Читать книгу Die Betrogenen - Max Kretzer - Страница 7
Zweites Kapitel.
ОглавлениеVormittags in der Stadt.
Palast an Palast gereiht, in denen hinter riesigen Schaufenstern der Luxus zum Verkauf sich breit macht, als gäbe es nichts Nothwendigeres neben ihm auf Erden. Vom Parterre bis zum vierten Stockwerk blitzende Spiegelscheiben, glitzernde Firmen und weithin leuchtende vergoldete Wappen, umgeben von Hoflieferantentiteln aller Nationen, vom Kaiser aller Reussen bis zum Herrscher jenes Ländchens, das mit blossem Auge nicht mehr auf der Landkarte zu entdecken ist, dafür aber durch die Grösse seiner Landeszeichen den Zinkgiessern Gelegenheit giebt, die besten Geschäfte zu machen.
Durch die offenstehenden Thüren der Läden erblickt das Auge hinter den langen Ladentischen eine Reihe Mamsells, emsig beschäftigt, die Kartons zu ordnen, Blicke in die grossen Spiegel zu werfen und sich allerlei Neuigkeiten und Dinge zuzuraunen, vom Vergnügen des letzten Abends, von den Geschenken der Liebhaber, von ihrer Aufopferung, ihrer „Knickrigkeit“, ihrer Treue, ihrer Gemeinheit . . Geschniegelte und pomadisirte Commis mit ausgeschnittenem Stehkragen und rother Cravatte, mit Offiziersscheitel und weitabstehenden Ohren, engen Beinkleidern und zu gross gerathenen Füssen lungern in allen Ecken umher und benutzten die Vormittagsstunden, um sich nach halb durchschwelgter Nacht auszugähnen, fortwährend das Haar zu bürsten, dann zusammenfahrend nach dem Staubwedel zu greifen, sobald von dem Zimmer des Chefs her sich ein Räuspern vernehmen lässt — wie Katzen, die sich buckeln und putzen und bei jedem Fusstritt zusammenschrecken. Noch herrscht Stille in den Geschäften, noch fehlt die Bewegung des Tages, denn noch fehlen auch die vornehmen Kunden, die Equipagen halten noch nicht auf dem glatten Asphalt — der distinguirte „Westen“ Berlins hält noch seinen Morgen.
Und doch wogt draussen schon buntes, wechselvolles Treiben, doch pulsirt das Leben der Riesenstadt im hellen Sonnenschein mit schrillem Geräusch und dumpfem Rollen. Die Pferdebahn klingelt, die Omnibusse rumpeln, Wagen reiht sich an Wagen. Wie lang nebeneinander gezogene bunte Ketten, deren Glieder sich fortwährend loslösen, erscheinen die Passanten auf den Trottoirs. Das bleibt stehen, beäugelt die Schaufenster, aber kauft nichts; sieht sich um, drängt sich dann weiter, eilig, langsam, rastlos phlegmatisch, ernst, heiter — sich gegenseitig bekannt in dem Gefühle der Zusammengehörigkeit als Bürger einer grossen Stadt, und doch fremd jedem Einzelnen. So wogt und rauscht es auf und ab, ein lebendes Meer, glänzend, blendend, täuschend, verlockend wie dieses, auf ebener Erde voll Klippen und Untiefen, gähnend, verheerend ...
Das ist die Leipzigerstrasse, jene prachtvolle, feurig rauschende Ader Berlins, die von dem Grün der Villengärten doppelter Millionäre im Thiergarten nach dem steinernen Herzen der Residenz führt.
Es war elf Uhr am andern Tage, jene Zeit, in der die Chefs grosser Häuser nach Erledigung der wichtigsten Geschäftssachen sich behaglich in ihren Fauteuil zurücklehnen und die Zeitungen zur Hand nehmen.
Auch Rother senior sass in seinem Arbeitszimmer und rauchte behaglich seine Cigarre. Er las nicht, er schrieb nicht, er machte nur den Eindruck eines zufriedenen, glücklichen Geschäftsmannes, der es so weit gebracht hat, um statt Zahlen einmal Gedanken zu spinnen, dabei aber doch immer Zeit findet, seine Augen im Kreise umherschweifen zu lassen: durch die halbgeöffnete Glasthür nach den zwei Reihen Pulten da vorn, hinter denen gebückte Gestalten rechneten und schrieben, Folianten auf- und zuklappten; nach dem Verschlag rechts, auf dessen grosser, mattgeschliffener Scheibe mit Goldbuchstaben das vielversprechende Wort „Kasse“ stand; nach der Wendeltreppe links, die hinunter nach dem Parterregeschoss führte mit seinem bunten Musterlager von Teppichen aller Art und seinem Verkaufsgewölbe. Dann auch zog seine Hand die schwere Gardine am Fenster etwas zurück, und sein Blick glitt über den Hof hinüber nach jenem eleganten Theil des Seitenflügels, den er Rother junior nebst Frau abgetreten hatte, bis der Prachtbau draussen an der Spree vollendet und bewohnbar sein würde.
Sein einziger Sohn, sein Erbe — bei dem Gedanken an ihn thaute das Herz des Alten auf, er fühlte sich weniger Geschäftsmann, weniger Zahlenmensch, nur noch Vater, glücklicher, von schweren Sorgen befreiter Vater, der endlich seinen leichtlebigen Sohn, den dereinstigen alleinigen Träger einer Weltfirma, in ruhige Bahnen eingekehrt sieht, der das Bewusstsein hat, ihn durch ein Weib an das solide, arbeitsame Leben eines strebenden Ehemannes gekettet zu sehen.
O, wie viel Mühe hatte es ihn gekostet, wie viel Projekte hatte er gemacht, wie viele hatte ihm dieser Sohn zerstört! Und doch endlich, endlich —.
Was hatte er schliesslich darnach gefragt, dass diese Frau kein Vermögen mitbrachte, nicht einen Heller; dass er die Schulden ihres Vaters, eines ebenso berühmten wie verschwenderischen Universitätsprofessors bezahlen musste, nichts, nichts hatte er darnach gefragt! Er zerriss die lange Liste seiner goldenen Projekte und begrub seine gehegten Hoffnungen in seiner Brust, mit einem schmerzlichen Seufzer zwar, aber er that es doch, einer langersehnten Schwiegertochter wegen. Und dieses endlich erreichte Ziel hatte ihn mit seinen praktischen Anschauungen vom Leben versöhnlicher gestimmt, hatte ihn schliesslich selber mit dem Gedanken befreundet, dass ein Weib auch Kapital mit in die Ehe bringe, wenn es Geist und Liebreiz besitzt, wie Louise Wilmer sie besass, jetzt die Gattin seines Sohnes.
O, es war im Uebrigen doch Alles so nach Wunsch gegangen. Sie liebten sich Beide, der Anschein sprach dafür, sie waren gesellschaftlich gleich, sie waren ein glückliches Paar, das geschäftliche Renommée des Namens Rother war gerettet, die Basis der Zukunft fester denn je.
Alles das waren Thatsachen in seinen Augen, die ihm die Länge der Hochzeitsreise zum eigenen Wunsch gemacht hatten, die den aufquellenden Zorn im Keime erstickten, wenn er immer und immer wieder nach der bekannt gewordenen Verbindung in die Tasche greifen musste, um den zarten Anspielungen seitens ehemaliger Geliebten seines Sohnes klingend entgegen zu kommen, dadurch den dem öffentlichen Anstand gefährlichen Lästerzungen den Mund zu stopfen, sie verstummen zu machen.
Er war alt und grau, er stand allein. Jetzt sollte ihm der so oft herb empfundene Verlust der entschlafenen Gattin ersetzt werden im Familienglück des jungen Paares. Wie hatte er den Bau da draussen geleitet, wie war er bestrebt, ihn zum Tuskulum der Beiden gestalten zu lassen, mit allem Komfort des Wohllebens, mit aller Behaglichkeit soliden Bürgersinnes. O, wenn er den ersten Enkel auf seinen Knieen schaukeln wird, wenn er ihn zum ersten Mal „Grosspapa“ wird lallen hören, wenn er des Abends in sommerlicher Frische, des Winters in behaglicher Wärme den neuen und doch so alten Reiz seligen Familienlebens wird mitempfinden können, dann wird er wahrhaft glücklich sein, dann wird er friedlich, sorglos seine Tage beschliessen können.
Sie war so sonnig diese Perspektive, sie lag so klar vor seinem geistigen Auge, dass Rother senior, wie seit Jahren nicht, der zeitverschwendenden Beschäftigung unterlag, den Dampf seiner Cigarre in Ringeln aus dem Munde zu stossen. Und jeder gelungene Ring schien ihm ein vollendetes Glied in der Kette seiner Betrachtungen, das sich fest den vorangegangenen anschmiegte. Er hörte den dumpfen Lärm nicht, der von der Strasse bis nach dem stillen Hinterzimmer herüberdrang, er vergass den gewohnheitsmässigen Blick nach dem Comptoir, er träumte nur mit offenen Augen. Er schmunzelte vor sich hin, zog dann wieder die Gardine zurück und blinzelte hinüber nach dem Seitenflügel, als müsste er dort hinter den rothen Vorhängen jeden Augenblick ein rosiges Gesichtchen sehen, das ihm die Bestätigung seiner Gedanken gäbe.
Das Klopfen, das jetzt an der Glasthür ertönte, musste wiederholt werden, ehe es Gehör fand.
Dann trat ein betresster Comptoirdiener ein und überreichte einen Brief, den ein Herr abgegeben habe, der vorn warte.
Rother senior riss das Kouvert auf und überflog die Zeilen, dann wusste er genug, um die eben durchlebten Illusionen durch die Wirklichkeit des Geschäfts verdrängen zu lassen.
Er sagte ein paar Worte, dann klopfte es wieder und herein trat Robert Seidel, bisheriger erster Korrespondent von Leon Guillard, Teppichfabrik in Brüssel, empfohlen durch diesen an Rother und Sohn in Berlin.
Der alte Rother erhob sich von seinem Sitz, stützte nach seiner Gewohnheit die beiden Hände auf den Schreibtisch, sah über diesen hinweg zu dem Eingetretenen und erwiderte dessen höfliche Verbeugung durch ein Neigen des Kopfes. Dann griff er über die weisse Weste nach dem goldenen Pincenez und musterte durch dieses ein paar Sekunden lang scharf seinen Besuch, der seinen Blick voll erwiderte. Die Augen Rothers glitten über die mittelgrosse Gestalt, vom männlich-schönen Kopf über den modischen, aber nachlässig getragenen Sommeranzug bis auf die hellen Glacéhandschuhe und eleganten Stiefel.
Der Eindruck musste ein sympathischer sein, denn das Gesicht des alten Fabrikanten verlor sofort einen Theil seiner kaufmännischen Strenge.
Mit einer Handbewegung wies er auf einen Stuhl.
„Nehmen Sie Platz, Herr Seidel.“
Etwas schwerfällig wurde diesem Ersuchen Folge geleistet, wie von einem Müden, der endlich die ersehnte Ruhe findet.
Dann schritt Rother der Thür zu, schloss sie und kehrte zu seinem Fauteuil zurück.
Er hauchte auf sein Augenglas, polirte es mit seinem rothseidenen Taschentuch und frug dabei:
„Sie waren zwei Jahre im Ausland?“
„Sehr wohl, um mich in der Sprachenkenntniss zu vervollkommnen. Ein Jahr bei William Sniders in London als Kassirer, das letzte in Brüssel bei Guillard als Korrespondent.“
„Sie sind wie alt, Herr Seidel?“
„Achtundzwanzig Jahre.“
„Ein geborener Berliner —?“
„Ja wohl.“
„Sie haben hier Familie —?“
„Nein Niemand. Ich steh’ allein, ganz allein.“
Der Ton, in dem dies gesagt wurde, musste anders gewesen sein wie der der vorangegangenen Antworten, denn der alte Chef blickte plötzlich sonderbar auf, man wusste nicht, war er von Mitleid gepackt, oder betroffen von der Härte, die in dem Klang der Stimme lag.
Er machte eine Pause und benutzte dieselbe, um sein Glas vor die Augen zu bringen. Dann frug er wieder:
„Wollen Sie mir noch die Frage gestatten, was Ihr Vater war, Herr Seidel —?“
„Lehrer der neueren Sprachen, zuletzt Privatdozent an der hiesigen Universität.“
„Ah, sooo —.“
Als Rother senior diese langgedehnten Laute überraschend schnell ausstiess, befand er sich in der Lage eines Mannes, dem plötzlich eingeflösster Respekt vor Jemandem zwingt, diesem durch irgend etwas, sei es auch nur durch die Veränderung einer Miene, unbewusst Kenntniss von diesem Respekt zu ertheilen.
„So, so —.“
Der Mann vor ihm hatte durch dieses Eingeständniss seines guten Herkommens in einer halben Minute in seinen Augen ein anderes Aussehen bekommen. Dieses eine Wort „Universität“ pflegte ihm stets zu imponiren, seitdem er dabei immer an seine Schwiegertochter denken musste.
Es trat abermals eine Pause ein. Rother las noch einmal das Empfehlungsschreiben, dann begann er wieder:
„Haben Sie ein Zeugniss von Sniders in London?“
Robert Seidel zog ein grosses ledernes Portefeuille aus seiner Brusttasche und entnahm demselben ein zusammengefaltetes Papier. Er erhob sich dann und machte einen Schritt.
„Bitte —.“
Rother senior las langsam und bedachtsam. Als er fertig war und das Papier wieder zusammenlegte, nickte er, und eine halblaute Meinungsäusserung wie „vortrefflich“, die mehr für ihn selbst bestimmt war, kam über seine Lippen.
Dann schien er einen Augenblick zu überlegen, denn er trommelte mit den Fingern der rechten Hand auf die Platte des Tisches und blickte vor sich hin.
Als er sich jetzt erhob, schien er mit seinem Entschluss fertig zu sein.
„Es freut mich, Herr Seidel, durch Ihre auf unser Inserat erfolgte Offerte Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, um so mehr, da der Zufall gerade eine Vakanz in unserem Geschäft eintreten liess, als Sie bereits mit einem Empfehlungsschreiben an mich unterwegs waren. Ich engagire Sie hiermit als Kassirer und theilweise für das Ressort der auswärtigen Korrespondenz mit einem Salair von vorläufig achthundert Thalern, und wünsche nur noch, dass Sie sich dieses Vertrauenspostens würdig zeigen mögen.“
Robert Seidel sprach seinen herzlichen Dank aus und ergriff die ihm dargereichte Hand.
Während man noch ein paar Worte über den Tag des Antritts wechselte, hörte man vom Hofe herauf das Scharren der Pferde. Es war angespannt worden. Die Zeit war herangerückt, wo Rother senior den üblichen Besuch in der Fabrik zu machen pflegte, um sich gleichzeitig am Fortschritt des Villenbaues zu erfreuen.
Er warf einen Blick hinunter und fasste dabei nach der Westentasche, wo die Uhr steckte, als die Thür, die nach den Wohnräumen führte, knarrte und Frau Rother junior mit einem durch den Anblick eines Dritten abgebrochenen: „Lieber Papa —.“ in voller Morgentoilette hereinrauschte.
„Du, mein Kind —?“
Der alte Rother drehte sich glücklich lächelnd um und drückte seiner Schwiegertochter, die auf ihn zugeeilt war, einen Kuss auf die weisse Stirn.
Dann wandte er sich zu seinem neuen Kassirer und sagte verbindlichst in rosiger Laune:
„Auf Wiedersehen, Herr Seidel — sprechen Sie gefälligst morgen um diese Zeit wieder einmal vor.“
Frau Rothers junior und Robert Seidels Blicke begegneten sich jetzt, flüchtig und doch lange genug, um zu wissen, wer Jedes von ihnen war. Aber Keiner von Beiden wollte es im ersten Augenblick glauben. Der junge Mann starrte die Frau dort vor sich an, unhöflich, brüsk und doch erwartungsvoll, irgend ein Wort, das ihm gelte, zu vernehmen, aber es kam nicht über ihre Lippen, denn sie war in derselben Verfassung wie er. Er hatte also nichts zu erwarten. Er fühlte, wie ihm das Blut nach dem Herzen ging, plötzlich mit einem einzigen Stoss, dann ergriff er seinen Hut.
„Ich empfehle mich Ihnen —.“
Er wusste nicht, ob er sich dabei verbeugt hatte — wahrscheinlich, er nahm es an. Er wusste auch nicht, wie er die Treppe herunter kam. Aber er wusste, dass er dann im hohen, breiten, reich stuckatirten Hausflur stand und einem Mann begegnete, der gerade den zweiten Thorflügel öffnete und den er für den Portier hielt. Er hatte für diesen ein paar Fragen bereit, auf die er Antwort fand.
Als in den Strassen der Lärm der Weltstadt ihn wieder umbrauste, ihn den Heimathlosen in der Heimath, war es für ihn keine Täuschung mehr: Frau Rother junior, die Gattin seines neuen Chefs, war Louise Wilmer, seine erste Liebe, die Jugend- und Schulfreundin seiner armen verlorenen Schwester ...
Oben hatte Rother senior seiner Schwiegertochter den Arm gegeben, und mit der jungen Frau nach dem Wohnzimmer zurückkehrend, wo das Frühstück aufgedeckt war, zeigte er eine köstliche Laune, und hatte zu fragen, zu lachen, zu plaudern, dass er dabei ganz übersah, wie er nur allein spreche. Aber er war rein närrisch geworden in der letzten Zeit. Wenn ihn nur sein Personal einmal so in seinem Sich-gehen-lassen beobachtet hätte, es wäre um den alten Respekt geschehen gewesen. Dieser glückliche Schwiegervater, was hatte er Alles zu fragen ... „Hast Du gut geschlafen, liebes Kind ... Du findest Dich doch behaglich? Wenn Dir im Haushalt etwas fehlt, nicht recht ist, bitte, verschweige nichts ... Edmund hat mir gesagt, die Kammerzofe scheine Dir nicht zu gefallen, Du möchtest sie aber nicht gleich wieder fortschicken. Ich bitte Dich, sei nicht zu gutmüthig. Am Ende noch darunter leiden, Du mein Kind, das fehlte noch! Nein, Du sollst eine andere Zofe haben, diese Woche noch ... Ihr wohnt ein wenig beengt, nicht wahr? Gedulde Dich nur noch ein, zwei Monate, dann habt ihr euer Haus für euch. Wie wirst Du Dich wohl fühlen, Kindchen ... Aber Edmund könnte jetzt auch kommen. Der gute Junge! Er müht sich selbst ab, unten beim neuen Arrangement des Musterlagers.“ (Er nannte seinen Sohn jetzt sogar einen „guten Jungen“.)
Alles das brachte der alte Herr in verschiedenen Pausen hintereinander hervor, während er, den einen Zipfel der Serviette oben am Hals hinter den Kragen gesteckt, sich redlich mühte, seinem Appetit auf ein junges Huhn (seiner Lieblingsspeise) gerecht zu werden.
Während er sich dann mit der Serviette den Mund abwischte, um einen Schluck Rothwein zu sich zu nehmen, hatte er Gelegenheit, eine Wahrnehmung zu machen.
„Aber Du isst ja gar nicht, Kind. Und was sehe ich, Du siehst blass aus, scheinst so unruhig — bist Du krank? Vielleicht ein plötzliches Unwohlsein — nimm ein wenig Sodawasser, das wird helfen.“
Das fehlte noch, dass seiner lieben Schwiegertochter nicht sofort Alles zur Verfügung stände.
Rother senior sprang auf, um nach der Klingel zu schreiten, aber Frau Rother junior legte ihre feine weisse Hand auf seinen Arm.
„Bitte, Papa, bemühe Dich nicht, es ist nichts von Bedeutung. Aber wenn Du mir einen Schluck von dem leichten Wein einschenken wolltest, würde ich Dir sehr verbunden sein. Das wird dieselben Dienste thun.“
„Wenn Du meinst, Kind — sonst aber —.“
„Auf mein Wort, Papa.“
Rother senior war überzeugt, setzte sich wieder und bediente seine Schwiegertochter. Dann trat eine minutenlange Pause ein, während welcher er ängstlich durch rasche Seitenblicke das Gesicht der jungen Frau beobachtete. Wirklich, sie bekam wieder Farbe und griff ebenfalls zu Messer und Gabel.
„Ich war nur so erschrocken, Papa, beim Anblick des jungen Mannes vorhin. Denke Dir nur, das war eigentlich ein alter Bekannter von mir. Sein Vater war Privatdocent und befreundet mit meinem Papa. Wir wohnten zehn Jahre lang zusammen in einem Hause und auf einem Flur. Er hatte eine Schwester, mit der ich die Schule besuchte und die meine intimste Freundin war. Wir sind zusammen aufgewachsen. Dann starb sein Vater und wir kamen ganz auseinander. Es soll ihnen nachher sehr schlecht gegangen sein. Der Sohn wurde Kaufmann. Die Tochter gab erst Unterricht in Sprachen, dann trat sie in irgend ein Geschäft ein, ich glaube gar, sie musste arbeiten. Die gute, arme Maria!“
Die schöne Frau Rother seufzte und nippte aufs Neue am Weine.
Dann sagte sie wieder:
„Was er nur denken wird, der junge Herr Seidel! Ich glaube, er hat mich auch erkannt und wird mich für stolz halten. Wie kamst Du zu ihm? Mich interessirt das Schicksal dieser Familie lebhaft. Sie bestand aus lauter guten Menschen. Die Kinder namentlich waren vortrefflich erzogen. Ich entsinne mich noch mancher angenehmen Gesellschaftsstunde mit ihnen.“
Frau Rother sprach das so gelassen — sie schien sich ihrer Jugendliebe nicht mehr erinnern zu können.
Rother hatte mit wachsendem Interesse seiner Schwiegertochter zugehört. Erstaunt war er eigentlich nicht. Das war ein Zusammentreffen von Verhältnissen, Schicksalsschlägen, wie es tagtäglich in einer Weltstadt vorkommen kann.
Aber seine liebe Schwiegertochter interessirte sich lebhaft für diese Familie, das war genug für ihn, um ihr jedenfalls im Voraus einen Wunsch zu erfüllen. Er bemerkte, dass er Seidel als Kassirer engagirt habe ... „Seine Schwester muss auch todt sein, er sagte, er stände allein ... Du warst mit der Familie befreundet? Das ändert die Sache vollständig. Er hat auf mich sofort den Eindruck eines Mannes von gesellschaftlicher Bildung gemacht. Wir könnten ihm vielleicht den Anschluss an unsere Familie gestatten, wenn Du wünschest —.“
Rother senior war seiner Schwiegertochter gegenüber zu allen Konzessionen bereit, die ihr Familienleben behaglicher und angenehmer hätten machen können. Denn dieses Familienleben war ein Band, das auch seinen Sohn umschlang.
„O, Papa, ich würde mich freuen! Ich könnte mein heutiges Benehmen durch einige wohlmeinende Worte gut machen.“
„Also es bleibt dabei.“
Der alte Herr legte seine Serviette zusammen und reichte seiner Schwiegertochter im Aufstehen die Hand.
Dann hörte man Stimmen aus dem Vorzimmer, und Rother junior trat mit einem grossen, starken Herrn ein, der in Reisekleidung steckte, und dessen rothes, gesundes Gesicht durch einen kurzen, grauen Backenbart nicht gerade verschönert wurde.
Rother senior war erst ganz überrascht, dann stürmte er mit ausgestreckten Händen dem Besuch entgegen.
„Was sehe ich, mein lieber Freigang — diese Uberrumpelung! Nicht einmal Ihre Ankunft vorher zu avisiren!“
„Es ging nicht, ich bin auf der Durchreise und will morgen wieder fort.“
„Papperlapapp — reden Sie nicht! Sie sind ein paar Tage unser Gast. Sie kommen überhaupt wie gerufen. Wir gebrauchen Maschinen und müssen darüber sprechen.“
Es erfolgte jetzt erst eine Vorstellung der jungen Frau, die der Fabrikant Freigang benutzte, mit seiner Bassstimme dem jungen Paar nochmals persönlich seine Glückwünsche auszusprechen.
Dann war Rother senior wieder besorgt um seinen Gast.
„Sie werden uns das Vergnügen schenken, Sie bei uns frühstücken zu sehen. Louise, liebes Kind, Du bist wohl so gut —.“
Der alte Freigang unterbrach ihn sofort:
„Bitte, keine Bemühungen, meine Herrschaften. Ich komme soeben von Dressel —.“
„O, das ist schade! Dann kommen Sie aber gleich mit nach der Fabrik. Wir können im Wagen plaudern. Wollen Sie?“
Freigang senior war damit einverstanden.
„Adieu, meine Lieben. Louise, liebes Kind, Herr Freigang speist selbstverständlich bei uns.“
Er gab seiner Schwiegertochter den üblichen Kuss auf die Stirn, dann ging man.
Als die beiden Alten im Wagen dahin rollten, sagte Freigang:
„Offen gestanden, lieber Freund, ich bin eigentlich nach Berlin gekommen, um meinen Sohn zu suchen —.“
„Immer noch das alte Verhältniss?“
Im Lärm der Strasse nickte Freigang nur.
„Ihr seid Beide aus zu trockenem Holz geschnitzt. Wenn’s zusammen gerieben wird, giebt’s Feuer,“ meinte Rother nur kurz. Dann kam er hintereinander auf seine Maschinen, seinen Bau und seine Schwiegertochter zu sprechen.