Читать книгу Die Betrogenen - Max Kretzer - Страница 6

Erstes Kapitel.

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In der Fabrik.

„Nun, Oswald —.“

„Mein lieber Junge —?“

„Du starrst ja seit zehn Minuten bereits mit einer Aufmerksamkeit nach der Fabrikuhr hinüber, als sollte Dir das verwitterte Zifferblatt zum neuesten Objekt Deiner ohne allen Zweifel erhabenen Studien dienen — o, und was muss ich sehen, Du rauchst nicht? Verzeihe, wenn ich vergass, aber dieses verzwickte Ornament, diese zopfige Idee ... Du wirst begreiflich finden —.“

Alexander Plagemann, erster Mustermaler der Teppichfabrik von Rother und Sohn, einer der respektabelsten Firmen ihrer Branche, erhob sich bei diesen Worten hinter seinem, gleich einem riesigen Zeichenbrett schräg aufsteigenden Arbeitstisch, stiess das Malbrett von sich, spülte schleunigst den Pinsel aus und schritt eilfertig zu einem kleinen Wandschrank nach der hintersten Ecke des mässig grossen Ateliers. Man hörte das Drehen eines Schlüssels, das Quietschen einer Thür, dann legte Alexander in seinen grünen Plüschschuhen lautlos denselben Weg zurück, die Hand beschwert mit einem Kistchen.

Der Genremaler Oswald Freigang stand noch immer am breiten Fenster in seiner alten Stellung, neben dem Arbeitsplatz seines Freundes. Er hatte den rechten Ellbogen auf die Umrahmung einer Scheibe gestützt und blickte über die vorgestellten Pappstücke, die den unteren Theil des Fensters zur Dämpfung des Lichts verdeckten, hinüber nach dem im Bau begriffenen villenartigen Wohnhaus von Rother und Sohn, das sich, noch nicht vollendet und doch schon prunkend, an der Strasse breit machte, und nach den langgestreckten Fabrikgebäuden jenseits des kiesbedeckten Platzes. Während des Zeitraumes von zehn Minuten hatte sein Auge das Bild vor sich vollständig erfasst: die zellenartig aneinandergeketteten einstöckigen Hallen, bedeckt mit treibhausartigen Dächern aus zolldickem, getrübtem Glase, das jeden Einblick in das hundertfältige Weben und Leben unter ihm unmöglich machte; das vierstöckige Gebäude dahinter; den daranstossenden Garten mit spärlichem Baumwuchs; die dahinter liegende halb schmutzig-braun, halb saftig-grün erscheinende Wiesenfläche, scharf begrenzt von der Silberfarbe der Spree, die sich dort in ihrer ganzen Breite ausdehnte. Ein Dampfer, der sich mit seiner buntbesetzten Menge, zusammengesetzt aus Uniformen, schwarzen Röcken, luftigen Mousselinkleidern, blendendweissen Hüten und farbigen Sonnenschirmen, wie ein schimmerndes Riesenbouquet auf leicht bewegten Wellen ausnahm, zog tiefe, dunkle Furchen, und sein Keuchen und Aechzen drang schwerfällig in gleichmässigem Takte herüber. Auf der andern Seite des Wassers fand das Bild einen theilweise scharfen Abschluss durch tiefdunkelgrüne Baumgruppen, hinter denen eine lange Allee von gleichmässig emporstrebenden Pyramidenpappeln sich langweilig dahinzog. Am Ufer lagen mit herniedergelegten Masten die plumpen Kähne der Flussschiffer, gleichsam spottend der Hand ihres Lenkers, der ohne Wind hier nicht von der Stelle kam. Dazwischen, wie eine Fortsetzung des Ufers bis weit in den Strom hinein, machten sich die zusammengeschlagenen Baumstämme der Flösser breit, wie ein natürliches geradliniges Netz, auf dem ein einsamer Angler mit seiner bildsäulenartigen Ruhe den Eindruck eines Markpfahls machte. Und über dem Ganzen lag brütend die hohe Vormittagssonne eines heissen Junitages und versetzte den Luftraum allmählich in den Zustand eines glühenden Dunstkreises, der mit versengender Schwere auf Natur und Menschen lastete und dieses harmlose Bild mit seinen schweigsamen, verschlossenen Häusern, mit den unbeweglichen Bäumen und Sträuchern, dem halbverdorrten Rasenteppich und dem langweilig erscheinenden Gewässer zu einem Stück vereinsamten Landlebens machte. Nur dort links hindurch, wo das Auge die Glasdächer der beiden am nächsten liegenden steinernen Kästen gleichsam wie durch eine oben offen stehende Schiessscharte entlang streifen konnte, da, wo sich unterhalb zweier zusammenstossenden Baumkronen ein Stück des wolkenlosen Himmels in ungetrübter Bläue scharf abzeichnete, zeigte sich in weiter Ferne ein Theil Berlins mit seinen Schloten und Thürmen. Da dampfte und qualmte es, als stiesse die Riesenstadt ihren Athem aus, erdrückt vom Lärm und der Arbeit des Tages. Brücke spannte sich an Brücke, Haus presste sich an Haus. Thurm ragte neben Thurm und sog mit seinen glänzenden Spitzen und Kuppeln begierig das weisse Licht der Sonne auf, so dass feurige Sterne am hellen Tage schimmerten. Wer dieses Stück des norddeutschen Babel sah und die noch fehlenden kannte, der vernahm im Geiste das Tosen und Rollen der Räder, das Zittern der Häuser, das Surren und Summen der rastlos bewegten Menge mit ihrem Stossen und Drängen: jenes halb grollende, dumpfe Brausen, das wie ein halbunterdrückter, tausendfältiger Schrei nach täglichem Brode klingt.

Oswald Freigang war in seiner stummen Betrachtung nahe daran, sich über den letzteren Punkt philosophischen Betrachtungen hinzugeben, als seines Freundes Unterbrechung der Atelierstille ihn daran erinnerte, dass es allerdings wieder nothwendig sei, einen Blick auf die grosse Fabrikuhr zu werfen. Sie zeigte auf zehn Minuten vor Zwölf. Noch ganze zehn Minuten! Dann begannen sich jene Steinzellen da drüben zu entleeren, und er konnte das Feld seiner realistischen Studien durch den Anblick eines Schwarmes Arbeiterinnen zur Genüge erweitern. Vielleicht fand er unter ihnen irgend ein prächtiges Modell, dessen goldblondes Haar, dessen ebenmässiger Wuchs und plastischer Körper unter geistiger Verwilderung, unter verschossenen Tüchern, geflickten Kleidern und verblichenen Taillen nicht gelitten hatten. Vielleicht auch sah er jenes blonde Kinderantlitz, jenes räthselhafte Weib, das es bemutterte, von denen er gestern Abend in der alten Taverne unten am Wasser so seltsame Dinge gehört hatte, vielleicht —.

Ja, Alexander Plagemann hatte Recht; sein Freund hatte vorhin mit einer Ausdauer nach der Uhr gestarrt, als hätte er nie vorher eine derartige kreisrunde Platte mit schwarzen Ziffern und Zeigern gesehen, und doch wollte er nur die Minuten an ihr zählen!

Oswald Freigang hatte eine Faible für Alles, was die schmutzige Blouse und Jacke der Arbeit trug. Seitdem Menzel die Welt mit seinem „Eisenwalzwerk“ überrascht hatte, war in dem ziemlich unbekannten Dasein Oswalds, das er bis dahin geführt hatte, eine Radikalwandlung vorgegangen. Er vollendete die ungesunde, schablonenhafte Salonscene, die er gerade auf der Staffelei hatte, erst gar nicht, sondern fing an, bei seinen wohlerzogenen Freunden und Gönnern im Geheimrathsviertel dadurch in Verruf zu kommen, dass er das lebhafteste Bestreben zeigte, sich mit Vorliebe in jenen Kneipen und an jenen Orten zu bewegen, wo nach Ansicht seiner bisherigen Verehrer die Luft durch Schnapsdunst und üblen Tabaksgeruch den Aufenthalt eines gebildeten Menschen unmöglich mache. Man sagte, dass er sich in allen Fabriken umhertreibe, dass er in allen Werkstätten derselben zu Hause sei, dass jeder Vorstadtwinkel sammt lebendem Inventar seinem Skizzenbuch einverleibt sei, und dass kein verwittertes Gesicht eines Mannes des vierten Standes, der Anspruch auf Originalität machen durfte, vor ihm sicher sei, des Abends beim Heimkehren von der Arbeit durch Geld und gute Worte auf offener Strasse überrumpelt zu werden, um wie ein Schlachtopfer als Modell nach dem Atelier zu folgen.

Man wird es daher begreiflich finden, dass auch heute Oswald Freigang gesonnen war, bei seinem ersten Besuch Plagemanns an dessen Arbeitsstätte, die Gelegenheit zu benutzen, um seine Studien nach jeder Richtung hin zu erweitern.

Er hatte den guten Jungen seit zwei Jahren nicht gesehen, glaubte ihn noch immer als Schüler irgend eines Meisters in Düsseldorf und musste durch Zufall vor ein paar Tagen doch die alte Erfahrung machen, dass man recht gut während beinahe jenes Zeitraums in ein und demselben Stadtviertel einer Grossstadt leben und wirken kann, ohne von dieser unmittelbaren Nähe eine Ahnung zu haben.

„Nun, lieber Freund, darf ich bitten —? Du wirst schon bessere geraucht haben, aber so ganz schlecht ist die Sorte nicht. Du weisst, gutes Kraut war von jeher meine Leidenschaft, selbst in den schlechtesten Zeiten unseres Düsseldorfer Martyriums, wo die trockenste Ebbe unserer Kasse mich nicht vor dieser Verschwendung bewahren konnte. Aber wer kann für Leichtsinn beim Künstler!“

Alexander Plagemann musste sein Anerbieten wiederholen, ehe er die Genugthuung hatte, seinen im Anstarren der Aussenwelt versunkenen Freund bedient zu sehen. Erst als er diesem selbst ein brennendes Zündhölzchen hingehalten und das Flackern desselben, das Glühen und Dampfen der Cigarre ein paar Augenblicke beobachtet hatte, schien er befriedigt und zur weiteren Unterhaltung aufgelegt.

Die Erinnerung an Düsseldorf brachte eine Reihe wechselnder Fragen und Antworten hervor, wie sie zwischen einstmals intim gewesenen Freunden, die sich lange Zeit nicht gesehen haben und zum ersten Male Gelegenheit finden, sich aussprechen zu können, leicht erklärlich sind.

Plagemann sollte erzählen, wie es ihm während der Zeit ergangen sei, wodurch er sich habe verleiten lassen, den verführerischen Pfad der Kunst mit dem ganz gewöhnlichen einer halb philisterhaften, an mechanische Arbeitseinteilung gewöhnten Brodstellung zu vertauschen.

Brodstellung—in diesem einen Wort lag die ganze Antwort.

Es war die alte Geschichte eines ehemals für die höchsten Ziele seiner Kunst begeistert gewesenen Jünglings, der mit vollen Segeln der Hoffnung in das Meer seiner Ideale hinausgesteuert war, bis sein Lebensschiff eines Tages an der gemeinen Klippe, die man Kampf ums Dasein nennt, hängen blieb und sich schliesslich von der erlittenen Havarie nicht mehr befreien konnte.

„... So lange Du noch in Düsseldorf warst, ging es. Einer war da immer der Trost des Andern, damit ihm der Glaube an die Fleischtöpfe Aegyptens nicht geraubt wurde. Nach Deinem Fortgehen wurde das anders. Es überkam mich öfters eine Muthlosigkeit, die meinem Streben einen argen Damm setzte. Getheiltes Leid, getheilte Widerwärtigkeiten tragen sich leichter zu Zweien, aber so allein ... Ich hatte Pläne, Ideen zu Bildern, aber male doch etwas, wenn Du nicht einmal die Modelle bezahlen kannst. Da starb die Mutter, die kleine Pension verschwand. Das gab den Rest. Du weisst, ich habe eine Schwester ... Es hiess jetzt verdienen. Ich musste versuchen, meine Kunst handwerksmässig zu verwerthen. Wir gingen nach Berlin. Es ist uns schlecht genug in der ersten Zeit gegangen, ich sage Dir — wer nie sein Brod mit Thränen ass ... Elly machte Stickarbeiten für ein Geschäft, ich schmierte abwechselnd Dekorationen und zeichnete auf Stein. Aber es klapperte doch nur, es war kein richtiges Einkommen. Da wurde hier ein Maler verlangt, der tüchtig im Ornament sei. Du weisst, ich hatte darin etwas los. Es hat mich Mühe genug gekostet, mich in die Arbeit hinein zu finden, aber schliesslich ging es doch ... Mit dreissig Thalern monatlich habe ich angefangen, jetzt habe ich siebenzig. Du lieber Himmel, es ist nicht viel, aber gerade genug, um mit Elly sorgenlos leben zu können.... Ich gestehe, ich bin für die Kunst verloren und zum gewöhnlichen Kunsthandwerker geworden, aber was schadet’s auch! Schliesslich erfüllt jeder seine Mission im Leben, der seinen Platz als tüchtiger Arbeiter einnimmt ... Nicht Jeder hat ein gottbegnadetes Talent wie Du, mit dem er alle Schranken über den Haufen wirft. Lass nur (Freigang machte eine abwehrende Bewegung), ich sage nicht zu viel! Ich wusste schon längst von Deinem aufgehenden Ruhm, man sieht ihn ja in allen Schaufenstern der Kunsthandlungen hängen, aber ich wollte Dich absichtlich nicht aufsuchen, weil meine Laufbahn jetzt eine andere ist, als die Deine ...“

„Oh, deshalb ...“

„Und Dir, lieber Junge, wie ist es Dir gegangen? Dein Alter ist natürlich so vernünftig gewesen, seinen Starrsinn zu brechen und sich wieder mit Dir zu versöhnen. Aus Liebe zur Kunst,“ fügte Alex sarkastisch hinzu.

Ueber Freigangs Lippen presste sich ein kurzes Lachen, dessen Bedeutung Plagemann am besten zu würdigen verstand.

„Was Du Dir denkst! Da kennst Du meinen Vater schlecht. Er hat es mir bis heute nicht verziehen, dass sein einziger Stammhalter, als Sohn eines begüterten rheinischen Maschinenfabrikanten, vor die Alternative gestellt, entweder sich zum dereinstigen Nachfolger des Herrn Papa vorzubereiten und die Kasse desselben stets zur Verfügung zu haben, oder seinem Kunstdrange zu folgen und als verlorener Sohn zu gelten, das letztere vorziehen und aus Liebe zu seiner Neigung allem Ueberfluss entsagen konnte. Uebrigens ein Starrsinn des Alten, den man ihm verzeiht, wenn man seine rauhe Seite kennt. Er ist Praktiker durch und durch und hat es nie begreifen können, wie Leute, die es nicht nöthig haben, die Kunst zu ihrem Berufe wählen können. Es ist das eine Folge seines self-made manthums, das er nie ganz verleugnen kann. Aber es ist auch so gegangen, ich habe es ihm bewiesen! Und wenn er mich enterbt — was kümmert’s mich? Ich habe Glück genug gehabt, ich kann von Pinsel und Palette leben. Jetzt wird er sich rächen und meine Schwester an einen Mann verheirathen, der in seine Fusstapfen tritt und das Soll und Haben seines Hauptbuches besser wahrzunehmen im Stande ist, als ich. Die gute Schwester! Sie hat mich auch fernerhin noch redlich mit ihrem Nadelgeld unterstützt — Du weisst, wir nannten es „Pinselgeld“ in Düsseldorf. Was soll ich Dir weiter erzählen! Ich war ein Jahr in Paris, habe am Tage bei Meissonnier studirt und Abends Modekupfer für wenige Centimes das Hundert colorirt, und Alles aus Liebe zur Kunst. Jetzt hause ich in einem ehemaligen Photographenkasten in Deinem Viertel und befinde mich mitten in meinem Element. Mein Nachbar ist ein Heiligenmaler Namens Hannes Schlichting, ein westphälischer Hüne mit dem Gemüthe eines Kindes, ein Schwärmer edler Art, ein Naturmensch, der die Dinge mit andern Augen betrachtet wie wir, und deshalb auch nie zu etwas kommt, aber ein Prachtkerl, Du wirst ihn kennen lernen.“

Alexander Plagemann nickte und zog seine Uhr. Dabei sagte er:

„Es ist gleich Zwölf. Noch wenige Minuten und Herr Fritz Vetter wird uns das Vergnügen seiner Aufwartung schenken, um pflichtschuldig die gesammelten Neuigkeiten des Vormittags über uns ergehen zu lassen.“

Da Freigang eine fragende Miene machte, fuhr Plagemann gleich fort

„Du kennst Fritz Vetter nicht? Ich habe noch nicht von ihm gesprochen? O, den musst Du kennen lernen! Ich sage Dir, mindestens derselbe Prachtmensch wie Dein Heiligenmaler, wenn auch in etwas verkleinertem Massstabe. Die reine Gliederpuppe an Beweglichkeit. Augenblicklich sitzt er noch unten hinterm Pult und giebt sich als wohlbestallter Comptorist der Firma Rother und Sohn die redlichste Mühe, für seine dreissig Thaler monatlich seine Hose auf dem ewigen Drehschemel, auch Marterbock genannt, so viel als möglich zu schonen. Er hat nur einen Fehler, der gute Junge: er leidet an Erfindungen. Kein Tag vergeht, ohne dass er nicht irgend eine Verbesserung an einer unserer Maschinen erfunden haben will, die ihm nach einer besondern Steigung in der Achtung des alten Chef die endliche lukrative Aussicht gäbe, seinen längst geplanten Heimstand zu gründen, was augenblicklich auch noch an der unerbittlichen Thatsache scheitert, dass Freund Fritz gewöhnlich immer nur bis zum Zehnten eines jeden Monats im Besitze von Baarmitteln ist, bis zum Fünfzehnten an der schrecklichen Geldkrankheit, die man Dalles nennt, laborirt, und von diesem Tage an aus dem sogenannten Vorschuss nicht herauskommt. Der gute Junge, er ist wie zum Ehemanne geschaffen. — Du darfst nämlich, lieber Freund, getrost Fritz Vetter als meinen Schwager in spe betrachten,“ schloss Plagemann lächelnden Mundes seinen kurzen Bericht.

„Ah, dann gratulire ich Dir herzlich.“

Plagemann ergriff die dargereichte Hand und schüttelte sie derb.

Im selben Augenblick begann die Fabrikuhr in hellen Tönen zu schlagen. Nach dem letzten Schlag zischte aus einer Röhre des Maschinenhauses ein heller Dampf, der in einem langgedehnten gellenden Pfiff endete. Aus nächster Nähe drang ein ähnlicher herüber, dem in gewissen Entfernungen verschiedene andere folgten, bis aus der Umgebung ein halbes Dutzend Pfeifen zu gleicher Zeit die Mittagsstunde der Fabriken kündeten. Das bisherige Zittern des Hauses hörte auf — die Maschinen standen still.

Oswald Freigang trat wieder ans Fenster, Erwartung auf seinen Zügen.

Plagemann stand an seiner Seite und sagte:

„Ich werde Dir die Aussicht bequemer machen — die Sonne ist weg von dieser Seite, wir können die Fenster öffnen.“

Er nahm eilfertig die Pappstücke vom Fensterbrett und öffnete die beiden Flügel.

Der Hof belebte sich jetzt, und in den Gebäuden entstand jene Bewegung, die immer bei Beginn der Mittagsstunde in einer grossen Fabrik entsteht, wenn das Surren und Summen der Treibriemen, das hundertfältige Geräusch lebhafter Arbeit nicht mehr vernommen wird. Schwere Thüren wurden geöffnet und zugeschlagen, Stimmen wurden laut, dann hörte man klappernde und schlurfende Tritte die steinernen Treppen herunterkommen, langsam und eilig, erst vereinzelt, dann in ununterbrochener Reihenfolge hintereinander. Durch das Gitterthor von der Strasse eilten noch immer unter der Hitze keuchende Frauen und Kinder herbei, die ihren weitab wohnenden Männern und Vätern das karge Essen zutrugen. Junge russige Gesellen aus dem Maschinenhause steuerten dem Thore zu, um die nächste Speisewirthschaft des Dorfes oder schnellen Schrittes die nahe Vorstadtwohnung aufzusuchen. Ihnen folgten ein paar andere Arbeiter aus der Färberei, und jetzt schritt auch ein kleiner aber knorriger Mann, angethan mit ausgebleichter blauer Jacke, auf dem Kopfe eine Mütze mit Riesenschirm, das charakteristisch geschnittene Gesicht umrahmt von einer weissen Bartfraise, vorüber. Er warf einen Blick zu dem Atelier empor, erblickte die beiden jungen Männer, rückte etwas nachlässig an seiner Mütze und liess ein kräftiges „Mahlzeit!“ vernehmen.

„Das war Papa Titius, unser ältester Webermeister,“ sagte Plagemann, „ein kreuzbraver Schlesier von echtem Schrot und Korn, ausserdem, zu Dir nebenbei gesagt, Vater einer ganz allerliebsten Tochter. Goldblondes Haar, blaue Augen, regelmässiges Profil, weiche Züge, kleinen Mund, Schwanenhals, herrliche Büste, schlanke Gestalt —.“

Freigang unterbrach ihn lachend:

„Du schwärmst ja ganz gefährlich, lieber Alex. Wie in den besten Zeiten unserer Düsseldorfer Liebesabenteuer.“

„Oh, was Du denkst —.“

Alexander Plagemann hielt es für nothwendig, eine halbe Körperwendung zu machen, um eine leise auftauchende Röthe der Verlegenheit in seinem Gesicht zu verbergen. Aber Freigang hatte in diesem Moment keinen Blick für ihn. Seine Augen hatten bereits ein anderes Bild erfasst, das ihn frappirte, seinen Künstlersinn zu lauten Aeusserungen reizte:

„Potz Blitz, das ist ein Kopf, der ist was werth, den muss ich haben. Sieh doch, die brillanteste Studie zu einem Othello, selbst die schwarze Färbung fehlt nicht.“

Oswald Freigang gerieth in eine lebhaftere Bewegung, als es vordem der Fall war. Er neigte sich halb zum Fenster hinaus, um die Person seiner künstlerischen Gefühlsausbrüche besser mit den Augen verfolgen zu können.

Plagemann war sofort an seiner Seite.

„Ah, Den meinst Du! Das glaube ich wohl. Du bist nicht der Erste, dem der famose Kerl gefällt. Ein echter Römerkopf, wie gemeisselt und geschaffen für die Bühne. Und doch nur ein gewöhnlicher Arbeiter unserer Fabrik. Sein Name ist Schott. Er ist Maschinenschlosser und arbeitet unten neben einem Dutzend Kollegen. Wir haben hier unsere eigene Reparaturwerkstatt, in der immer zu thun ist. Auch kleinere Maschinen von leichter Konstruktion machen wir uns selbst ... Ein geschickter und fleissiger Mensch, aber ein jähzorniger, leicht reizbarer Bursche, mit dem nicht zu spassen ist. Eine sonderbare Natur, unter Umständen ungezügelt und roh, aber im Grund treu und aufopfernd wie ein seltener Freund. Besondere Kennzeichen: Sozialdemokrat vom reinsten Wasser. Wenn Du sonst noch etwas wünschest, lieber Freund —.“

Plagemann schloss mit einer humoristischen Anwandlung; und die beiden Freunde lachten zu gleicher Zeit.

Bei dem kleinen Anbau vorüber, der durch die Ateliers und Comptoirräume gebildet wurde, schritt nach dem hinten gelegenen Kohlenplatz zu eine kräftig gebaute, mittelgrosse Gestalt im schmutzigen Arbeiteranzug ohne Kopfbedeckung, im Munde eine kurze, abgebrochene Thonpfeife. Der etwas kleine Kopf vereinigte sich wie im Guss mit dem schlanken Hals und dieser mit den breiten Schultern. Dunkles, kurzgeschnittenes, krauses Haar schnitt scharf an der hohen Stirn ab und kräuselte sich nur hinten wie Teufelskrallen bis weit in den Nacken hinab. Wie sich die Brust unter der Blouse wölbte, wie Nacken und Arme sich in ihren scharfen Konturen zeigten — das gab ein Bild strotzend von jugendlicher Kraft und zäher Gesundheit. Das Gesicht war noch geschwärzt vom Schweiss und Russ der Arbeit, und in ihm sprühte das Feuer zweier dunkler Augen. Etwas Wildes, Eigenartiges, zusammengesetzt aus roher Kraft und natürlicher, halb unbewusster Intelligenz gab dem Antlitz einen Reiz, der das Interesse an ihm herausforderte.

Paul Schott war mitten auf dem Hof angelangt, als helles, überlautes Gewirr weiblicher Stimmen die nahen Arbeiterinnen verkündete. Ein Schwarm Mädchen zeigte sich im Halbdunkel des Flurs und drängte sich die Steinstufen hinab, theils kichernd und lachend, theils stumm und starr mit regungslosen Mienen: Mädchen über die erste Blüthe ihrer Jahre hinaus, mit eckigen Formen und jenen halbverlebten, wachsbleichen Gesichtern, die den Stempel ewiger Sehnsucht nach den Tanzböden gewöhnlicher Kneipen tragen — mit jenem Ausdruck halbversteckter Gemeinheit, wie ihn der stete Umgang mit gleichgearteten Männern zeitigt, denen jedes Wort eine geheime Anspielung ist. Zweierlei hatten diese Mädchen, sobald sie bereits längere Zeit nach der Fabrik gingen, gemein, das wie die Charakteristik ihrer Lebensart erschien: das gleich einer Dirne in die Stirn gekämmte, kurz abgeschnittene Haar und Stiefeletten mit hohen Hacken. War das Kleid vom gemeinsten Stoff, oft eine Stätte des Schmutzes, war das Umschlagetuch der armseligsten Art, machte die ganze Erscheinung den Eindruck äusserlicher Vernachlässigung — Stiefeletten mit Hacken oder Stelzschuhe mit Schnallen durften nicht fehlen. Sie und das Stirnhaar waren das Aushängeschild der moralischen Entwürdigung ihrer Besitzerinnen, das stumm aber schlagend auf den geheimen Weg des Lasters wies. Und unter diesen Frauensleuten, die ihre einstigen blühenden Wangen beim Lampenlicht der Kneipentänze eingebüsst hatten, tauchten jüngere, vollere Gestalten auf: Mädchen mit noch halb kindlichen Gesichtern, an deren weiblichem Hauch die Fabrikatmosphäre noch spurlos vorübergegangen war. Ihr Haar war glatt geordnet, als zeigte es noch die Pflege einer besorgten, sittsamen Hand; die Füsse steckten in derben Lederschuhen, die noch vortrefflich genug waren, nach dem Besuch der Gemeindeschule den Weg zur Fabrik zu machen. Sie lachten noch hell und melodisch, nicht heiser und frech, wie die andern; sie ehrten noch ihr Geschlecht in ihren Bewegungen und verletzten das Auge nicht, wie jene; sie träumten noch von dem Glück ehrbarer Arbeiterfrauen und dachten noch nicht an das Ideal der Sonnabendsbälle in schlechter Gesellschaft — an das einzige Ideal der andern. Für sie war der winkende Lohntag die rosige Fernsicht eines Familienfestes im Kreise der Eltern und Geschwister, der Ausgangspunkt fröhlicher, froher Arbeit, und nicht der Anfang widerwärtiger Streitigkeiten mit gemeinen Wirthsleuten und Schlafstellenvermietherinnen, denen jene andern im zerrissenen Familienbande preisgegeben waren. Ihr Sinn verpönte noch jede versteckte Gemeinheit eines männlichen Kollegen — jene andern nahmen sie in Kauf als selbstverständlich.

Und doch, wie lange wird es dauern, im Dampf und Qualm der Säle, Aug’ in Aug’ mit Männern — —.

Die meisten der Mädchen wohnten zu entfernt, um zu Tisch gehen zu können. Sie verbrachten die Mittagsstunde in der Fabrik, und ihre Hauptnahrung bildete der Kaffee. Einer bunten Schleife wegen, eines falschen Zopfes, irgend eines Flitterkrames halber, womit der kommende Sonntag sie geschmückt sehen sollte, entbehrten sie die warme Speise, kauten sie ihre Stullen, schlürften sie das zweifelhafte Gebräu.

So sah man sie auch heute mit ihren braunen Töpfen, die Arme halb entblösst, die schmutzige Schürze um den Leib, den Budiken der Dorfwirthe zueilen, um ihr dampfendes Morgengetränk einzuholen.

Wie sie in einzelnen Gruppen vorüberkamen, hatte Freigang Musse genug, sie zu betrachten.

Da nahte jetzt auch inmitten zweier langaufgeschossener Arbeiterinnen ein junges Mädchen, mehr Kind als Jungfrau, das ovale, leuchtende Antlitz umrahmt von natürlichen hellblonden Locken — ein Gesicht mit allen Eigenheiten einer Schönheit aus dem Volke, vom vollen, so klassischedel abgerundeten Kinn, vom kleinen kirschroth gefärbten Mund bis zur schmalen, zierlich gestalteten Nase, den klaren, unter vornehm geschwungenen Brauen strahlenden Augen und den durch ihre Kleinheit herausfordernden, von Blut durchglühten Ohren: eines jener Antlitze, die zu den Menschen wie ein verkörpertes Lied sprechen, dem ein Dichtergott ein Stück von seiner Seele eingehaucht. Es sprach so deutlich vom vollendeten Kunstwerk der Natur, vom höchsten Liebreiz eines schönen Menschenkindes ...

O, sie war wirklich schön, so rührend schön, die kleine sechzehnjährige Jenny Hoff. Sie war zwar nur die Tochter eines Kohlenschippers der städtischen Gasanstalt, des Lebens Schicksalswürfel hatte sie frühzeitig dazu verdammt, an der grossen „Trommel“ einer Teppichfabrik Tag für Tag bunt gefärbte Fäden mechanisch nach den vorgeschriebenen Ziffern der gemalten Muster nebeneinander zu spannen; sie trug zwar ein billiges Kattunkleid, eine grobe Schürze und noch gröbere Schuhe, aber das änderte daran nichts: sie war wirklich schön; das konnte ihr doch nicht die schlanke Gestalt, die zarte kecke Büste, die feine nette Taille nehmen — nicht einmal die kleinen Hände, die reinen Kinderhände, um die sie, trotz der augenblicklich rauhen und nicht ganz weissen Haut, so manche Dame besserer Stände beneidet hätte. Und wenn sie auch wie die Andern zu Mittag dünnen Kaffee trank und dünne Butterstullen ass, so blieb sie doch ein hübsches Kind — eine herrliche Knospe in der Blüthezeit des Lebens.

„Was meinst Du, Plagemann, wenn das Mädchen in seidenen Kleidern im Salon erschiene — wenn auch nur in Mousselin — das ist ja das reine Madonnengesicht.“

Oswald Freigang liess den „Othellokopf“ bereits wieder unbeachtet. Sein stets beobachtendes Auge hatte eine andere Wahl getroffen.

„Ah, die —“ Alexander Plagemann hatte wieder Auskunft zu ertheilen.

„Die kleine Blonde ... Nicht wahr, wie bei einer Heiligen, so süss ist das Gesicht. Sie ist noch nicht lange hier und scheint noch unverdorben ... Das liegt daran, sie wird bemuttert, seitdem sie nur noch ihren Vater hat. Sie wohnt auf einem Flur mit der Marie Seidel. Ein ganz rätselhaftes Weib, diese Seidel. Ich muss Dir von ihr erzählen. Seit einem Vierteljahr ist sie bereits hier. Gleich nachdem Edmund Rother seine Hochzeitsreise nach Italien angetreten hatte, trat sie hier ein ... Sie spricht fertig englisch und französisch und muss eine ausgezeichnete Erziehung genossen haben. Jetzt steht sie hier bei uns in Lohn als Teppichstopferin. Da hinten, oben im zweiten Stockwerk, wo die matten Scheiben sind, da verrichten dreissig Mädchen, oder meinetwegen auch „Damen“, wenn Du willst, diese Beschäftigung. Wenn die Teppiche fertig sind, finden sich immer noch kleine Fehler, die ausgebessert werden müssen, oder „nachgegangen“, wie wir zu sagen pflegen ... Niemand wird aus diesem Weibe klug, weil sie unnahbar ist, trotz Höflichkeit und manchmal rosiger Laune. Das macht das „Etwas“, das sie besitzt. Halb Stolz, halb Herablassung. Dabei eine Schönheit, aber eisig kalt, sage ich Dir, trotz ihrem Lachen. Sie soll ein Kindchen haben, das sie bei fremden Leuten in Pflege gegeben hat — so sagt man wenigstens. Es wird wohl die alte Geschichte sein, die ewig neu bleibt: Eheversprechen, Verführung, Gemeinheit eines Mannes — und dann Entsagung und Resignation auf Kosten der bösen Zungen und aus Liebe zu einem Kinde —“

Der redselige Alexander Plagemann war mit einem melancholischen Anflug im besten Flusse, die Neugierde seines Freundes auf die Spitze zu treiben, als eben unten ein paar Kollegen aus den Nebenateliers vorübergingen, mit denen Alex ein paar Worte zu wechseln hatte. Dann schoss plötzlich aus dem Flur heraus, die Steinstufen hinunter ein kleiner Mann, bewehrt mit einer goldenen Brille und bewaffnet mit einer langen Feder, die wie ein Spiess dräuend zwischen Ohr und glattgeschorenem Haupthaar lag; den Kopf bedeckt mit einer ballonartigen Comptoirmütze, deren nebelgraue Farbe zum leichten Anzug aus dito Stoff insofern harmonirte, als sie wie eine körperliche Verlängerung der ganzen Figur erschien. Er turnte mit seinen dünnen Beinen wie ein Windspiel die vorgebaute Treppe hinab und nahm drei Stufen auf einmal. Dabei flatterten die unendlich langen Zipfel seiner herabhängenden Kravatte mit seinen Rockschössen um die Wette und machten im Verein mit den Bewegungen der Arme und Beine den ganzen Menschen zu lebenden Windmühlenflügeln, die das Weite suchten.

Jetzt wollte er auch den Kiesplatz mit langen Sätzen nehmen, als er seine tintengeschwärzte Waffe hinterm Ohr verlor; als er sich darnach bückte, fiel ihm auch die etwas übergrosse Mütze vom kegelartigen Haupte. Während er den ersten Schaden gut machte, sich in athemloser Eile wieder bedeckte, verlor der aussergewöhnlich dicke, anscheinend patentirte Federhalter abermals sein Gleichgewicht. Dadurch entstand eine Drolerie, die erst das halbunterdrückte Lachen der vorübergehenden Mädchen herausforderte und dann auch von oben den lauten Ausbruch einer ungezügelten Heiterkeit herabschallen liess.

Alexander Plagemann sah sich alsdann veranlasst, laut hinunter zu rufen:

„Aber Fritz, bei allen Heiligen, was ist denn los? Du läufst ja gerade, als läge da drüben das Patentamt, aus dem der endliche Segen winke.“

Fritz Vetter drehte sich schleunigst um, und Freigang hatte das Vergnügen, in ein bartloses, schmales Antlitz zu blicken, das neben einer Portion geistiger Eigenschaften den unverkennbaren Stempel grosser Gutmüthigkeit trug.

„O, lass heute Deine Spöttereien! Das ist eine nette Geschichte —.“

Der junge Comptoirist und Erfinder erblickte einen fremden Herrn da oben und unterbrach sich, indem er pflichtschuldigst noch einmal das kurzgeschnittene Haar zeigte. Dann fuhr er athemlos fort:

„Eine wirklich nette Geschichte. Kein Mensch ist ausser mir im Comptoir. Brendel, der neue Volontair — Du weisst ja, der Neffe vom Alten — scheint wieder den „moralischen“ zu haben, denn er ist heute gar nicht gekommen, Knauer (so hiess ein anderer Comptoirist) hat sich bereits zu Tisch begeben, Rösicke (das war der Direktor der Fabrik) ist nach dem Comptoir in der Stadt, und jetzt kommt plötzlich eine Depesche von dort, dass Rother junior seit gestern zurück ist von seiner Hochzeitsreise und an der Seite seiner jungen Frau im Verein mit dem Alten uns hier in der Mittagsstunde seine Aufwartung zu machen gedenkt, wahrscheinlich um den Bau der Villa in Augenschein zu nehmen und der jungen Frau Chef einen Einblick in die Fabrik zu gestatten. Und das kommt über Hals und Kopf und ich bin allein. Sie müssen jeden Augenblick kommen ... Wahrhaftig, da unten rollt schon ein Wagen. Das sind sie, ich kenne die Schimmel. O, es ist entsetzlich, ich verliere noch meinen Kopf und komme bei der jungen Frau ganz um mein Renommee ... Ich bitte Dich, hilf Alarm schlagen, damit Alles am rechten Platz ist. Ich gehe nach der Weberei, thu’ Du das Uebrige. Es wäre unverantwortlich, wenn wir uns in den Augen der jungen Frau blamirten.“

Fritz Vetter war ganz ausser Rand und Band und machte Miene, seine Hetzjagd von Neuem aufzunehmen, als er sich noch einmal umdrehte und laut nach der Portierstube hinüberrief:

„Neumann!“

Es erfolgte eine Antwort.

„Oeffnen Sie gefälligst das Gitterthor, die Chefs kommen angefahren!“

Dann trabte er von dannen.

Plagemann sah nach der Chaussee hinüber, dann sagte er:

„Teufel, da kommen sie wirklich. Der gute Junge hat Recht gehabt ... Bitte, bleibe ruhig hier, aber entschuldige mich auf ein paar Augenblicke —“

Er war bereits verschwunden, als Freigang etwas von „einer Ueberraschung nach der andern“ laut werden liess.

Dann suchte der junge Künstler eine Stellung halb verdeckt vom Fensterflügel, die ihm ungesehen die freie Aussicht gestattete.

Ein paar Minuten vergingen, als Plagemann wieder eintrat und ein paar im Wege stehende Stühle und Sessel bei Seite rückte.

Dann sah man auch wieder Herrn Fritz Vetter herbei gestürmt kommen, in einer Verfassung, die allerdings schon von einer gewissen „Kopflosigkeit“ sprach, denn beinahe hätte er den Maschinenschlosser Paul Schott, der langsam daher geschlendert kam, als interessirte ihn im Augenblick nichts weniger als der respektable Besuch aus der Stadt, über den Haufen gerannt.

Diese anscheinend rücksichtslose Ruhe, im Verein mit den etwas schmerzhaften Folgen des Zusammenstosses, mussten die Entrüstung in der Brust des dienstbeflissenen Comptoiristen ausnahmsweise anfachen.

„Aber, Herr Schott, Sie promeniren hier wie ein Pascha auf und ab und haben soeben gehört, was für ein Ereigniss uns jede Minute bringen wird. Es wäre besser, wenn Sie Ihre Kollegen, die hier sind, benachrichtigten.“

„Es ist jetzt Mittagsstunde, da kann ich machen, was ich will,“ gab der Arbeiter kurz, fast rauh zur Antwort und qualmte und promenirte ruhig weiter.

Fritz Vetter war ob einer solchen nach seiner Ansicht einzig dastehenden Gleichgültigkeit, die um so wirksamer war, je unerwarteter sie kam, derartig starr und sprachlos, dass er es im Vorgefühl der nahenden feierlichen Momente überhaupt unter seiner Würde hielt, noch ein einziges Wort gegen eine derartige „Ausserachtlassung des guten Tones“ zu verschwenden.

Er warf über die geschliffenen Brillengläser hinweg nur noch dem jungen Arbeiter einen Blick nach, in dem sich die ganze Fülle seines wohlmeinenden Vorwurfs aussprach, murmelte ein paar verzeihliche Grobheiten vor sich hin und nahm mit einem kühnen Saltomortale die Plattform der Treppe, um das Arbeitszimmer des jungen Chefs einer flüchtigen Uebersicht zu unterziehen und dann schleunigst seine etwas nachlässige Toilette in Ordnung zu bringen.

Den Hof belebten noch immer Arbeiterinnen, die sich beeilten, ihren alten Platz aufzusuchen, oder sich gegenseitig ein paar Augenblicke aufhielten, um über den Besuch zu schwatzen, auch wohl erwartungsvoll ihre Blicke nach der Strasse zu richten.

Dadurch bildeten sich Gruppen. Man kicherte, machte allerhand Bemerkungen über Herr und Frau Rother junior, sprach von dem Aussehen einer Braut nach der Hochzeitsreise und vergass dabei ganz das Kaffeeholen.

Eins der Mädchen von jener Art mit Stirnhaar und Stiefeletten wandte sich plötzlich den Fabrikgebäuden zu und sagte mit ihrer rauhen Stimme:

„Nu seh doch blos, Tine, da kommt sie wieder mit Schleier und Handschuhe, diese hochnäsige Marjelle, was die sich inbildet! Ob sie mehr is wie wir! Dabei hat se schon wat Kleenes. Det weess Jeder, wie —.“

Das Frauenzimmer machte eine freche Bemerkung, die das Lachen einiger ihrer Genossinnen herausforderte.

Die Teppichstopferinnen hatten ebenfalls Mittagsschicht gemacht. Man sah einen Theil von ihnen daher kommen, allen voran Maria Seidel, eine schlanke, hohe Gestalt in einfacher, dunkler Robe. Jetzt musste sie bei Paul Schott vorüber. Ein sengender Blick des Arbeiters traf sie, wie jeden Tag um diese Zeit, so auch heute. Paul Schott blieb stehen, kreuzte die Arme übereinander und sah ihr nach, seltsam, merkwürdig, als wollte er ihr Bild in seinen Augen fixiren.

Maria Seidel plauderte harmlos mit einer ihrer Kolleginnen, als Jenny Hoff leichtfüssig ihr entgegensprang.

„O, Fräulein, wir haben uns heute noch gar nicht gesehen. Schön guten Tag! Wissen Sie schon, sie kommen. Ach, ich bin so neugierig, wie sie aussehen mögen — das junge Paar. Bitte, bleiben Sie noch einen Augenblick hier. Kommen Sie, wir treten bei Seite.“

Fräulein Seidel lächelte und strich der Kleinen eine muthwillige Locke von der Stirn.

„Hast Du gestern Abend noch gelesen?“

„In dem Buch? O, es ist so schön! Sie sind immer so gut — aber Vater hat mir das Licht vor der Nase ausgeblasen.“

Sie lachte laut auf und zeigte dabei zwei Reihen kleiner weisser Zähne.

Vorn am Gitterthor ertönte jetzt Peitschengeknall, Staubwolken wirbelten auf, und in einer kühnen Kurve bog die prächtig geschirrte Equipage des Hauses Rother ein und rollte vor die Steintreppe, auf der Fritz Vetter bereits harrte. Der Portier sprang eilfertig hinzu, um den Wagenschlag zu öffnen.

Des alten Chefs behäbige Gestalt in schwarzem Rock und weisser Weste stieg zuerst aus; ihm folgte sein Sohn Edmund in grauem Sommeranzug, das bärtige Haupt bedeckt mit einem hellen Strohhut.

„Louise, bitte, stütze Dich —.“

Rother junior reichte der jungen Frau seinen Arm.

Ein leichtes Lächeln des Dankes war die Antwort. Dann knisterte und rauschte die perlgraue Robe, unter Spitzen und Kanten schob sich ein kleiner Fuss hervor, und Louise Rother stand neben ihrem Gatten.

Rother senior hatte sich mit seinem buntseidenen Taschentuch den Schweiss von der kahlen Stirn gewischt. Jetzt lächelte er väterlich, streckte seiner Schwiegertochter die etwas grosse, fleischige Hand entgegen und sagte in seiner breiten, gutmüthigen, aber stets nach der Zeit gemessenen Sprechweise:

„Sei willkommen, Kind, auf unserer Stätte des Fleisses.“

Dasselbe Lächeln von vorhin, dann rauschte sie am Arme des Schwiegerpapas bei Fritz Vetters unglücklichen, von stotternden, unverständlichen Begrüssungen begleiteten Verbeugungen vorbei in den Flur hinein.

Edmund Rother drehte sich noch einmal um, sagte dem Kutscher ein paar Worte, reichte dann mit freundlichem Lächeln seinem Comptoiristen die Hand und folgte in das Haus.

Drüben am Platze stand todtenbleich Maria Seidel und rang in fürchterlicher, seelischer Aufregung nach Kraft, um nicht zusammenzusinken. Etwas wie ein wahnsinniger Schrei nach Luft, nach Hilfe, sollte sich über ihre Lippen pressen, aber ihre Kehle war zugeschnürt vom eben empfangenen Eindruck des Gesehenen.

Jenny Hoff fühlte dann auf ihrer Schulter einen Druck, so dass sie schmerzhaft ein gedehntes „Oh“ hören liess. Sie starrte ihre Nachbarin an.

„Um Gotteswillen — Fräulein, was fehlt Ihnen? Sie fallen!“

Die Kleine schrie hell auf und zeigte eine halbweinerliche, ängstliche Miene.

Die versammelten Mädchen blickten sich um und traten näher. Da stand auch schon Schott an ihrer Seite und hatte sie umfasst. Sie aber fiel nicht, sondern riss sich los, wie gepeinigt von der Berührung des Arbeiters. Und sie hatte auch wieder ihre Sprache gefunden.

„Was wollen Sie? Gehen Sie — es ist schon gut ... Diese schreckliche Hitze. Komm, Jenny, begleite mich ein Stück.“

Sie zwang sich aufrecht wie früher zu erscheinen, und es ging.

Sie sah oben am Fenster Freigang nicht, der sie mit den Augen verfolgte, sie sah die Equipage nicht, an der sie vorbei musste, sie sah auch dort die grossen Fenster mit den braunen schweren Gardinen nicht, an denen sie vorüberging.

Am Portierhause machte sie Halt.

Sie heuchelte Gleichmuth und frug:

„Herr Neumann, war das der junge Chef mit seiner Frau?“

Der kleine Mann gab eine bejahende, freundliche Antwort und empfing einen Dank dafür.

Dann waren sie Beide auf der Chaussee. Hinter einer Pappel küsste sie Jenny auf die Stirn. „Geh’ jetzt, mein Kind, und denke daran, was ich Dir gesagt habe: lass Dich nie mit den Andern ein. Mir ist so unwohl, ich werde Nachmittag zu Hause bleiben.“

Jenny Hoff ging mit betrübtem Gesicht zurück, und Maria Seidel schritt der Stadt zu — langsam, schwankend, wie im Taumel ... So ging sie durch die belebten Strassen, so erklomm sie die vier Stiegen des Hinterhauses zur Wohnung der „Engelmacherin“ Frau Sandkorn, so sank sie an der Wiege ihres Kindes nieder ...

Die Betrogenen

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