Читать книгу Irrlichter und Gespenster - Max Kretzer - Страница 6
Wahrheit und Dichtung.
ОглавлениеAls Heinz sich auf der Strasse befand, hatte er die Empfindung eines Menschen, dem etwas passiert ist, was er niemals überwinden werde. Ohne sich umzublicken, stürmte er mit derselben Eile weiter, mit der er das Haus verlassen hatte.
Einmal blieb er stehen und überlegte, ob es nicht besser wäre, wieder umzukehren, um sich mit der Faust Genugthuung zu verschaffen. Dann ging er weiter, erfüllt von Rachegedanken, die in seinem Gehirn brüteten gleich einem Gewitter, das der Entfesselung harrt. Die ohnmächtige Wut erdrückte ihn fast. Erniedrigt und beleidigt, wie er sich vorkam, dachte er an weiter nichts, als an eine befreiende That, die er heute noch vollführen müsse, um befriedigt sich schlafen legen zu können.
Sein Gesicht glühte. Das Herz hämmerte dumpf. Er kam sich wie losgelöst vor von allem, worauf er seine Hoffnungen gesetzt hatte. Er wusste: die Brücke zur Rückkehr in Bandels Haus war ihm abgebrochen worden für ewige Zeiten. Nun wollte er wenigstens beweisen, dass er die Macht habe, das Glück anderer zu zertrümmern, wie er es bereits einmal gethan hatte, als die schiefe Ebene seines Lebens zum erstenmal von ihm betreten wurde. Und nicht nur die Macht, sondern auch die natürlichen Anlagen dazu, die ihn fast willenlos zum Bösen trieben.
Während er dahinschritt, ohne auf die Menschen zu achten, kam er sich einsam und verlassen vor. Noch niemals, seitdem er von seinen Angehörigen fort war, hatte er einen gleichen Eindruck empfunden. Sehnsucht kam über ihn, tiefe Sehnsucht nach irgend etwas, was er bisher niemals kennen gelernt hatte, das seinem Gewissen Entlastung und seinem aufgeregten Gemüte Ruhe gegeben hätte. Etwas Besseres erwachte in ihm, von dem er nur dunkle Vorstellungen hatte, das einen merkwürdigen Gegensatz zu seinen schlimmen Eigenschaften bilden sollte.
Er sah nach der Uhr. Es war erst acht, also konnte er noch nach dort, wohin es ihn mit aller Macht drängte, und wo er die einzige Erlösung für heute zu finden hoffte. Was war auch natürlicher, als dass Hannchen plötzlich im Geiste vor ihm auftauchte, um deren ferneres Schicksal sich seiner Meinung nach die Erlebnisse der letzten Stunden allein gedreht hatten!
Er besann sich nicht lauge, stieg in eine Droschke und gab Strasse und Hausnummer an, die er von Robert erfahren hatte. Während der Fahrt wurde er ruhiger, siegesbewusster.
Was wird sie zu allem sagen? Gewiss wird sie aus allen Himmeln fallen, dachte er dann. Besser aber, sie erfährt es durch mich als durch ihn, so kann sie ihm zuvorkommen und zuerst mit ihm brechen. Eine unglückliche Heirat wäre das ja doch geworden — da hat der Alte ja nun ganz recht, wie Robert mir erzählt hat. ... Und morgen schicke ich diesem früheren Färbergesellen einen Brief, in dem ich ihm mitteile, dass Treuling vor dem Bankerott steht. Dann wird er seinen Daumen wohl auf den Beutel halten, denn die Freundschaft geht bei Dem auch nur bis zum Geldsack. Die Gesichter möchte ich dann einmal sehen! Ich glaube, die holen mich noch mit vier Pferden zurück! ... Und gleich danach gebe ich dem Schuft Freudenfeld einen Wink, damit er seinen Freund, den Börsenstipper, benachrichtigt. Die können nachher doch wie die Hyänen die letzten Krempen von den Strohhüten auffischen, denn mehr wird wohl von der ganzen Herrlichkeit da draussen nicht übrig bleiben.
Seine Stimmung änderte sich nun. Befriedigt darüber, so nahe vor der Vergeltung zu stehen, pfiff er leise vor sich hin.
Frau Baumann, Hannchens ehrsame Wirtin, machte grosse Augen, als sie zu später Stunde noch einen Herrn erblickte, der Fräulein Tetzlaff zu sprechen wünschte. Ehe sie noch eine Antwort geben konnte, war Hannchen bereits in der geöffneten Zimmerthür sichtbar geworden. Jedesmal wenn es klingelte war sie der Meinung, es könnte Eberhard sein. Klopfenden Herzens war sie herbeigesprungen.
„Heinz — Du?“ rief sie erstaunt aus, als sie näber gekommen war und ihn erkannt hatte.
„Ja, ich habe Dich ganz notwendig zu sprechen.“
„Mein ältester Bruder nämlich, der Bildhauer, von dem ich Ihnen schon erzählt habe, Frau Baumann,“ sagte sie dann.
„Ah, freut mich sehr, Sie kennen zu lernen. Treten Sie nur näher! ... Wenn Sie noch etwas wünschen sollten, Fräulein, ich stehe selbstverständlich zu Diensten.“
Die Witwe des seligen Postsekretärs machte eine Verbeugung und liess ihn durch, ganz verblüfft darüber, eine derartig einnehmende Erscheinung vor sich zu haben.
Dann befanden sich Bruder und Schwester allein. Einige Minuten sagten sie nichts. Ihr Wiedersehen nach so langer Zeit machte im Augenblick alles vergessen, was zwischen und hinter ihnen lag. Sie umarmten und küssten sich stummbewegt. Und das wiederholte sich eine Weile, ehe sie zu Worte kamen. Hannchen war so gerührt, dass ihre Augen feucht wurden.
„Nein, hat dieser Tag aber Überraschungen!“ brachte sie dann, noch immer zitternd vor freudiger Erregung, hervor: „Kaum ist Robert weg, so kommst Du. Hübsch von Dir, dass Du doch noch einmal an Dein Schwesterchen gedacht hast. Und verändert hast Du Dich! Robert sagte es mir schon, aber das hätte ich doch nicht erwartet! Ordentlich stark geworden. Und wie elegant Du gehst ... wie ein richtiger vornehmer Künstler!“
Er achtete auf diese Anerkennung gar nicht, sondern fragte, während er unruhig im Zimmer umherschritt:
„Also der Kleine war hier? Hat er Dir ’was Besonderes gesagt?“
„Nur Gutes über Dich: Du wolltest ein Grabdenkmal für Vater machen, wenn Du erst so weit wärst. ... Wenn Du das könntest, Heinz, und dabei bewiesest, dass Du ’was gelernt hast, dann würde sich auch gewiss Grossvater mit Dir wieder aussöhnen!“
„Meinst Du?“
Statt der Antwort warf sie sich abermals an seine Brust und brachte schluchzend hervor: „O, Heinz, lieber Bruder — weshalb nur musste alles so kommen?“
„Ja, das habe ich mich heute auch gefragt, aber in anderer Beziehung ... Aber so weine doch nicht, meinetwegen nicht, ich bin es wahrhaftig nicht wert!“
„Doch bist Du es wert, Du bist nur furchtbar leichtsinnig gewesen, und das Geld hat Dich verführt.“
„Und Dich wohl nicht, Kleine?“ fiel er lächelnd ein. Er hatte ihren Kopf zwischen seine Hände genommen und küsste sie auf ihr Haar. Derselbe Duft strömte ihm entgegen, wie in jener Nacht, als er von der Jüngsten Abschied genommen hatte. Er sog ihn begierig ein, wie etwas Angenehmes, Berauschendes, das alte Erinnerungen erweckt. In diesem Augenblicke genoss er wahrhaft glückliche Minuten. Er riss sich los und ging aufs neue umher, Mitleid im Herzen für die Schwester, die noch nicht wusste, was ihrer wartete.
„Ich freue mich ja wirklich so sehr, dass ich Dich gerade jetzt noch einmal zu sehen bekommen habe,“ sagte sie wieder, indem sie ihre Augen trocknete: „Du wirst gewiss gehört haben, dass bald eine Änderung in meinem bisherigen Leben eintritt.“
„Ja, ich habe es gehört,“ erwiderte er kurz.
„Aber so leg doch den Mantel ab und thu nicht so, als wolltest Du bald wieder gehen,“ bat sie und zeigte sich dann behilflich. Während sie das Kleidungsstück an einen Haken der Thür hing, fuhr sie fort:
„Dass Du gerade heute gekommen bist, kann ich Dir gar nicht genug danken.“
„Du hast Dich wohl sehr einsam gefühlt, he?“ warf er ein, ohne seinen Rundgang einzustellen.
„Wie kommst Du denn darauf?“ Verwundert blickte sie ihn an.
„Nun, wie man so darauf kommt. Ich nehme es an, weil ich Dich allein getroffen habe. Wenn man so kurz vor der Hochzeit steht, sollte der Herr Bräutigam Rücksicht nehmen und mit seiner Braut eigentlich in der Familie sein.“
Es lag etwas in seiner Stimme, das sie verblüffte. „Wie meinst Du denn das wieder?“
„Nun, wie soll ich’s wieder meinen? ... So, wie ich spreche.“
„Es ist wahr, ich habe mich auch wirklich einsam gefühlt, aber ohne Veranlassung dazu zu haben.“
„So? Glückliches Geschöpf Du!“
„Das hört sich ja ganz ironisch von Dir an. Du gönnst mir wohl mein Glück nicht?“
„Weshalb sollte ich Dir Dein Glück nicht gönnen? Wäre ich sonst wohl hierher gekommen?“
Er vermied es, sie anzusehen, und ahnungslos, wie sie war, begann sie wieder, erfreut darüber, jemand zu haben, mit dem sie sich über das, was sie am meisten berührte, unterhalten konnte:
„Eberhard hatte nämlich heute eine dringende geschäftliche Abhaltung. Er schrieb es mir.“
„So?“
„Ja! Gerade als ich ihn erwartete, kam ein Rohrpostbrief ... Und was Du vorhin über den Familienverkehr sagtest, mein Gott — damit sieht’s ja trübe aus. Du weisst ja, wie die Sachen liegen. Nach Hause gehe ich nicht, vorläufig wenigstens nicht — und mit dem alten Treuling ist’s auch noch so wie früher. Eberhard meint zwar, das würde sich nach der Hochzeit alles sehr ändern ...“
„So? Das soll öfters vorkommen.“
„Eigentlich bin ich doch recht zu bedauern, nicht wahr?“ begann sie wieder lächelnd nach einer Weile.
„In gewisser Beziehung — ja.“
„Wenn Du nur einen Gefallen thun willst, Heinz, so setz Dich! Du hast immer noch die alte Augewohnheit wie früher, im Zimmer umherzulaufen und Bemerkungen zu machen, aus denen man nicht ganz klug wird.“
„Vielleicht habe ich diesmal alle Veranlassung dazu,“ sagte er trocken und blieb vor ihr stehen. „Ich kann Dir nur sagen, dass ich Dich wirklich aus tiefster Seele bedaure ... Du hättest Dich mit diesem Kerl gar nicht einlassen sollen!“
Sie schwieg, weil sie in dem Augenblick nicht richtig zu verstehen glaubte.
„Ja, wen meinst Du denn damit?“ brachte sie dann betroffen hervor.
„Deinen sogenannten Herrn Bräutigam — das sollte Dir doch einleuchten.“
„Heinz!“ Sie vermochte nur dies eine Wort hervorzustossen, in heftiger Erregung, die ihren Körper durchschüttelte.
Ruhig blickte er sie an. „Nun, was soll dieses ‚Heinz‘?“ Er zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder ab.
„Das fragst Du noch? Bist Du deswegen gekommen, um mir so etwas zu sagen?“
„Nur deswegen ... und noch viel mehr!“
„Dann hättest Du Dir diesen Gang hierher ersparen können. Niemals werde ich dulden, dass man hinter Eberhards Rücken Schlechtes spricht!“
Plötzlich schien sie nicht begreifen zu können, wie man ihre kindliche Freude über das Wiedersehen derartig vergelten könne. Sie wandte sich ab, hielt nur mühsam die neu heraufguellenden Thränen zurück und sagte leise:
„Ich glaubte schon, Du wärst anders geworden; aber nun sehe ich, dass Du immer noch schlecht bist. Pfui, schäme Dich! Einen Menschen zu beleidigen, den Du gar nicht kennst, der Dir nie etwas Übles zugefügt hat ... Weshalb bist Du denn eigentlich hierher gekommen?“
„Um Dir ganz etwas Neues zu sagen: Ich werde Deinem Bräutigam eine Kugel durch den Kopf jagen, wenn er mir nicht binnen drei Tagen Genugthuung giebt!“
Die langverhaltene Wut stieg wieder in ihm auf und so gewaltig, dass sie allein ihn beherrschte. Die Thränen seiner Schwester rührten ihn nicht mehr, sie spornten ihn nur an, ihn noch zorniger zu machen, bevor er ihr alles enthüllte.
„Wenn Du so etwas sagst, möchte ich am liebsten wieder lachen,“ erwiderte sie, plötzlich gefasster geworden. „Du hast einen Hass gegen ihn, den ich mir schon früher nicht erklären konnte — ich habe ja natürlich von Deinem Besuch da draussen gehört.“
„Hab’ ich auch, weil ich derjenige war, der alles vorausgeahnt hatte! Denkst Du denn wirklich, dass er Dich heiraten wird?“
Ja, sag ’mal, Heinz — was sprichst Du eigentlich? Du bist überhaupt so aufgeregt ... Du hast gewiss ganz gehörig gekneipt. Robert sagte mir ja schon, dass Du mit diesem Hipfel noch sitzen geblieben wärst. Das ist der richtige Bruder, der jagt ja den ganzen Lotteriegewinn durch die Kehle!“
„Dann hat er wenigstens etwas davon. Andere schlaue Leute lassen ihn sich auf Zinsen geben und betrügen dann die Gewinner.“
„Die Erfahrung hast Du wohl gemacht? Es ist Dir ja auch leicht genug geworden.“
„Thu mir den Gefallen, Hannchen, und behalte derartige Spitzen für Dich! Mein Geld ist vortrefflich angelegt; davon werdet Ihr Euch später noch ’mal überzeugen. Aber Du bist die Betrogene, doppelt und dreifach!“
Sie verstand ihn abermals nicht. Eine dunkle Ahnung durchzuckte sie aber; mit weit aufgerissenen Augen blickte sie ihn fragend an.
„Ja, reiss nur jetzt die Augen auf! Pack diesen ganzen Ausstattungsplunder in die Kasten. Dein Herr Bräutigam hat sich bereits wieder an eine andere gemacht, die er schon früher kannte! Du kannst Dir wohl denken, wen ich meine.“
Anscheinend unberührt von dem Gesagten, als hätte er eine gleichgiltige Bemerkung getbau, ging er, die Hände in den Hosentaschen, vor ihr auf und ab. Einige Augenblicke hörte man nur den Wiederhall seiner Tritte und das schwere Atemholen, das von Hannchen kam. Dann schrie sie mehr als sie sagte:
„Du lügst, Heinz, Du lügst! ... Es ist nicht wahr, was Du eben gesagt hast, es kann nicht wahr sein! Es ist Deine alte Niederträchtigkeit, mit der Du immer durch das Glück der Menschen fährst. Gestern erst habe ich es noch aus seinem Munde erfahren, dass er’s ehrlich meine wie immer.“
Die Worte waren ihr hervorgesprudelt gleich einem wiederholten Erlösungsschrei, der ihre Seele entlasten müsse. Stürmisch wogte ihre Brust, und fast röchelnd rang sie nach Luft.
Er hatte dasselbe Schulterzucken bereit. „Täuschung, weiter nichts als Täuschung — raffinierte sogar! Schlaue Berechnung, um Dich bei guter Laune zu erhalten. Ich komme direkt von Bandels, wo ich ihn mit der Tochter überrascht babe. Sie sassen Hand in Hand und poussierten ganz wacker. Man hatte mich heute nicht erwartet, und nun trat ich ungeniert ins Zimmer. Der Alte war auch da — überhaupt ’ne grosse Gesellschaft. Du siehst mich ja auch noch im Anzug dazu. Der Sett floss wieder ’mal in Strömen, und ich glaube, es wird heute noch die Verlobung verkündet. Deinetwegen habe ich ’nen grossen Krach dann gehabt. Morgen sprenge ich die ganze Gesellschaft in die Luft. Solche Heuchler sind mir noch nicht vorgekommen! Nun wirst Du mir hoffentlich dankbar sein, dass ich hinter die Schliche gekommen bin.“
Sie sagte nichts. Die Ahnung einer ihr drohenden Gefahr, die ihr während des ganzen Abends vorgeschwebt hatte, hatte sich für sie plötzlich in Gewissheit verwandelt. Der Sturz aus der Höhe des Glückes war so unvermittelt für sie gekommen, dass sie sich widerstandslos fühlte. Sie setzte sich in die Ecke des Sofas, verbarg das Gesicht in die Hände und weinte still und heiss. Langsam quollen die Thränen zwischen den Fingern hindurch. Sie zweifelte nicht mehr, denn sie hätte es selbst unerklärlich gefunden, wenn man ihr vor ihrem Ziele nicht plötzlich ein vernichtendes Halt zugerufen hätte. Ihr Glück hatte eine zu grosse Höhe angenommen, auf der sie vom Schwindel befallen worden war.
„Aber deshalb brauchst Du nicht zu weinen. Das ist die ganze Sippe wahrhaftig nicht wert,“ begann Heinz wieder, nachdem er sie eine Weile stumm betrachtet hatte. Weichheit lag in seiner Stimme, fast that es ihm schon leid, so rücksichtslos vorgegangen zu sein.
„Bis jetzt haben wir noch den Vorteil. Wir werden die Verlobung öffentlich aufheben, und dann sind Bandels und Treulings die Blamierten. Das andere kommt dann nach. Aber nun höre auch, wie die Sache sich weiter abgespielt hat. Es war wie eine grosse Scene in einem Drama auf der Bühne, beinahe ein ganzer Akt. Es waren wohl zwanzig Menschen da. Ich natürlich ganz unvorbereitet — sonst wäre ich im Frack erschienen. Ich stellte mich mitten in den grossen Salon den beiden Treulings gegenüber und hielt ihnen eine Moralpauke, die sie wohl zeitlebens nicht vergessen werden. Alle Gäste, Damen und Herren um mich herum. ‚Pfui, Sie schlechter Kerl!‘ rief ich ihm zu; ‚Sie stehen mit Ihrem Vater vor der Pleite, lassen Ihre arme Braut sitzen und wollen sich jetzt hier an eine reiche machen, um Ihr Haus vor dem Ruin zu bewahren? Wenn Sie ein Mann von Ehre wären, dann würde ich Ihnen morgen meine Zeugen schicken, aber mit Leuten Ihrer Art, die mit Betrügern auf einer Stufe stehen, schlägt sich ein anständiger Künstler nicht. So erkläre ich Sie denn hiermit öffentlich alle beide für nichtswürdige Hallunken, die einander würdig sind ...‘
Du hättest ’mal den Eindruck sehen sollen, den meine Worte gemacht haben. Die Damen steckten die Köpfe zusammen und warfen mir Blicke der Bewunderung zu. Und die Herren wandten sich ab, als bedauerten sie, hier Gäste sein zu müssen. Beide Treulings waren leichenblass geworden, die Bandels natürlich auch, namentlich die Tochter. Sie wusste gar nicht, wohin sie blicken sollte. Und nun wollte ich doch noch einen würdigen Abgang haben — weisst Du, wie die grossen Schauspieler auf der Bühne am Schlusse einer Scene. Als ich sah, dass ich allein der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller war, begann ich aufs neue:
‚Meine Damen und Herren,‘ sagte ich, ich bedaure lebhaft, wenn ich meiner fürchterlichen Anklage gegen diese beiden Herren noch eine Erklärung hinzufügen muss, aber ich fühle mich dazu notgedrungen — und zwar eine Erklärung gegen den Herrn Gastgeber und dessen Frau Gemahlin. Man hatte mich zum zukünftigen Schwiegersohn ausersehen, trotzdem ich mich stets dagegen gesträubt hatte. Sollten aber Herr und und Frau Bandel noch der Meinung sein, ich hätte mich jemals um eine Verwandtschaft mit diesem Hause gerissen, so muss ich ihnen zu meinem Bedauern hier öffentlich das Geständnis machen, dass ich in dieser Beziehung bereits in der Familie eines unserer ersten Börsenfürsten, eines bekannten Kunstfreundes, ziemlich bindende Verpflichtungen eingegangen bin. Ich habe die Ehre, meine Damen und Herren ... Anton, meine Garderobe!‘
Damit verbeugte ich mich leicht nach allen Seiten und schritt langsam und stolz zur Thür hinaus, die der Diener weit aufgerissen hatte. Als mir Anton draussen behilflich war, die Garderobe anzulegen, hörte ich grosses Stimmengewirr. Weisst Du, wie das Rauschen im Publikum, wenn der Vorhang nach einer aufregenden Scene herniedergegangen ist ... So, nun weisst Du alles. Vorläufig bist Du gerächt. Morgen wird halb Berlin von dem Vorfall sprechen ... Aber nun sei auch vernünftig, und lass das Weinen! Wir haben jetzt ernst zu reden. Jetzt heisst’s vor allem, Deine fünfzigtausend Mark zu retten, die Du in Deiner Gutmütigkeit diesen Generalspitzbuben anvertraut hattest. Es giebt nur einen Weg: morgen in aller Frühe zum Grossvater gehen und dem alles erzählen! Das Übrige werde ich schon machen.“
Mit erhobenem Haupte durchschritt er das Zimmer. In diesem Augenblick kam er sich wie ein grosser Held vor, der fest davon überzeugt ist, das durchlebt zu haben, was er soeben erzählt hat. Dann ärgerte er sich darüber, nicht in derselben Weise gehandelt zu haben. Er blieb wieder stehen und sagte aufs neue:
„Weisst Du, ich möchte die ganze Geschichte in die Zeitungen bringen. Ich kenne einen Reporter, der solche Dinge besorgt. Ich habe ihn im Börsencafé kennen gelernt. Eine Idee — was? Natürlich müsste der Vorgang, den ich hier nur ganz trocken erzählt habe, noch ein bisschen ausgeschmückt werden, damit’s romantischer wird!“
Nun ganz von diesem Gedanken erfasst, vergass er alles andere und lies wie unsinnig auf und ab. Dabei erging er sich aufs neue in grössenwahnsinnigen Einbildungen.
„Stelle Dir ungefähr den folgenden Anfang vor,“ sagte er wieder, unbekümmert darum, ob Hannchen zuhöre oder nicht: „Folgendes überaus ergötzliche Geschichtchen, deren Held einer unserer begabtesten jüngeren Bildhauer Namens T. ist, macht augenblicklich in den Kreisen unserer Grossindustriellen die Runde‘ ... Oder meinetwegen könnte es auch so beginnen: Ein Vorgang, der lebhaft an den Inhalt eines Familiendramas erinnert, spielte sich neulich abend in der Villa eines bekannten Millionärs im Osten unserer Stadt ab. Der junge Bildhauer T., bekannt als Liebling der Frauen, noch bekannter durch sein schneidiges Auftreten, ... und so weiter. ... Gefällt mir aber auch nicht! Am besten wäre es schon, ich forderte ihn wirklich zum Duell, das macht am interessantesten. Wenn ich dann noch eine kleine Verwundung bekäme, dann wäre ich wahrhaftig schöne raus ... Ick sag’ Dir, Hannchen, so wat macht Furore und kost’t nischt,“ verfiel er plötzlich in die Berliner Sprechweise.
Hannchen brachte ihn erst wieder zur Besinnung. Sie erhob sich, schritt zum Waschgerät und kühlte sich das Gesicht. Sie hatte aufgehört zu weinen, aber noch immer stand sie unter dem Eindruck der grossen Erschütterung. Verhaltenes Schluchzen stieg in ihr empor, was sie mit Gewalt zu unterdrücken versuchte. Endlich fühlte sie sich soweit beruhigt, um sprechen zu können.
„Heinz, wir haben uns früher oft gezankt, haben uns auch immer wieder vertragen. Wenn ich nicht wüsste, dass Du bei Bandels ein- und ausgingst, hätte ich Dich vielleicht ausgelacht. Du wirst gewiss nicht wollen, dass ich irgend etwas thäte, was von schlimmen Folgen sein könnte. Sage mir offen und ehrlich — ist das alles wahr, was Du mir erzählt hast?“
Es war ihr, als wäre sie jetzt aus einem bösen Traum erwacht und müsste sich überzeugen, was Wirklichkeit und Schein sei.
„Aber natürlich ist es wahr! Es freut mich nur, dass Du Dich darein so schnell gefunden hast. Lass die Gesellschaft schiessen! Ein Mädchen wie Du bekommt immer noch ’nen Mann. Bedenke doch nur, dass Du einen Künstler zum Bruder hast! Schicke ihm morgen den Verlobungsring zurück, und gieb ihm in ein paar kernigen Zeilen den Laufpass. Immer stolz wie ’ne Spanierin!“
„Und er war wirklich da und hat Hand in Hand mit ihr gesessen, wie Du ebenfalls gesagt hast?“
„Das kann ich nun mit zehn Eiden beschwören! Pass ’mal auf, ich will Dir die Situation ganz genau beschreiben.“
Er stellte sich mitten ins Zimmer, brachte beide Arme in Bewegung und begann mit den Händen Linien in der Luft zu beschreiben.
„Hier ist der Korridor — riesig vornehm natürlich. Musst Dir nicht etwa so’n Korridor vorstellen, wie in ’ner Mietskaserne, wo man sich im Dunkeln die Köpfe einrennt, sondern einen Raum beinahe so breit wie das Zimmer hier: fein tapeziert, grosse Spiegel, die bis an die Decke reichen, — wie die gute Stube bei unserem früheren Hauswirt, noch feiner sogar, mit Geschmack und Farbensinn — verstehst Du?“
„Ja doch, ja doch! Komm doch nur vom Fleck.“
„Ich muss Dir doch alles ganz genau plausibel machen. ... Rechts liegen die Salons und Staatszimmer, die nur für Gesellschaften bestimmt sind, und links die Wohn- und Schlafzimmer. Ich öffne die letzte Thür und denke, der Alte, sie und das Mädel würden wie gewöhnlich gemütlich im Familienzimmer zusammensitzen. Ich trete also ein, und da seh’ ich die Bescherung! Dein ehrenwerter Bräutigam sitzt rechts am Kamin und diese Schlange Namens Hertha links. Ganz ungeniert drücken sie sich die Hände wie zwei richtige Verliebte. Natürlich zogen sie sofort die Köpfe zurück, rot geworden wie die Krebse im Gesicht — vor Verlegenheit natürlich. Und das Frechste war, Hertha stellt mir den Menschen, den ich ja noch gar nicht kannte, so ganz gleichgiltig vor, als verstände sich alles von selbst. Nun mach Dir ’mal ’n Bild! Wie jemein, was?“
„Als was hat sie ihn Dir denn vorgestellt?“
„Nun als ‚Herrn Treuling’. So schlau war sie auch, um nicht gleich zu sagen, dass er jetzt ihr Bräutigam geworden sei. Der Anblick war doch schon deutlich genug.“
„Es ist gut, ich danke Dir ... Willst Du mir einen Gefallen thun?“
„Was denn?“
„Mich zu seiner Mutter zu begleiten. Wir nehmen uns eine Droschke und sind bald da. Ich muss sie heute noch sprechen, wie ich geh’ und stehe.“
Entschlossen hatte sie den Pelzmantel vom Kleiderständer gelangt; sie legte ihn aber nicht um die Schultern, weil Heinz sofort einfiel:
„Die ist ja gar nicht zu Hanse, die ist ebenfalls dort.“ Im Augenblick war ihm nichts Besseres eingefallen als diese Ausrede. Er traute es Hannchen zu, dass sie ihren Entschluss ausführe.
„Seine Mutter auch?“ fragte sie ganz betroffen.
„Aber natürlich Das kannst Du Dir doch denken, dass die bei solch einer feierlichen Gelegenheit nicht fehlen wird!“
Hannchen wurde kleinlaut. „Ich wundere mich nur, weil mir Eberhard immer erzählte, dass seine Mutter doch ein klein wenig Neigung zu mir habe ... Aber Du hast recht, wenn er seine Gesinnung geändert hat, wird sie — —“
Sie konnte nicht weiter reden, hing den Mantel wieder an und verbarg aufs neue das Gesicht in die Hände. Aber plötzlich kam der Mut einer gequälten Seele über sie. Mit einem Ruck richtete sie sich auf und ging leidenschaftlich erregt durchs Zimmer. Eine letzte Hoffnung hatte sie durchzuckt und ihr die Kraft wiedergegeben.
„Nein, ich glaube es nicht — nie und nimmer!“ rief sie aus und machte mit den Händen eine abwehrende Bewegung, als wollte sie die Annäherung unsichtbarer Feinde verhindern. Ihre Stimme hatte einen anderen Klang bekommen; ihre Züge drückten zähen Widerstand aus.
„Du magst mir sagen, was Du willst — ich glaube nicht daran! Alles in der Welt müsste dann ja Lug und Trug sein, jedes Wort von ihm eine Heuchelei gewesen sein. Und nochmals — nein! Habe ich ihm so lange vertraut, kann ich es auch noch länger thun. Aus seinem Munde erst will ich es erfahren! Ist es dann wahr, dann will ich es glauben.“
Diese Stimmung dauerte jedoch nicht lange. Aufs neue trat der Zweifel an sie heran und machte sie unmutig und trostlos.
„Aber so beruhige Dich doch nur. So etwas geht vorüber. Die Zeit heilt alle Wunden,“ sagte Heinz wieder. Und nach einer Pause fuhr er fort: „Kannst Du mir vielleicht ein Couvert und einen Briefbogen geben? Marke habe ich. Mir fällt eben ein, dass ich einem Kollegen noch ein paar Zeilen zu schreiben habe.“
Sie gab ihm das Gewünschte. Und während sie in der Ecke des Sofas sass, den Kopf in die Hand gestützt, still brütend vor sich hinblickte, schrieb er an Bandel.
Eine Viertelstunde war vergangen, während welcher man nur das Kratzen der Feder auf dem Papier und hin und wieder einen leisen Seufzer von ihr vernommen hatte. Dann war er fertig, schloss den Brief, schrieb die Adresse, erhob sich und langte nach seinem Mantel.
„Gute Nacht, Hannchen, schlaf wohl und gräme Dich nicht,“ sagte er und reichte ihr die Hand. „Morgen ist auch noch ein Tag, und da wird Deine Stimmung eine andere sein.“
„Gute Nacht, Heinz! Danke Dir nochmals für Deinen Besuch.“
Als er sie so zusammengesunken sitzen sah, mit einem Gesicht, auf dem zum Herzen sprechender Kummer lag, zögerte er, zu gehen. Er beugte sich zu ihr nieder und küsste sie auf die Stirn.
„Soll ich, auch noch bleiben, um Dir die Zeit ein wenig zu vertreiben?“
„Nein, geh nur! Ich bin obendrein müde und abgespannt.“
Plötzlich setzte er sich wieder. „Richtig, da fällt mir ein ... Ich muss Dir doch noch die Hauptsache erzählen — Du scheinst vorher gar nicht darauf geachtet zu haben.“
Er begann ihr nun ausführlich zu berichten über den grossen Verlust, den Treuling der Ältere an der Börse erlitten haben sollte, und über alles, was er sonst über die schiefe Lage des Geschäftshauses vernommen hatte.
„Ich bin überzeugt, dass sie sich alle beide, Vater und Sohn, durch die Geldheirat nur retten wollen,“ schloss er dann und erhob sich wieder.
Hannchen hatte gespannt zugehört. Sie fühlte sich so matt, dass sie gar nicht im stande war, aufs nene ihrer Erregung Ausdruck zu geben.
Dann ging er. Kaum hatte sie das Zuklappen der Aussenthüre gehört, als sie sich ebenfalls erhob und sich vor die Papiermappe setzte, die auf der anderen Seite des Tisches lag. Sie begann zu schreiben, getrieben von der Eingebung des Augenblicks, die einem verrückten Zustande glich. Dreimal legte sie das begonnene Schreiben beiseite ... endlich glaubte sie das Richtige gefunden zu haben:
„Geehrter Herr!
Wenn es wirklich wahr sein sollte, was ich soeben gehört habe, dass Sie vor dem Bankerott stehen (Ihr Vater soll ja eine Viertelmillion an der Börse verspielt haben), dann soll Ihrer reichen Heirat mit dem Fräulein Bandel von meiner Seite aus nichts im Wege stehen. Ich weiss alles. Ihr Glück liegt mir näher als das meinige. Ich gebe Ihnen also Ihr Wort zurück.
Es grüsst
Hannchen Tetzlaff.“
Etwas ungelenkig, weil ihre Hand gezittert hatte, aber klar und rein nahmen sich die Schriftzüge aus, so dass sie trotz ihres Schmerzes noch eitel genug war, sich darüber zu freuen.
„Ist es nicht wahr, so wird er mich für dumm und einfältig halten; ist er aber doch falsch, so wird er sich freuen,“ sprach sie unwillkürlich vor sich hin. Freuen? Ja, wenn er das thäte, was hättest Du dann für eine Genugthuung? Eine solche wolltest Du doch haben? „Gut, so soll er sich gründlich ärgern!“ fügte sie ebenfalls halblant hinzu.
Sie nahm noch einmal die Feder und schrieb:
„P.S. Sollten Sie meine fünfzigtausend Mark gebrauchen können, um den Ruf Ihres Geschäftes retten zu können, so verfügen Sie über das Geld ganz nach Belieben.
D. O.“
Run erst war sie zufrieden gestellt ... Er soll sehen, dass ich trotz alledem grossmütig bin, dachte sie, während sie den Brief schloss und dann die Aufschrift schrieb.
Sie wusste kaum, was sie that; sie stand ganz unter dem Eindruck von etwas Unerhörtem, das sie dazu drängte, sich durch irgend etwas an der Welt zu rächen. Tiefster Schmerz über den an ihr geübten Verrat und die geheime Freude, dem Manne ihrer Liebe irgend etwas anthun zu können, wechselten fortwährend.
Den Brief in der Hand, stand sie eine Weile am Tische und blickte auf den Schutzschirm der Lampe. Dann war sie mit sich einig. Sie trat vor den Spiegel, strich ihr Haar glatt und benetzte ein wenig die Augen, die sie dann wieder trocknete.
Eine Minute später stand sie vor Frau Baumann: „Würden Sie wohl so freundlich sein und den Brief noch nach dem Kasten tragen lassen?“
„Aber gewiss, Fräulein; Minna kann gleich gehen.“
Hannchen war wieder in ihrem Zimmer. Sie hörte das Mädchen durch den Korridor gehen, die Thür öffnen und zuschlagen und dann die Treppe hinunterstürmen. Sie wollte ihr nachlaufen, sie zurückrufen, aber sie fand nicht die Kraft dazu.
Endlich that ihr alles leid. Der Briefkasten befand sich auf der andern Seite der Strasse, diesem Hause gegenüber. Sie eilte aus Fenster, riss es auf und blickte hinaus. Eiskalte Luft drang ihr entgegen, aber sie achtete nicht darauf, spähte nur umher, um des Dienstmädchens ansichtig zu werden. Die Strasse war noch stark belebt.
„Minna! ... Minna! ...“ rief sie laut, ohne dieselbe erblickt zu haben.
Endlich sah sie das Mädchen schräg über den Damm gehen. „Minna, bringen Sie den Brief wieder herauf! Nicht in den Kasten stecken!“ rief sie aufs neue; dann zum zweiten und dritten Male.
Niemand schien sie zu hören, kein Mensch blickte zu ihr empor. Der Schall ihrer Stimme verschwand in dem dumpfen Getöse des Strassenlärms.
Sie sah deutlich, wie das Mädchen den Brief in den Kasten steckte und dann langsam zurückkehrte. Mit zitternder Hand schloss sie das Fenster; dann stand sie eine Weile mit gefalteten Händen mitten im Zimmer. Ihr kam es vor, als wäre soeben ihr junges Leben von ihr gewichen mit all seinem Glück, dem Frohsinn und der Heiterkeit; nur eine inhaltslose Hülle wäre zurückgeblieben, und diese Hülle stünde nun allein und verlassen in trostloser Einsamkeit.
Plötzlich kam ihr die Gegenwart wieder zum Bewusstsein. Sie warf sich lang auf das Sofa hin und begann krampfhaft zu schluchzen.