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2.

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Gabriel Kreuz, überzeugt davon, dass der Freund schlief, überliess sich seinen Gedanken. Seine Eltern waren tot, er stand allein auf der Welt, und so dachte er darüber nach, was er, wieder heimgekehrt, beginnen solle, nachdem der Erbschaftsrausch sich in Nüchternheit aufgelöst haben werde. Er hatte Theologie studiert, zuerst in Greifswald, dann in Berlin, ohne aber, und das war das Merkwürdige, volle Befriedigung darin zu finden. Denn was ihn mächtiger anzog, ihn noch himmlischer dünkte als Gottes Wort, war die Musik, weil sie ihm gerade so weit entgegenkam, um die Stimmungen in seiner Gefühlswelt auszulösen. Sein Vater hatte vortrefflich Geige gespielt, und von irgend woher war in seiner Familie die Sage herübergeweht, dass ein Vorfahre, als die Kreuzens noch in den Dithmarschen angesiedelt waren, ein grosser Orgelspieler vor dem Herrn gewesen sei, zu dem sich das Volk in Scharen aufgetan habe, um sich an seiner mächtig brausenden Musik zu erbauen. Vielleicht, dass aus diesen vergangenen Jahrhunderten der Sinn für Töne sich gerade bei seinem Vater und ihm wieder neu belebt hatte nach dem Gesetz der sprunghaften Übertragung, woran er nun einmal glaubte wie an die ewigen Geheimnisse von Ursache und Wirkung im Weltall. Das hatte sich bei ihm schon als Kind gezeigt, da er, als bester Sänger im Dorfe, rein und melodisch sang, ohne eine Note zu kennen, und seiner Mutter Tränen der Rührung entlockte, wenn er am Weihnachtsheiligenabend das „Stille Nacht, heilige Nacht“ anstimmte. Das war es auch, was ihn nach Berlin getrieben hatte, in die Hochflut der musikalischen Genüsse, in der sein Brotstudium unterzugehen drohte, wie die Redensart des besorgten Vaters war, der den zukünftigen Pastor schon Schiffbruch leiden sah. Etwas Wahres war daran, Gabriel konnte es nicht bestreiten, wenn auch sein religiöses Gefühl dasselbe blieb.

Aber die elterliche Sparkasse sollte unter seinem schönen Eigensinn nicht leiden. Er nahm Stellungen als Stundenlehrer an, quälte sich, schon als junger Student, mit den unbegabtesten Rangen herum, um sein Musikstudium zu bezahlen und Oper und Konzerte besuchen zu können. Und diesen schweren Lebensweg zu gehen erleichterte ihm seine himmlische Geduld. Einmal erwog er, Sänger zu werden, dazu reichte aber seine Stimme nicht aus, und so begnügte er sich mit dem Klavierspiel, in dem er es nach und nach zu einer gewissen Fertigkeit gebracht hatte. Das Geigenspiel hatte er bereits vom Vater gelernt, es aber über dem andern Spiel vernachlässigt. Das alles aber genügte ihm nicht; er wollte höher hinauf, etwas Grosses erreichen: wollte Tonsetzer werden, unsterbliche musikalische Werke schaffen. Obwohl er aber drei Jahre lang ein Konservatorium besucht hatte, fast meist in den Abendstunden, kam er bald dahinter, dass seine Begabung sich nur in engen Grenzen bewegte. So blieb er in der Musik mehr der Empfangende als der Gebende: nicht nur zum Kummer seiner selbst, sondern auch seines Vaters, der den Gedanken an diese zersplitterte Existenz seines Einzigen mit ins Grab nahm.

Die Mutter glaubte mehr an ihn, so wie gute Mütter glauben. Und wenn Gabriel in den Ferien zum Besuch in das stille friesische Haus kam, sich an das alte Klavier setzte und seine schönen Lieder sang, ihr alle Opern vorspielte, dann sass sie mit gefalteten Händen da und hielt ihn für einen grossen Künstler, dem Gott wohlgefällig die Wege zu allen Offenbarungen gezeigt habe und noch weiter zeigen müsse. Wohl ihm, dass sie ausser dem Häuschen auch noch ein nettes Sümmchen für ihn bereit hatte, das ihm dereinst den Flug zur Höhe gar sehr erleichtern werde!

Und so war es denn gekommen, dass Gabriel Kreuz schon an die Dreissig sich befand, als auch die Mutter alles überstanden hatte, aber nicht, wie der treue, vorangegangene Lebensgefährte, irre geworden an dem Ein und Alles ihres Lebens; und so war es auch gekommen, dass Gabriel nun mit Schrecken inne wurde, dass er schwankender denn je in seinen Entschlüssen sei, ob er nun umkehren oder vorwärts solle. Er sah den toten Punkt, der einen Lebensabschnitt beschloss, ohne dass der Anfang zu einem neuen schon gefunden war. Des Haderns mit sich selbst müde, die Aussichten in der Tasche, wenigstens nicht Not leiden zu müssen, machte er sich zu einer Erholungsreise auf, um in den Bergen Kraft zu neuem Lebenskampfe zu schöpfen. Und dieser Lebensruck wurde tapfer von seinem Freunde Thomas Nagel unterstützt, der sofort der Meinung war, dass es sich zu zweien besser wandere, als allein. Gabriel Kreuz war das willkommen, denn so verfiel er nicht der Grübelsucht über sich und sein Schicksal, unter der er letzthin, war er allein, beinahe schon gelitten hatte. Und im Grunde genommen, liebte er doch die Geselligkeit, schon um der Aussprache willen über alles Grosse, was den Menschengeist bewegt. Und war es mit dem meistens spottsüchtigen und verneinenden Nagel auch nur ein Plaudern, manchmal über Tagesdinge, — so bot das doch genug Ablenkung und verkürzte die Zeit während der Fahrten.

Und das war es auch, was ihn besonders zu Thomas Nagel hingezogen hatte, als er ihn vor zwei Jahren als Stubennachbar bei seiner Wirtin in Berlin kennen gelernt hatte, in einer der älteren Strassen des Potsdamer Viertels, aus denen die Vornehmheit allmählich weiter nach dem Westen geflohen war. Er sah sofort, dass Nagel ein armer Teufel war, der alles Heil vom anderen Tage erwartete und an sich glaubte, wenn er auch nicht besonders wählerisch in den Mitteln war, die diesem Glauben zum Siege verhelfen sollten. Aber, du mein Gott, borgen war keine Schande, wenn die Not an die Tür pochte! Und da Gabriel Kreuz die Nächstenliebe als Pastor dereinst hatte verkünden sollen, so hielt er sich für verpflichtet, nun, wo er entgleist war, ebenso die offene Hand zu zeigen, wie er es nach christlicher Anschauung später erst recht hätte tun müssen. Ausserdem: in diesem findigen Techniker steckte etwas, was erst herausgeholt werden musste, und das war die beste Gewähr dafür, dass dieses Wohltun sich dereinst gut verzinsen würde; auch als Darlehen gedacht, denn grosse Gaben hatte Kreuz nicht zu verschenken.

Er hätte ebenso gut einen Kunstgenossen mit auf die Wanderfahrt nehmen können, denn es liefen genug davon herum im grossen Berlin, die mit Freuden eingeschlagen hätten. Dann wäre er aber um seine ganze Erholung gekommen, denn die Musik war dazu da, um sie auszuüben, nicht aber, um während des ganzen Tages davon zu sprechen. Thomas Nagel hörte aber darüber nur geduldig zu, ohne zu streiten, denn er verstand nichts von Musik, höchstens, dass er landläufige Bemerkungen darüber fallen liess, und das war für Gabriel Kreuz gerade das Beruhigende und Erfrischende. Er konnte seine Meinung austoben lassen, ohne wenigstens darin auf Widerstand zu stossen.

Und dann gab es noch eines, was sein Gemüt befruchtete: die drastische Ausdrucksweise des Freundes, die ihm, dem Norddeutschen von der Waterkant, wo die Derbheit manchmal gottgefällig war, als wohltuender Ausgleich mit der verlogenen Süssigkeit der überfeinen Kulturwelt dünkte. Denn dieser behagliche Dessauer, in jungen Jahren schon nach Spree-Athen gekommen, hatte sich mit der Zeit so ins Berlinertum eingelebt, dass sich aus dem Provinzialen schliesslich einer jener grossen Überschlauköpfe entwickelt hatte, von denen die Einheimischen einfach lernen können.

So glichen sie zwei aufgeweckten Kameraden, die um so besser miteinander auskommen, je entfernter ihre Lebensziele liegen. Ein jeder nahm die Belehrungen des anderen gerne hin, weil sie mit seinem Berufe nichts zu tun hatten. Und platzten sie in weltphilosophischen Dingen aufeinander, dann war es Gabriel Kreuz, der durch seine sanfte Ruhe den Zorn des anderen verrauchen liess, teils des Friedens wegen, teils weil er Mitleid mit ihm hatte.

Während Kreuz so seine Gedanken spann und nun erwog, ob es nicht an der Zeit sei, den Gefährten zu wecken, damit man weiter komme, wurde er, wohl durch den steten Blick auf die weisse Wolke über ihm, selbst von der Müdigkeit befallen, gegen die er vergeblich kämpfte. Bald schlief er ein, und seine regelmässigen Atemzüge verkündeten, dass dieser Schlaf in freier Luft tief und fest war, von der Art, wie ihn die Sorglosen und Unbekümmerten schlafen.

Gabriel träumte. Zuerst war es ein schöner Traum, aus reiner Seele geboren. Er sass oben in Ost-Friesland, im alten Schulmeisterhaus, bei Vater und Mutter. Sie lachten alle drei. Dann ging die Tür auf, und man brachte Johannes Kreuz, seinen Bruder herein, der als Matrose übers Meer gezogen war, und den man niemals wiedergesehen hatte, weil der Dreimaster mit Mann und Maus untergegangen war. Man legte ihn stumm und still auf die Dielen. Der Vater war starr, die Mutter aber schrie auf. Und da gerade, als sie sich jammernd über ihn geworfen hatte, wurde Johannes wieder lebendig, richtete sich auf und lachte sie alle an. Und sie lachten mit, und die Männer, die ihn gebracht hatten, lachten ebenfalls. Der Vater aber wischte sich die Tränen aus den Augen und meinte zu dem Wiedergekehrten, er solle doch solche Witze lassen. Dann nahm er seine Geige und spielte ihnen etwas Lustiges auf. Plötzlich war Gabriel allein im Zimmer und lag auf derselben Stelle, wo soeben noch der tote Bruder gelegen hatte. Es wurde dunkel, und ein Ungeheuer kroch auf ihn zu, und er konnte weder schreien noch sich bewegen, obwohl er beides wollte.

In Wirklichkeit passierte etwas Ähnliches. Thomas Nagel hatte sich zur Hälfte erhoben, sah sofort, dass der Freund fest eingeschlafen war, und machte sich vorsichtig an die Arbeit. Er knöpfte dem Schläfer das Lodenjackett auf, dann die Weste darunter, beides gerade weit genug, dass er hineinfassen und das Kuvert mit dem Gelde nehmen konnte. Rasch verbarg er es in seiner Innentasche. Alsdann knöpfte er Weste und Jackett wieder zu und streckte sich ruhig aus, als wäre nichts vorgefallen. Gabriel Kreuz stöhnte im Traume, unverständliche Laute entflohen seinen Lippen, ohne dass er die schweren Bande, die ihn niederdrückten, entfesseln konnte. Dann wich der schauerliche Alpdruck von seiner Brust und gab den starren Gliedern wieder Geschmeidigkeit. Mit heissem Kopfe richtete er sich auf und blickte erstaunt in die Landschaft, die überall ein bleiches Antlitz zeigte, was daher kam, weil ihm das weisse Sonnenlicht so lange auf den Augenlidern gelegen hatte. Allmählich wurde alles wieder bunt, und allmählich kam er zu sich. Gott sei Dank, dass er nur geträumt hatte.

Ruhig und friedlich lag der Genosse neben ihm und hielt seinen unverwüstlichen Schlaf.

Sollte er ihn wecken? Fast tat es ihm leid, weil Nagel vergangene Nacht schlecht geschlafen haben wollte. Er überlegte, denn er dachte an seinen Traum. Tote wieder lebendig werden sehen, — das gab nach Ansicht seiner Mutter, die auf solche Deutungen schwor, stets Streit, besonders in Erbschaftsdingen. Er musste lächeln, denn das hatte er von keiner Seite mehr zu erwarten. Träume waren eben Schäume, die keinen festen Bestandteil hatten. Diese Meinung beherrschte ihn, obwohl es zu seiner ganzen Natur gehörte, seine Glaubensseligkeit auch auf diese Dinge auszudehnen. Denn wunderbar und immer noch unerklärlich für die Gelehrten war dieser Zustand eines Schlafenden, der ihn unbewusst in ein Nebenleben führte, in dem die Erscheinungen der Vergangenheit und Gegenwart durcheinander wirbelten. Denn niemals sah man sich selbst in der Zukunft, und das war das Merkwürdige dabei, was wohl mit dem ewigen Arbeiten des Gehirns, das an die Zeit gebunden war, zusammenhing.

Gabriel Kreuz brach einen langen Grashalm ab und zog ihn spielend durch die Lippen, dabei immer an seinen Traum denkend. Etwas Schönes lag doch in dieser plötzlich entstandenen Scheinwelt, trotz des Grauens, das der Freude vorhergegangen war und sie dann wieder beschlossen hatte. Denn er war seinen Eltern wieder nahe gewesen, hatte sie in all ihrer rührenden Lebendigkeit um sich gehabt und hatte seinem guten Bruder, der nun schon zehn Jahre auf dem Meeresgrund lag, die harte Matrosenhand schütteln dürfen. Vielleicht war das Träumen, diese Fata morgana der Seele, eine tiefsinnige Deutung, sich der Verstorbenen wieder zu erinnern, indem man körperlich greifbar mit ihnen im Schlafe verkehrte!

Thomas Nagel schien sich zu regen, und so rüttelte nun Kreuz an ihm: „Du, hör’ mal, es wird Zeit, dass wir losgehen. Auf, auf!“

Nagel brummte etwas Unverständliches, tat erst so, als wollte er sich noch auf die andere Seite legen, reckte sich dann aber ganz gewaltig und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Und dabei gähnte er laut und anhaltend. „So? Ist es schon so weit? Donnerwetter, ich glaube wirklich, ich habe fest geschlafen.“

„Das soll wohl sein,“ sagte Kreuz lachend. „Du hast sogar geschnarcht, als wenn eine schlechte Säge durch einen trockenen Ast ginge.“

Nagel log nicht, denn den Reichtum in der Tasche, hatte er sich wieder der dickfelligen Sorglosigkeit überlassen. Zwar hatte er erst gehorcht, ob der Freund gleich nach der Tat munter werden würde, dann aber, als er die gleichmässigen Atemzüge hörte, kämpfte er nicht länger gegen die Müdigkeit. Er hatte ja die personifizierte Weckuhr zur Seite, und die würde sicher gehörig zu schnarren beginnen, wenn sie vorzeitig, durch Schreck aufgerüttelt, ablaufen würde.

„Man hätte dich berauben können bis auf die Kleider,“ fuhr Kreuz fort.

„Das hättest du nur tun sollen, ich war schon lange für ein Sonnenbad.“ Und listig fügte er hinzu: „Dich vielleicht nicht? Mir war’s doch, als hättest du mir beim Schnarchen Konkurrenz gemacht.“ Danach richtete er sich ebenfalls auf und blickte ihn ganz harmlos an.

Kreuz blieb heiter. „Ja, du, ich musste es dir nachmachen, ob ich wollte oder nicht . . Hat dir etwas geträumt?“

„Du weisst, ich träume grundsätzlich nie, und das erlauben mir meine gesunden Nerven. Die zittern weder beim Wachen noch beim Schlafen. Träume sind nur die Folgen aufgescheuchter Nerven, die das vernünftige und klare Denken in Grübelsucht verwandeln . . in ungesunde natürlich. Und alles ungesunde Grübeln ist mir zuwider. Ich beschäftige mich nur mit realen Dingen. Und deshalb werde ich mir erst einen Tobak anstecken.“

Er rauchte unmenschlich viel Zigarren, und wo es nur anging, qualmte er, selbst auf hohem Bergesgipfel, so dass Kreuz nicht begreifen konnte, wie man stetig Dampf statt Ozon schlucken könne. Nagel jedoch, der die Zigarren fast „frass“, schüttelte bedauernd seinen dicken Kopf und meinte, dass er nun einmal ohne Zigarren nicht leben könne, weil ihr Genuss sein Denkvermögen bereichere. Andere bekämen ihre Ideen beim Weissbier, beim Sekt, beim reinen Alkohol, oder bei faulen Äpfeln, wie man von Schiller behaupte, — er müsse seine Zigarren paffen, um den Gehirnsprudel in Fluss zu halten. Danach biss er die Spitze der hervorgeholten Zigarre einfach ab, spuckte sie aus, wie es seine Gewohnheit war, und gab dem trockenen Kraut Feuer. Alsdann gähnte er noch einmal sehr unmelodisch, wodurch Kreuz angesteckt wurde.

„Du warst natürlich wieder im Paradies, wie ich dich kenne,“ sprach Nagel behaglich weiter. Seine Worte kamen immer aus schiefgezogenem Munde, was ihm stets etwas Aufsässiges gab.

„So halb und halb,“ erwiderte Gabriel mit einem Seufzer. Und ohne weiteres erzählte er seinen Traum.

„Du denkst eben zu sehr an das Vergangene und zu wenig an die Zukunft, lieber Sohn,“ warf Nagel ein. „Ich denke nur an die Zukunft, das ist die einzige Dame, mit der ich ständig verheiratet bin. Und je fetter sie wird, desto verlockender erscheint sie mir. Eure solche Gedankenehe lobe ich mir, weisst du. Denn sie kostet nichts, spornt aber an. Einmal wird mir das fette Weib doch aus dem Dalles helfen, glaubst du? Dann lasse ich die Illusionsdame natürlich sitzen und nehme mir ein frisches Mädel mit greifbaren Reizen. Mit all den Tugenden ausgestattet, die ich nicht besitze . . . Hörst du zu, Gabriel?“

Er hatte sich wieder niedergelassen, seinen vollbäuchigen Rucksack aber vor sich aufgestellt, so dass er sich nun mit dem Ellbogen auf ihn stützen konnte.

Gabriel sann nach. Dann sagte er: „Wir können unsere Lehren immer nur aus der Vergangenheit ziehen, meine ich. Sie ist die Mutter, und die Gegenwart ist ihre Tochter, die die Zukunft als ihr Kind noch unter dem Herzen trägt. Mit Bangen, denn sie weiss nicht, was werden wird.“

Thomas Nagel quetschte die Worte unter der Zigarre hervor. „Sehr geistreich gesagt, lieber Sohn. Dann hätte ich ja recht. Denn siehst du, ein Kind kann man noch erziehen, aus dem kann man noch etwas machen; das ist der Ton, den man kneten kann . . . sich gefügig machen kann. Du bist eben der Mann von gestern, und ich bin der Mann von heute. Du träumst und ich erlebe. Das haben wir schon in München gesehen bei der Resi. Wieder mal hübsch getroffen, nicht?“

Gabriel Kreuz lachte ohne Neid. „Ja, du bist der Mann des Augenblicks, wenig wählerisch und ohne Skrupel, — das heisst, das soll keine Beleidigung sein.“

Thomas blieb unbeweglich. „I, wo werden wir uns denn beleidigen! Wir sezieren uns nur gegenseitig, und das macht Spass. Gute Freunde können sich alles sagen . . . Aber weisst du, mein lieber Gabriel, ich hab mir über den Genuss dieser Welt meine Theorie aufgestellt. Denk’ mal, ich finde auf der Landstrasse eine schöne, duftige Rose einsam stehen. Soll ich vielleicht erst warten, bis der Kerl hinter mir sie in seine schmutzigen Hände nimmt? Nein, mein Sohn, da breche ich sie schon lieber selber. Was du Skrupellosigkeit nennst, ist wohlerwogenes Handeln.“

„Oder auch Selbstsucht?“

„Kann sein. Dann aber nur aus ganz natürlichen Gründen. Zuerst komme ich, und dann kommt der andere.“

„Der andere hätte die Rose aber vielleicht stehen lassen und sich an ihrem Dufte berauscht. Und dann hätten seine Mitmenschen wohl auch etwas davon gehabt.“

Thomas Nagel paffte ruhig weiter. „Der andere wärest du natürlich, mein lieber Gabriel. Das sähe dir ähnlich. Und dein Hintermann lacht dich aus, weil du ihm die schöne Sache aufgehoben hast. Denn Sache ist doch eigentlich alles im Leben. Auch die Menschen, sonst würden sie sich nicht nach Belieben schieben lassen. Zu drollig, dass wir uns immer noch darüber streiten . . . Ich erwarte nun übrigens deinen Vortrag über Träume . . . ich sehe es dir an, dass du da wieder etwas in petto hast. Schiess nur los, — du weisst, dass ich dir gern ins Mystische folge, wenn ich auch keinen Pfennig dafür gebe. Aber du machst die Sache immer so geistreich, lieber Sohn, dass ich mein Vergnügen daran habe. Und dann lerne ich auch dabei — man kann damit so schön imponieren, wenn man gläubige Toren findet.“

Gabriel Kreuz nahm das gar nicht übel auf; er lachte und sagte: „Du bist doch ein Gelegenheitsdieb, wie er im Buche steht.“

Nagel zeigte sich unruhig, denn er wusste nicht recht, was aus den grossen, hellen Augen des andern sprach, die so mutig auf ihn gerichtet waren. Er schnellte gewissermassen empor, im unklaren, ob sein Trick nicht bereits durchschaut sei und dieser unheilbare Idealist ihm die Wirkung der Komödie nicht vorwegnehmen wolle. Aber nein, so blickte keiner drein, der seine Verstellungskunst treiben wollte. Und in diesem Bewusstsein bog er sich wieder zurück und legte dem Worte eine harmlose Bedeutung bei.

„Was heisst Gelegenheitsdieb,“ sagte er pomadig. „Aufpassen, aufpassen heisst die Parole der Gegensünder. Im Kleinen wie im Grossen. Dann würden auch nicht ganze Länder gestohlen werden, was ja nach dem Völkerrecht erlaubt sein soll. Und dein lieber Gott duldet das.“

Gabriel nickte aus Gefälligkeit, während seine Gedanken wieder einen hohen Flug nahmen. „Was den Traumzustand anbetrifft, so habe ich soeben darüber nachgedacht,“ sagte er sinnend, ohne sich durch das eingeworfene „Also doch“ des Freundes beirren zu lassen. „Eigentlich ruht doch nur der Körper und liegt sozusagen in Fesseln, weisst du, der Geist bleibt fortwährend munter und verrichtet auch im Schlafe seine Arbeit. Er beschützt einfach den machtlosen Körper und bewacht ihn so lange, bis der Schlaf wieder geflohen ist. Und nur der Schlaf ist es, der den Eindruck erweckt, als ginge im menschlichen Geiste nichts vor. Der Geist arbeitet aber unaufhörlich, und der beste Beweis dafür sind die Träume. Woraus du also siehst, dass es auch im Denken keinen Stillstand gibt. Ruht überhaupt etwas in der Natur? Schläft der Wald da drüben in der Nacht? Nur die Dunkelheit täuscht uns den Stillstand vor. Denn sonst würden wir sehen, dass alles Leben weitergeht, alles weiter wächst und blüht.“

„Auch der Unsinn,“ warf Nagel brutal ein, „womit ich natürlich nicht deine höchst verständigen und geistreichen Erörterungen meine, sondern vielmehr unsere Bummelei. Denn ist es vielleicht kein Unsinn, dass wir uns über die Zubereitung von Luftklössen und Traumpasteten unterhalten, während uns irgendwo wahrhaftige Leberknödel mit bayrischem Kraut winken? Auf nach Valencia!“

Und um zu beweisen, dass er ein ganzer Kerl sei, sprang er mit einem Ruck auf, streckte die Arme in die Luft und reckte sich, so dass ihm die Glieder knackten und sein Gesicht braunrot wurde.

„Wenigstens habe ich dich endlich dadurch auf die Beine gebracht,“ sagte Kreuz lachend, der sich über derartige Plattheiten nicht mehr aufregte, sie im Gegenteil wie einen notwendigen Bestandteil des andern betrachtete, der zu seiner Natur gehörte wie der Dünger auf dem Felde, der doch nicht verhindern konnte, dass aus dem Korn schmackhaftes Brot wurde. Ein Schelm gab mehr als er konnte, und ein Weiser blieb derselbe, auch wenn man versuchte, ihn lächerlich zu machen. Und weil sich Gabriel Kreuz wieder als Sieger über den Unverstand des andern fühlte, so erhob er sich denn ebenfalls leichtbeschwingt und machte sich zum Weiterwandern bereit.

Steh auf und wandle

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