein festlich gestimmtes Haus wogte, keine erregte Unterhaltung ging durch die Reihen. Gemächlich kam man herein, ebenso interesselos setzte man sich und starrte den Vorhang an. Die meisten hatten wohl keine Ahnung davon, was für Erinnerungen sich mit dem Namen Emmerich verknüpften, der unten mit den drei üblichen Sternen als Gast verzeichnet war. An diesem Theater kamen und gingen die neuen Namen, sodass das Interesse daran bereits erloschen war. Nur hin und wieder sah man einen Herrn mit einem markanten Kopf stehen, dem man das Unbehagliche seines Kritikeramts schon an der langweiligen Miene ansah. Eine träge Schwüle lag über den Köpfen, etwas von einer Kunst-Gleichgültigkeit nach der erschlaffenden Arbeit des Tages, die nun auf einen gewaltigen Anstoss wartete, um sich zum Geniessen emporzuraffen.

Frau Frobel warf sich in ihren Sessel zurück und tat einen grossen Atemzug, der nur der Ausdruck ihres Unbehagens war, wohl auch ihrer stillen Angst um den Mann, der nach langer Vergessenheit den Mut gefunden hatte, sich nochmals auf die trügerischen Bretter zu wagen, die, ach, doch eigentlich nur das Brot des Künstlers bedeuteten.

Und sie sah den Abend im Opernhaus vor mehr als zwei Jahrzehnten vor sich, wo es funkelte, glänzte und gleisste von schönen, mit Brillanten besäten Frauen in ausgeschnittenen Kleidern, von Uniformen mit Gold und Orden, von Samt und Seide in Parfüm geschwängerter Luft, durchleuchtet von einem Meer des Lichts, als tout Berlin gekommen war, sich an einem neu entdeckten Tenor zu berauschen.

Damals ein blendend aufgegangener Stern, heute das letzte Verpuffen seiner Schnuppen. Sie ahnte es.

Die Ouvertüre war vorüber. Der Vorhang ging in die Höhe, und Frau Frobel liess ihr scharfes Glas nicht mehr von den Augen. Andere mochten sich an dem bunten Festbild erfreuen, aus dessen Menuettranken allmählich Rigoletto als Hauptperson herauswächst, — sie sah und hörte nur immer den einen, der vorerst durch sein prächtiges, weisses Atlasgewand mehr auffiel als durch seinen Gesang. Unzweifelhaft verfügte er noch über eine Erscheinung, die sich mit Anstand auf der Bühne zu bewegen verstand, obgleich er jetzt, da er dicker und fetter geworden war, fast zu gross für seine Umgebung erschien. Auch sein Gesicht passte nicht mehr zu dem jungen Herzog, aber das durfte man bei einem Sänger übersehen. Denn in einer Oper schlägt das Ohr das Auge tot. Und obgleich auch die Beine steifer werden, wenn das Alter kommt: die Szene ist eine Elektrisiermaschine, durch die selbst die ältesten Knochen wieder munter werden. Und hier handelte es sich um einen Mann, noch in den besten Jahren. Frau Frobel rechnete es sofort aus. Er war vier Jahre älter als sie, also war er zweiundfünfzig. Alle Achtung also vor seinem jugendlichen Feuer. Wenn nur dieses Feuer auch aus seiner Kehle käme; aber da drin musste es böse aussehen, denn es prasselte nicht in hellen Funken, sondern rang sich mühsam hervor, wie durch ein verstopftes Loch.

Die Verwandlung kam und mit ihr das Liebesduett, in dem er endlich aus sich herausgehen musste.

Jemine, wie sang er, wo war der Schmelz der einst herrlichen Stimme geblieben! Sie sah ihm an, wie er sich quälte, wie er die Kehlkopftöne herausholte, um zu täuschen. Fortwährend schöpfte er Atem zu neuer Kraft. Dabei klang die Stimme schwach, als käme sie von einem Zwerge und nicht von diesem starken Mann, der sich früher seiner gewaltigen Lunge rühmen durfte.

Wie hatte er es einst hiuausgejubelt, dieses: „Liebe ist Seligkeit, ist Licht und Leben . . .“ Und wie hatte er Ohr und Herz damit entzückt. Ja, auch das Herz! Frau Frobel liess das Glas sinken, blickte vor sich hin und lauschte nun wie traumverloren. Wenn sie auch den Sänger nicht sehen wollte, so wollte sie wenigstens den Text hören, von dem sie jedes Wort auswendig wusste . . . „Liebe gewährt uns himmlische Freuden, um die selbst die Engel uns beneiden“, hörte sie ihn deutlich singen. Unwillkürlich schloss sie die Augen und erleichterte sich durch einen stillen Seufzer.

Damit hatte er sie damals gefangen, als ihre Liebe erst Schwärmerei gewesen war; und er hatte ihr es wieder vorgesungen, als sie schon Frau war und in unbezähmbarer Sehnsucht ihm in die Arme lief. In ihrem Gedächtnis aber wurde nur immer die andere Stimme wach, die weiche und einschmeichelnde, die zauberischschöne, mit der er alles aus ihr herausgeholt hatte, was herauszuholen war; nicht diese Afterstimme da oben, die ihr Lungenblech für echtes Silber ausgab. Und doch erfasste Weh ihre Seele, denn in dieser Ruine schlummerten die Erinnerungen an ihre Mädchenträume, an die schönsten Jahre ihres Lebens. Sie hätte weinen mögen, nur wusste sie nicht recht: sollte es über sich oder über den Mann da vorn geschehen, der seinem Wrack noch so volle Segel geben konnte, ohne es von der Stelle zu bewegen.

Der Vorhang fiel. Man klatschte zwar, aber es war mehr der Beifall des Anstandes als der Wärme. Man sah es: Die Handlung ergriff, und Rigolettos Schicksal riss die Seelen mit. Irgendwo knallten ein paar hohle Hände so auffallend lange, bis der Gast vor der Gardine erschien und, die Hand auf der Brust, sich mit Anstand nach rechts und links verneigte. Der Beifall wurde nun stärker; er war gleichsam die Quittung für das todesmutige Opfer. Ein mächtiger Lorbeerkranz mit blutroter Schleife wurde aus der anderen Loge auf die Bühne geschoben und so lange hingehalten, bis der „Herzog von Mantua“ ihn mit süsslichem Lächeln ergriff, zur Mitte zurückkehrte und sich aufs neue in Verbeugungen erging, die all die stummen Beteuerungen enthielten, die er wohl am liebsten zur Feier dieser „Wiedergeburt“ ausgesprochen hätte. Nichts Fürstliches haftete ihm mehr an, — es war nur noch der Theatermann, der bekränzte Tenor, der mit einer gewissen Gönnermiene das Ruhmesgemüse entgegennahm.

In diesem Augenblick, als er noch immer seine Handbewegung machte, trotzdem das Publikum sich bereits erhob, um zu Bier und Schinkenstullen zu schreiten, kam er ihr einfach dumm vor, und sie begriff nicht, wie sie sich jemals in diesen Menschen hatte verlieben können. Dann, als ein starkes Zischen den Beifall durchschnitt, redete sie sich ein, Mitleid mit ihm empfinden zu müssen. Und der einsame Kranz, sicher von ihm selbst bestellt, hatte etwas Symbolisches für sie: er erschien ihr gleichsam als die einzige Liebesgabe, auf das Grab seiner letzten Hoffnung gelegt.

Auch Frau Frobel trat in den Wandelgang hinaus, um sich ein wenig Bewegung zu machen und bei dieser Gelegenheit dem Logenschliesser den Auftrag zu geben, ihr rechtzeitig die Garderobe zu besorgen.

Vor ihr gingen zwei Herren, von denen der eine entrüstet sagte: „Dass man so ein Unvermögen noch aus der Versenkung zieht, — mir schleierhaft. Man belästigt ja geradezu das Publikum damit. Es geht mir durch und durch, wenn ich so ein vergebliches Ringen sehe.“ Fortwährend zuckte er mit den Schultern, während sein ergrauter Strubbelkopf hin und her ging.

„Konnte er denn überhaupt mal etwas“, fragte der andere, ein noch junger Mann mit glattem Scheitel.

Der Alte blieb stehen und hob die Nase. „Aber ich bitte Sie — Emmerich, Emmerich! Der Name war ein Programm. Ganz Berlin lag ihm zu Füssen. Bis er sich die Stimme versaute.“

Frau Frobel hatte genug und kehrte um, denn nichts Neues bekam sie zu hören. Wohl aber merkte sie, dass dieser alte Herr mit der blitzenden Brille einer von denen sein werde, die ihrem verflossenen Freund das Wiederauftreten für ewig verleiden würden.

Als sie dann wieder ihren Platz eingenommen hatte, schreckte sie zurück. In einer Loge des ersten Ranges, auf der linken Seite, sah sie ihren Mann sitzen, der nach der anderen Seite hinüberwinkte. Und als sie dieser Richtung folgte, erblickte sie den Ältesten, der noch stand und den Gruss gigerlartig mit einer Handschwenkung erwiderte. Beide mussten soeben erst gekommen sein, denn noch vorhin hatte Frau Frobel die Logen mit ihrem Glase abgestreift, ohne ein bekanntes Gesicht zu sehen. Ihr Zusammentreffen hier hatte einen ganz natürlichen Grund. Als Herr Frobel von seiner Frau gehört hatte, dass sie das Theater nicht besuchen werde, hatte es ihn im stillen gereizt, seine Neugierde zu befriedigen. Ganz ebenso hatte es sich Gerhard ausgedacht, und so war jeder auf eigene Kappe erschienen, um nun doch die „angenehme“ Enttäuschung zu erleben. Es fiel aber Gerhard gar nicht ein, die Gesellschaft seines Vaters zu teilen, trotzdem der Platz neben dem Alten leer war; und auch dieser schien keine Neigung zu haben, neben seinem Ebenbild zu sitzen. Und so blieb jeder in seiner Loge, als gehörte es sich so und nicht anders. Das kam daher, weil jeder zu sehr die blöden Redensarten des anderen fürchtete, wonach dann weiter nichts als Langeweile zu erwarten war. Es war gewissermassen die stille Abneigung zweier Verwachsenen, die den eigenen Buckel nur fühlen, wenn sie einen anderen vor sich sehen. Der Vater konnte sich nicht erklären, weshalb gerade der Älteste sich so trottelhaft zeigte, und dieser wiederum fand es unerhört, dass man ihm nachsagte, er arte nach seinem mit einem geistigen Defekt behafteten Vater. Die natürliche Folge davon war, dass sich jeder für klüger als der andere hielt und über dessen Torheiten mitleidig lächelte. Überdies ging jeder gern allein seinen Abenteuern nach, und das gab den Rest.

Als Ernestine, die sich rasch in die zweite Reihe der wirklich leer gebliebenen Loge gepflanzt hatte, nun zu ihrer Lorgnette griff und sie so beide, die natürlich ganz in full dress waren, sitzen sah wie zwei Fremde, deren gegenseitige Anteilnahme nach der Begrüssung erschöpft ist, hätte sie am liebsten lachen mögen, wenn die Geschichte nicht gar zu traurig gewesen wäre. Und sie dachte an dasselbe Spiel zu Hause, wo sie immer freundlich taten, ihre Verbindlichkeitsphrasen erschöpften, sobald man in der Familie oder gar mit Gästen zusammen war, sich dann aber bei der ersten Gelegenheit den Rücken zukehrten, um die Schablone zu verdecken.

Der letzte Akt kam und mit ihm die berühmte Kanzone, die durch ihr Tempo die Zuhörer immer mitzureissen pflegt. Und welcher Mann hätte nicht schon voll Überzeugung ihren Text hinterhergesummt:

„O wie so trügerisch sind Weiberherzen,

Mögen sie klagen, mögen sie scherzen,

Oft spielt ein Lächeln um ihre Züge,

Oft fliessen Tränen. Alles ist Lüge!“

Als Emmerich das mit der Routine des alten Sängers mit forcierter Stimme hinaussang, beinahe noch erträglich, sah Frau Frobel durch ihr Glas, wie er es mit einem gewissen Groll der rechten Loge zuschleuderte, wo die beiden leer gebliebenen Sitze endlich von Personen aus dem Hintergrunde besetzt worden waren. Er musste schon längst entdeckt haben, dass sie dort nicht anwesend war, und so wollte er wenigstens noch auf diese Weise seinen Gefühlen Luft machen.

Auch dieser Schmerz ging vorüber. Und als der Vorhang zum letztenmal fiel, hatte man den Herzog, also auch den Gast, schon vergessen, und nur der grausige Schmerz Rigolettos um seine Tochter wirkte noch nach. Er kam zwar wieder als Erster zum Vorschein; jedoch klatschte man nur, als Rigoletto neben ihm erschien. Und diesmal wurde ein Riesenständer mit Blumen dem Gast emporgereicht, nach dem er hastig langte, wohl in der Meinung, der nun wieder zur Fassung gelangte „Vater“ könnte sich daran vergreifen. Noch einmal regten sich wohlmeinende Hände, dann hatte die Herrlichkeit des Abends ein Ende.

„Der Schmaus ist aus,

Man geht nach Haus,“

hörte Frau Frobel einen Witzbold vor sich im Parkett sagen und ein Lachen von seinem Begleiter dafür einstecken. Dann erhob auch sie sich, ohne jedoch denselben Humor zu empfinden. Der Logenschliesser stand bereit, ihr den Mantel umzuhängen; und diesmal beeilte sie sich, fertig zu werden. Denn inzwischen hatte sie sich die Sache überlegt: sie wollte ihren Mann und den Ältesten am Ausgang empfangen, um mit ihnen gemeinsam irgendwo zur Nacht zu speisen, oder doch wenigstens mit ihrem Manne, falls Gerhard es vorziehen sollte, allein weiterzubummeln. Heute hatte sie Lust, ein Glas Sekt zu trinken, schon um die Meinung der anderen über das „Ereignis“ zu hören.

Sie fürchtete das Alleinsein und sah sich schon in einer unruhigen Nacht von Gespenstern der Vergangenheit verfolgt. Um so besser wäre es, wenn sie durch Betäubungsmittel für einen guten Schlaf sorgte. Überdies empfand sie eine gewisse moralische Verpflichtung, sich gerade heute ihrem Gatten einmal mehr als sonst zu widmen, um dadurch im geheimen etwas gutzumachen, wie oftmals schon, wenn ihr Fehltritt seinen schwarzen Schatten in ihr Gewissen warf. Dann war es öfters ein liebes Wort, ein Streicheln seines Gesichts oder irgendeine Verzeihung seiner kleinen Seitensprünge, wodurch sie ihn zu einem glücklichen Sterblichen machte. Die gealterte Löwin spielte mit dem alten Kater und erweckte in ihm die Einbildung, dass er eigentlich der Stärkere sei, weil er die meisten Mätzchen mache. Und der Herr Chefgemahl machte seine Mätzchen ordentlich und fühlte sich so beglückt in seinem Viveurtum, dass er aus dem Meckern nicht herauskam und sich vorübergehend wirklich als Herr fühlte. Und am anderen Tage wurde er doch wieder kaltgestellt. Denn Frau Ernestine hatte ihre Schwäche überwunden, sah wieder die Sonne über sich scheinen, sah wieder ihren blühenden Günther lachen und fühlte wieder stark die Zügel in ihren Händen.

Sie stand ein Weilchen im Vorraum, als sie auch schon ankamen: erst der Alte, beinahe im Sturm, und dann der Sohn, gemächlich und abgezirkelt wie immer, weil er Eile für nicht vornehm hielt. Dafür ging er aber geduckt wie ein alter Mann, weil das für hohe Reife sprach. Natürlich kamen sie aus zwei verschiedenen Türen: der eine durch die linke und der andere durch die rechte. Denn das gehörte sich so: dass sie jetzt erst recht auseinanderblieben, um sich in ihren Absichten nicht zu stören.

„Ich sah dich schon, liebes Tünchen, ich sah dich schon“, schmetterte der Alte los und zog wie immer ihre Hand an seine Lippen. Seine Freude war unverkennbar, und am liebsten hätte er sich wie ein Triesel gedreht. „Das kann ja noch fidel werden, ganz fidel. Hast du den Wagen bestellt?“

Nein, sie hatte ihn nicht bestellt, aus Gründen, die ihr im Augenblick nicht ganz klar gewesen waren. Vielleicht hatte ihr irgend etwas Unberechenbares im Kopfe gelegen, weshalb sie sich später mit einer Droschke zufrieden geben wollte.

„Ich glaubte sicher, einen von euch hier zu finden“, redete sie sich aus. „So schlau wie ihr seid, bin ich auch.“ Und sie fügte hinzu, dass sie erst in letzter Stunde ihre Absicht geändert habe.

„Du, das ist eigentlich ein feiner Witz, uns so gegenseitig zu überrumpeln“, sagte Dietrich wieder.

Gerhard war inzwischen herangekommen, dummes Erstaunen im Gesicht, das dann aber seinem aufgescheuchten Lachen wich. Und er freute sich gleich dem Alten. Wenn die geliebte Mama dabei war, dann allerdings . . . Dann brauchte man sich nicht zu mopsen, recte abgestandene Lebensweisheiten zu hören, die an Idioterie grenzten. Die gute, frische Mama — was sie für kleine nette Überraschungen bereitet hatte und wie gut aufgelegt sie heute war! Von deren Unterhaltung konnte man immer profitieren.

Also los!

Mut zur Sünde

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