Читать книгу In Frack und Arbeitsbluse - Max Kretzer - Страница 5

II.

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Um Waldemar Tempels sonderbaren Lebensschritt zu begreifen, muss man die eigentlichen Gründe dazu kennen, die seine kleinen Abweichungen von der Wahrheit Geiger gegenüber erklärlich und verzeihlich machten.

Im Spätsommer dieses Jahres starb der alte Einsiedler Friedrich Ludwig Karl Tempel in Schmargendorf, ein Mann, über den man sich zuraunte, dass er trotz seiner Gebrechlichkeit immer noch rege gewesen sei, sein schon grosses Vermögen nach Möglichkeit zu vermehren.

Aus angesehener Bürgerfamilie stammend, hatte er in seiner Jugend Schiffbruch gelitten, sich bald hier, bald dort herumgetrieben, war Steward auf verschiedenen Überseedampfern gewesen und hatte dann, von Heimweh getrieben, diesen Beruf als Kellner in Berlin fortgesetzt, wodurch er mit seinen Angehörigen zerfiel und schliesslich von seinem Vater enterbt wurde. Das hatte ihn zwar gegen die ganzen Tempels verbissen gemacht, ihm aber die Zähigkeit nicht genommen — im Gegenteil ihn erst recht dazu getrieben, zu zeigen, was er könne. Mit seinen Ersparnissen kaufte er eine kleine Gastwirtschaft im stillen Schmargendorf, noch zur Zeit, als ein Ausflug nach dort einer Landpartie gleichkam. Er besass billig erworbenes, ausgedehntes Land, das er nun, als die Berliner sich in Scharen draussen ansiedelten, mit hohem Gewinn an den Mann zu bringen verstand. Schliesslich hatte er so viel verkauft, dass er sich zur Ruhe setzen und die Gastwirtschaft einem anderen überlassen konnte.

Nun, da er sich „Rentier“ nannte, zeigten die nächsten Verwandten, ganz besonders sein „lieber Bruder“ der Architekt, die Neigung, ihn wieder in Gnaden, mit offenen Armen, aufzunehmen. Jetzt wollte er aber nicht, denn natürlich witterte er nur Erbschleicherei dahinter. Und so verkapselte er sich diesen Hoffenden gegenüber immer mehr in seine Unnahbarkeit.

Das hinderte ihn aber nicht daran, besonders zur Zeit, als er noch Gastwirt war, die entfernteren Verwandten, die „Seitenlinie“, wie er sie nannte, mit viel Freundlichkeit zu empfangen, wobei er seine Scherze und Witze bereit hatte. Dann drückte er jedem die Hand, liess ihn im besten Glauben, der allein Bevorzugte zu sein, strich aber mit Vergnügen die Zeche ein.

Eine kurze, unglückliche Ehe, die er als gereifter Mann mit einem jungen Ding aus Berlin eingegangen war, hatte ihn später menschenscheu gemacht. Man erzählte sich, dass er nur acht Tage verheiratet gewesen sei, und dann schon Gelegenheit gehabt habe, auf Scheidung zu klagen. So hatte er also keinen direkten Leibeserben, und es war erklärlich, dass ihm, je älter er wurde, der Gedanke an seine Hinterlassenschaft Kopfschmerzen verursachte.

Mehrfach hatte er sein Testament umgestossen. Zuerst war Schmargendorf mit dem grössten Teile seines Vermögens bedacht worden, denn er hing mit Liebe an der Scholle. Ein grosses Krankenhaus sollte gebaut werden. Dann aber bekam er Streit mit dem Gemeindevorstand, dem obendrein noch eine böse Auseinandersetzung mit dem Landrat folgte. Und so schwur er sich hoch und teuer, seinen lieben Ortsnächsten keinen Pfennig anzutun. Die sollten froh sein, ihn in ihrer Mitte gehabt zu haben, schon wegen der grossen Portionen, die er ihnen als Gastwirt verabreicht hatte.

Seinen einzigen Bruder, noch bei dessen Lebzeiten als Haupterben einzusetzen, wie es ihm, einer besseren Regung folgend, einmal einfiel? Nein. Der hätte längst selbst ein hübsches Vermögen haben können, wenn er sich nicht in unglückliche Bauspekulationen eingelassen haben würde, die ihn grössenwahnsinnig machten. Ausserdem hatte er sich immer für etwas Besseres gehalten und am meisten gegen ihn beim Vater gehetzt. Der Lohn war zwar nicht ausgeblieben, indem der Alte das hübsche Vermögen seinem einzigen Enkel Waldemar vermacht hatte, der es dann nach seiner Grossjährigkeit hübsch unter die Leute zu bringen verstand.

Es hätte auch der Fall eintreten können, dass die ganze bewegliche und unbewegliche Habe als Niessbrauch in die Hände der Frau Architekt übergegangen wäre, — na, und die hatte er, Friedrich Ludwig Karl Tempel, erst recht im Magen, obgleich sie ihm persönlich niemals etwas Schlimmes zugefügt hatte. Aber sie stammte aus adeliger Familie, wenn auch aus einer verarmten, und so war es wohl anzunehmen, dass sie sich erst recht als etwas Besseres vorkam, und den „Kellner“ am wenigsten vergessen konnte.

Somit blieb nur noch einer der Allernächsten, und das war „Musjö Waldemar“, das liebe, verzärtelte Muttersöhnchen, dem man schon seit der frühesten Kindheit alles nachgesehen und das man immer als Wunderkind ausposaunt hatte. Hatte sich was mit dem Wunderkind! Wunder erweckte er zwar, aber immer in anderem Sinne: bei den Leuten, die die Hände über den Tunichtgut zusammenschlugen und die Frage aufwarfen: „Was wird das einmal werden?“ Na, und es wurde ja auch so allmählich etwas aus ihm: ein Talent mit Ärmeln“, wie der Berliner zu sagen pflegt. Poussierstengel und Kneipier. Schon mit sechzehn Jahren, als er kaum flügge geworden war, immer „mang die Mächens“. Dann, als er anfing, Student zu werden, eine rote Mütze auf und ein buntes Band über die Weste. Und nun immer mehr bei den Schänkmamsells als auf der Universität. Mit dem Jus ging es aber nicht lange, denn das war ihm selbst gegen den Strich. So kam denn der „Kunststudent“ heran, der damit endete, ein wenig in den Ateliers des Vaters herumzuschnüffeln, um wenigstens Zeugnis vom Geborensein abzulegen. Und baute mit und nannte sich Architekt.

Und doch hatte Friedrich Ludwig Karl in seinem Herzen gerade für diesen etwas übrig, wenigstens mehr, als für alle übrigen. Das hing mit dem gutartigen Wesen des Jungen zusammen, in dem nichts von dem Dummstolz seines Vaters enthalten war. Viel Natur, so wie er. Fast fand er etwas Verwandtes darin, soweit er an seine eigene Jugendunstätigkeit dachte. Nur dass er, der Onkel, frühzeitig durch die Schule des Lebens gegangen war und sich dadurch wiedergefunden hatte aus Trotz gegen die eigene Sippe. Dem Neffen stand das vielleicht noch bevor, wenn erst das liebe Mamachen das Zeitliche gesegnet haben und er mit ganz leeren Taschen dastehen würde.

Auch war Waldemar der Einzige, der manchmal zu „Onkel Karl“ hinauspilgerte, schon damals, als er noch das schöngelegene Lokal mit dem schattigen Garten hatte. Als junges Bürschchen zog er da hinaus und schleifte einen Haufen gleichalteriger Freunde mit, die dann alles auf den Kopf stellten. Dann kam Leben in die Bude, so dass Onkel Karl sich selbst wieder jung fühlte, mitlachte, dann einen heimlichen Seufzer tat und bei sich dachte: Wenn’s meiner wär’, ich wollte schon etwas aus ihm machen. Er pumpte ihm sogar hin und wieder einen Taler, immer mit dem Refrain: „Wiedersehn macht Freude.“ Als dann Waldemar jedesmal den Taler wiederbrachte, nahm er ihn zwar an, schenkte ihn ihm aber wieder. Denn in dem Worthalten des Jungen erblickte er einen hübschen Zug. Es steckte also doch so etwas wie ein guter Kern in ihm. Die Eltern hatten ihn bloss anfaulen lassen. Es freute ihn dann auch, dass der Neffe, älter geworden, immer noch hinaus nach Schmargendorf kam und ihm seinen Krankenbesuch machte, stets mit derselben Redensart: „Du, Onkel Karle, ich komme nicht von wegen Riecherei, ob du bald abschiebst. Vermachen tust du mir ja doch nichts.“

Und der Griesgram erwiderte so mit verärgerter Miene: „Ich euch Bande was vermachen? Nich ’ne alte Serviette, die doch früher mein Handwerkszeug war.“ Denn in die Freude über den Besuch mischte sich doch das Misstrauen, dass Waldemar nur gekommen sein könnte, um auf den Busch zu schlagen.

„Nein, nein, diesem leichtlebigen Burschen konnte er auch nicht das schwer erworbene Geld in den Schoss schütten, so angenehme Eigenschaften er auch hatte, ganz besonders die, die „Seitenlinie“, worunter sich einige Musterexemplare befanden, als „Ausschussware“ zu bezeichnen.

Die schönen dreihunderttausend Mark auf der Bank, das schöne Haus in Berlin und die schöne Villa in Schmargendorf! Friedrich Ludwig Karl Tempel, der im Stillen eine offene Hand hatte, kam darüber nicht ins Reine mit sich. Zwei Gewalten kämpften andauernd in ihm: der Schmerz der Trennung vom Besitz und der Gedanke an die Einzig-Würdigen. Der grosse Zug für allgemeine Wohltätigkeit fehlte ihm ganz besonders seit dem Krach mit seiner Gemeinde. Staatliche und städtische Einrichtungen waren seiner Meinung nach überhaupt nur da, um die Steuerzahler zu ärgern. Dann schon in den sauren Apfel beissen und dem besten aus der Sippe den Tanz an seinem Grabe gönnen. Dieser Hader mit sich selbst raubte ihm die letzte Lebensruhe, so dass er gelb vor Ärger wurde.

Da, als er vernommen hatte, dass die runden Taler seines seligen Vaters bei dem Musjö Waldemar immer spärlicher rollten und er annehmen durfte, dass das liebe Mamachen darunter zu leiden beginne, und als ihm dann sein Magenleiden auch den letzten Appetit raubte, er immer mehr zusammenklappte und in visionären Stunden den Mann mit der Hippe in der Ferne schrittweise aber sicher herankommen sah, — da raffte er sich zu einem letzten Entschluss auf, wie ihn zusammenbrechende Kraftmenschen oftmals zeigen. Er liess seinen Rechtsberater, den Justizrat Dietzel, zu sich bitten, liess von ihm seinen letzten, unumstösslichen Willen aufsetzen, ernannte ihn und seinen Freund Hagedorn, auch so einen verflixten groben Kerl in Schmargendorf, zu Testamentsvollstreckern, und legte sich an diesem Tage zum ersten Male ruhig schlafen. Aber bevor er zu träumen begann, lachte er sich seinen Galgenhumor aus, laut und herzhaft, und sein Selbstgespräch dabei war: „Die sollen die Platze kriegen.“

Vier Wochen darauf war er tot.

Und vierzehn Tage später fand an Gerichtsstelle die Testamentseröffnung statt, feierlich und trocken im Beisein aller vom Justizrat Benachrichtigten, darunter auch die „Seitenlinie“.

Und es hiess:

1 „Ich, Friedrich Ludwig Karl Tempel usw. usw. ernenne hiermit meinen Neffen, den ewigen Studenten, Viktor Hugo Waldemar Tempel, Sohn des usw. usw. zum Universalerben meines gesamten beweglichen und unbeweglichen Vermögens, das in folgendem besteht usw. usw., mit Ausnahme der unter e) verzeichneten Legate usw., unter der Bedingung, dass er sich seinen Lebensunterhalt während mindestens eines Jahres als Lohnarbeiter in einer von den Testamentsvollstxeckern gut geheissenen Berliner Fabrik erwirbt, um auf diese Art zu der Erkenntnis zu kommen, dass der Wert des Daseins nicht im Nichtstun und unerspriesslichen Geldausgeben besteht, und um sich dadurch meiner hiermit erwiesenen Grossmut würdig zu erzeigen.

2 Für den Fall, dass mein Neffe sich ausser Stande erklärt, sich dieser Bestimmung zu unterwerfen, oder die ihm auferlegte Verpflichtung weder teilweise noch ganz zu erfüllen, und zwar aus ihm allein zur Last fallenden Gründen, soll ein Drittel meines Gesamtvermögens dem Musikus Robert Emanuel Philipp Kladisch usw., Sohn der Witwe Amalie Kladisch, geborene Tempel usw., zufallen, in Anerkennung eines mir freiwillig dargebrachten Geburtstagsständchens, dem Einzigen unter meinen Verwandten, der mich nicht angepumpt hat; die übrigen zwei Drittel jedoch zu gleichen Teilen den unter e) verzeichneten Personen. Auf alle Fälle, auch ohne Erfüllung der ihm auferlegten Verpflichtung, jedoch nur nach der unter b) vorgesehenen Erklärung seinerseits, fällt meinem Neffen ein Legat von fünftausend Mark zu, das auf das Dreifache erhöht werden soll für den Fall, dass er durch eingetretene, von einem Arzte zu bescheinigende Krankheit bei Ausübung seines Berufes verhindert sein sollte, die ihm auferlegte Bedingung bis zu Ende zu erfüllen, jedoch nur, nachdem der Nachweis für eine mindestens halbjährige, ununterbrochene Tätigkeit, bei guter Führung, in der Fabrik erbracht ist.

3 Stirbt mein Neffe im Laufe seiner neuen Tätigkeit, nach welcher Frist es auch sei, so fällt das unter a) angeführte bewegliche und unbewegliche Gesamtvermögen inkl. aufgelaufenen Zinsen den unter e) angeführten Personen, wozu in diesem Falle die Mutter meines Neffen, die Frau Mathilde, verwitwete Architekt Tempel, geborene von usw., zu rechnen ist, zu gleichen Teilen zu, mit Ausnahme der Frau Dorothea Alwine Musdal, Gattin des Seifenhändlers Theodor Emil Georg Musdal. Die ausgezahlten Legate werden in Anrechnung gebracht.“

Es folgten dann noch eingehende Bestimmungen für die Testamentsvollstrecker über Realisierung der toten Werte, über Kapitalsanlage und über die Ausführung der harten Verfügung, damit nicht etwa durch irgend welche Umgehungen der vorgesehene Universalerbe auf leichte Art in den Besitz des Vermögens kommen könne.

Ein origineller Querkopf hatte seine letztwilligen Bestimmungen getroffen, und ein tüchtiger Jurist hatte ihm dabei geholfen. Gut und Böse lagen nebeneinander; aber das Gute überwog doch. Kraft und Wille eines einzelnen wurden herausgefordert, zugleich aber auch der Neid der anderen erweckt, und für alle war das liebe Geld der Köter, um den sie sich balgen konnten, gleich einer Meute goldhungeriger Menschen, die, in ihren Instinkten einmal losgelassen, beutelustig, mit wilder Gier auf den Spuren des Glückes dahinstürmt.

Und diese Meute fand sich gleich am Tage der Testamentseröffnung zusammen.

Als jetzt Waldemar Tempel Geigers Fabrik in der Reichenbergerstrasse hinter sich hatte und nun der Hochbahn zustrebte, noch immer mit dem niederdrückenden Gefühle eines Menschen, der plötzlich vor einer erstaunten Menge reiten soll, ohne es zu können, tauchte ihm der denkwürdige Tag wieder auf, eigentlich als in seiner Erinnerung schon lange zurückliegend, obwohl erst ein paar Wochen seitdem vergangen waren. Aber etwas Unbegreifliches, Aussergewöhnliches wirkt so schwer auf den Menschen, dass er wie unter einer Last von Monaten dahingeht.

Und er sah sich, seine schwarzgekleidete, feinzügige Mutter am Arm, stolz und abseits durch den kalten und grauen Gerichtskorridor dahinschreiten, vorüber an den lieben Verwandten, von denen er kaum zwei dem Ansehen nach kannte. Acht Menschen standen und sassen da herum, alle lange vor der Zeit erschienen, den Ernst von Leichenbittern im Gesicht, der sich so rasch in Freude nach dem Trinkgeld verwandeln kann. Da man aber noch nicht wusste, ob der andere bevorzugt worden war, so wog man einstweilen die Worte und liess seine ganzen Empfindungen in ein kurzes Lob über den Entschlafenen ausströmen.

Man war gerufen, und das war doch schon etwas.

Eine kleine Trauergemeinde, jeden Augenblick bereit, einer Andacht beizuwohnen, schien sich da zusammengefunden zu haben. Es fehlten nur die Kränze, um das beginnende Leichenbegängnis zu wittern.

Natürlich kannten sie Mutter und Sohn, und kaum hatte einer das Eis durchbrochen, so ging das Gezeter los. Die natürlich würden die Haupterben sein, denn das waren ja „die Nächsten und die Feinen“.

Seifenhändler Musdal, der seinen Kriegervereinszylinder älteren Jahrganges mit Würde auf seinem inzwischen breiter gewordenen Schädel trug, musste es am besten wissen, denn er hatte die Tochter einer Cousine des Toten zur Frau und bildete sich daher ein, über diese Dinge besser unterrichtet zu sein. Er war überhaupt der Mann, der alles schon vorher kommen sah. Er sprach auch viel davon, wie gut er sich mit dem „lieben Onkel“ gestanden und was dieser ihm alles anvertraut habe! Natürlich existierte dies alles nur in seiner Phantasie, aber es machte sich so schön, wenn die anderen die Mäuler aufsperrten.

Waldemar Tempel sah die Mienen und machte sich sein Bild daraus. Der grüne Neid blickte ihm nach, und fast wiegte er sich schon in der Hoffnung, der alte Einsiedler da draussen könnte den Hass gegen den Bruder Architekten in letzter Stunde aufgegeben haben.

„Ich glaub’s nicht, mein Sohn,“ sagte die Mutter seufzend. „Machen wir uns nur auf Enttäuschungen gefasst.“

Musikus Kladisch, der nie mit seiner Frau ausging, hatte sie allein von allen übrigen höflich begrüsst, besonders die „Frau Baumeister“, und sogar gewagt, sie anzusprechen, wonach man ihm auch die Freude einer kurzen Unterhaltung gönnte. Er hatte zwar gleich den anderen niemals Beziehungen zu diesen Verwandten gehabt, roch aber schon die Bevorzugung des Neffen, und so konnte es nichts schaden, wenn er sich beliebt machte.

Alsdann stelzte er wieder auf seinen langen Beinen einsam den Korridor auf und ab, so wie ein hungeriger Wolf, der die Fütterungsstunde nicht erwarten kann. In seinem verkannten Künstlertum dünkte er sich mehr, als die übrige „Bagage“, und so liess er sie ebenfalls links liegen, innerlich erfreut darüber, ihnen gezeigt zu haben, wie er mit den Haupterben stehe.

In dem langen, ausgedienten Lodenmantel, den er um die dürren Glieder geschlagen hatte, den Sommerorchesterzylinder mit Trauerflor auf, einen dickgequollenen Regenschirm in der Hand, nahm er sich sonderbar genug aus, fast wie eine menschliche Fledermaus, die bei jedem Luftzug die Flügel auseinander schlägt.

Dann, im Saal, kam die grosse Verblüffung und die noch grössere Enttäuschung. Für alle Teile. Es gab Gesichter, als hätte man sich bei einer fremden Leiche zusammengefunden.

Schliesslich schlug alles in einen gewissen Humor um, Seifenhändler Musdal lachte, so dass ihm der Bauch wackelte. Ganz respektwidrig lachte er, — er lachte sogar Tränen, wobei seine ohnehin schon kleinen Augen verschwanden.

Und die rundliche Frau Musdal lachte mit, so dass ihr üppiger, hochgewölbter Busen Sprünge bis zum Halse machte.

Und auch des Agenten Tempels Spitzmausgesicht ging in die Breite, wodurch seine Drahtpuppe von Frau angesteckt wurde.

Und auch Musikus Kladisch lachte, nachdem er sich mit offenem Rachen von der mangelhaften Fütterung überzeugt hatte.

Und sie lachten alle, alle, ausgenommen Frau Tempel und ihr Sohn, die, zwar bleich aber doch rasch gefasst, stolz davongingen, so wie sie gekommen waren, begleitet von dem Justizrat Dietzel, dem besonders daran zu liegen schien, mit dem Neffen des Erblassers rasch ein paar wichtige Worte zu sprechen, bevor er wieder in den Gerichtssaal zurückkehrte.

Es war auch zum Lachen, was der witzige und saugrobe Schmargendorfer, „der alte Schinder“, wie ihn Seifenhändler Musdal jetzt ganz offen nannte, dem „Universalerben“ aufgebrummt hatte. Natürlich nur aus Hohn, um ihn öffentlich lächerlich zu machen, weil er dies Söhnlein kannte. Das wax ihnen eine ausgemachte Sache. Denn dass diese Bestimmung niemals durchgeführt werden könne, war selbstverständlich, obschon Agent Tempel meinte, er habe deutlich gehört, wie der „Beglückte“ zum Justizrat gesagt habe, er hoffe im Sinne des Onkels handeln zu können. Aber das war wohl nur so eine Verlegenheitsphrase, ein Stammeln aus Scham über den erteilten Rüffel. Der Verschwender und arbeiten! Obendrein in einer Fabrik. Das sei dasselbe, als wolle man das Brandenburger Tor in die Lindenpassage schieben, oder aus der Siegessäule einen Pfeifenanstecker machen.

So meinte Herr Seifenhändler Musdal.

„Nee, nee, so wat jibts ja jar nich. Een Armeekorps uff’n Brummtriesel ruffkriegen, — det wär ’ne Kleenigkeit dajejen ... Habt ihr ibrijens jehört: der ew’je Studente. So war’t richtig. Der soll man bei det Fach bleiben.“

So sprach Herr Seifenhändler Musdal weiter.

Und als er eine Lachsalve dafür empfangen hatte, so dass der Korridor davon erdröhnte, schritt er der Verwandtschaft voran, würdevoll und erhobenen Hauptes, so wie jemand, dessen Meinung nicht zu erschüttern ist. Und beim Anblick des Justizrates zog er zwar tief, aber doch mit einem Lächeln die Trauertonne, als wollte er sagen: Wir sehen uns bald zur Abrechnung.

Und als er schon ein paar Schritte weiter war, schallte seine quakende Stimme noch zurück: „Nu is de Hauptsache: Abschrift von’s Testament für jeden.“

Frau Tempel und Sohn mussten dann noch ein paar Augenblicke verweilen, weil der Justizrat ihnen den zweiten Testamentsvollstrecker, Herr Hagedorn, vorstellte, einen bartlosen, sehnigen Mann, der sich die Leute immer erst anguckte, bevor er mit ihnen sprach.

Schon drinnen im Saal, als er, den unzertrennlichen Regenschirm in der Hand, am Fenster stand, hatte er alle Erben mit feindseligen Blicken betrachtet, so mit Gendarmenaugen, als wollte er sagen: „Hier steht einer, der passt auf, verlasst euch darauf.“ Und ganz besonders schien er Waldemar Tempel damit zu treffen. Dann rieb er sich jedesmal die mächtige Nase, was eine Angewohnheit von ihm war, und schnupperte in der Luft herum. Auch wenn er dem Justizrat sein fades Lächeln unter den dünnen Lippen zeigte, kam diese stille Feindschaft zum Ausdruck, denn er hatte ihn einmal als Prozessgegner gehabt, was er noch nicht vergessen hatte. Und weil er überdies ein Feind aller Advokaten war, so lautet sein fortwährender Gedanke: Wir beide werden bald zusammenkommen.

Nun nickte er wieder, als Waldemar zu ihm sprach, der ihn natürlich kannte. Und schliesslich quirlte er ein paar Worte hervor: „Is’ n bisken happig die Bestimmung, was? Na, der Lohn is auch danach. War ’n Schlaukopp, der olle Onkel Karl. Die Gemeinde draussen macht drei Kreuze.“

Er hätte gern noch mehr gesagt, um seine Autorität als Testamentsvollstrecker hier gleich festzustellen, aber Frau Rührmund, die langjährige Wirtschafterin des Verblichenen, eine breithüftige, schon angejahrte Person mit gutmütigem Gesicht, einen mächtigen Trauerhut auf, von dem die Federn wie schwarze Fahnen herabhingen, trat auf sie zu und beglückwünschte durchaus ernst den jungen Tempel. Sie war mit einer anständigen Summe bedacht worden, hatte die ganzen Möbel bekommen und war damit zufrieden.

Der Neid lag ihr überhaupt fern. Das sei doch nicht so schlimm, einmal derbe zu arbeiten, meinte sie. Der alte Onkel habe es jedenfalls nur gut gemeint. Sie würde sich zehn Jahre lang ans Waschfass stellen, von früh bis spät, wenn es sich um so viel Asche handelte; oder gar in die Unterwelt gehen. Und sie fügte hinzu, dass der alte Herr Tempel sie in letzter Zeit öfters zu Rate gezogen habe, und dass sie immer bereit gewesen sei, ihn zu Gunsten seiner Verwandten umzustimmen. Ganz besonders habe sie dabei an den jungen Herrn gedacht. Und sie nannte dessen Mutter „Gnädige Frau“ und bat, man möchte doch herauskommen nach Schmargendorf und sich zum Andenken aussuchen, was man wolle. Es sei das auch der Wunsch des Verstorbenen gewesen. Der Tod mache doch alles wieder gut, nicht wahr?

Frau Tempel war sehr gerührt davon und bat sie, bei Gelegenheit zum Kaffee bei ihr zu erscheinen. Das offene Wesen dieser einfachen Frau gefiel ihr umso mehr, da sie zuerst etwas anderes hinter ihrer Miene gewittert hatte.

Rentier Anton Hagedorn hatte der Gruppe sofort den Rücken gekehrt, denn erstens behagte ihm diese rasche Intimität nicht, zweitens hatte er für die Rührmund nie viel übrig gehabt, und drittens ärgerte er sich, dass ihre Gedanken über die Testamentsklausel sich mit den seinigen deckten. Er wäre auf seinen Stockbeinen bis nach Paris gelaufen und würde dazu Gras gefressen haben, wenn man es verlangt hätte, er, Gottlieb Anton Hagedorn, früher Ackerwirtschaftler in Schmargendorf, jetzt Villenbesitzer ebenda, Grosskonteninhaber der Deutschen Bank, Schwiegervater eines Oberleutnants und eines Amtsrichters. Aber bei der Aussicht auf dreimalhunderttausend Mark, ein grosses Mietshaus in Berlin und eine Zwölfzimmer-Villa da draussen, — da riss man sich schliesslich noch ein Bein aus.

Dieser alte Tempel war doch ein richtiger Esel gewesen, dass er nicht zum zweiten Male geheiratet hatte. Denn dann wäre der ganze Zimt doch wenigstens in der Familie geblieben und brauchte nun nicht von Drohnen geschluckt zu werden.

Und sein Gendarmenauge ging noch einmal auf den Eventual-Universalerben zurück, denn die Parole hiess: „Aufpassen, immer aufpassen.“ Er wollte schon dafür sorgen, dass keine Durchstechereien getrieben wurden; denn das erforderte schon die Rache der leer ausgegangenen Schmargendorfer.

Als Mutter und Sohn dann auf der Strasse waren, sahen sie die ganze Seitenlinie friedlich und wie beratend zusammenstehen.

Auch Musikus Kladisch hatte seinen Künstlerstolz aufgegeben und stand nun wie ein Wegweiser mitten in der Gruppe, und zwar in wörtlichster Bedeutung, denn die Hand mit dem aufgeblasenen Schirm wies geradeaus nach einer Kneipe gegenüber.

„Anfechten, jleich anfechten,“ quakte Seifenhändler Musdal hervor, ohne zu ahnen, dass die Nachkommenden diese Worte hören könnten.

Bureauvorsteher Fiebig aber, der erst in letzter Minute erschienen war, ein intelligent aussehender Mann mit Kneifer und aufgewichstem rotem Schnurrbart, warf überlegen ein: „Jibt’s ja jar nich, bei solchen klaren Bestimmungen. Aber einen Schoppen trink’ ich mit.“

„So? Wenn er verrückt war?“ beschwerte sich gleichsam Musdal bei der ganzen Gemeinde. „Und det war er doch. Komplett.“

Aber Herr Fiebig im Bewusstsein seiner Rechtserfahrung, zuckte nur mit den Achseln, spannte seinen Regenschirm auf und eilte über die Pfütze hinweg dem Lokal zu. Denn er hatte Durst.

Und die übrigen folgten ihm wie hüpfende Riesentrauervögel.

„Die werden uns etwas zu schaffen machen,“ sagte Frau Tempel zu ihrem Sohne.

„Lass’ sie doch“, erwiderte Waldemar heiter.

Sein Plan war bereits gefasst.

In Frack und Arbeitsbluse

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