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4.

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In Oberstdorf, wo sie erst am späten Nachmittage eintrafen, wimmelte es noch von Fremden. Ein soeben eingelaufener Zug, von Immenstadt kommend, hatte eine neue Zufuhr gebracht, zur guten Hälfte Touristen beiderlei Geschlechts, deren verwetterten und versonnten Loden und sonstigem Aufzuge man es ansah, dass sie eigentlich mit Sehnsucht auf die grosse Reinigung in der Heimat warteten. Alle fragten sofort nach der Post, erstens der aufzugebenden Ansichtskarten wegen, die sie zum Teil im Eisenbahnwagen bereits geschrieben hatten und deren Absendung vor Seife und Kaffee ging, und zweitens der lagernden Briefe wegen. Im Nu war die alte Postbude gefüllt, und in der sich drängenden und fragenden Menge befanden sich auch die Freunde, die ihre Sendungen nach hier beordert hatten. Kreuz erwartete einen Brief von seiner Wirtin und Lebenszeichen von ein paar guten Bekannten, worüber er stets offen zu Nagel sprach. Dieser jedoch tat immer etwas geheimnisvoll, sobald er ein Schreiben in Empfang nahm, woraus Gabriel schloss, dass er vielleicht in Berlin eine heimliche Liebe habe, worüber er nicht gern sprechen wolle. In der Tat nahm er auch ein Schreiben mit derselben blautintigen Handschrift in Empfang, die Kreuz nach einem flüchtigen Blick bereits zu kennen glaubte. Und sofort trat der zukünftige grosse Erfinder beiseite und durchschnüffelte den Inhalt mit Behagen. So dünkte es wenigstens Kreuz, der diesmal nur eine Postkarte der Wirtin erhielt, der er rasch entnahm, dass nichts besonderes vorgefallen sei.

„Die Berliner haben natürlich wieder die grösste Schnauze,“ sagte dann Nagel ganz ungeniert, als ein dicker Mann mit einem roten Gesicht, der in seinem billigen Lodenanzug mit Wadenstrümpfen und grünem Kinderhut mit Riesenhahnfeder wie ein zum Alpenfest gehender Gutestubetourist aussah, über die Köpfe einiger Damen hinweg dem bayerischen Schalterbeamten mit seiner Kastratenstimme zurief, er warte hier schon „’ne janze halbe Stunde“. Was denn „det for ’ne Sache“ sei, „det de Leite hier nich von rechts nach links“ heranträten, „wie’s in Berlin schon seit Anno Tobak“ Mode sei. Er war zwar vor einer Minute erst hereingekommen, tat aber so, als hätte er sich schon die Beine abgestanden.

„Steht das in dem Brief?“ fragte Kreuz launig, um zugleich ein wenig auf den Busch zu klopfen.

„I wo, ich meine den Weissbierfalstaff da,“ erwiderte Nagel und brachte den Brief in seiner grossen, stark abgeschabten Brieftasche sorgfältig unter. „Es kann übrigens auch ein Bäckerprotz sein oder ein Bierverleger. Entschieden ist er bisher über den Kreuzberg nicht hinausgekommen, willst du glauben? Der postalische Glatzenonkel lässt ihn ruhig schimpfen, bei sich aber denkt er: Du Saupreiss kannst warten . . . Deshalb gebe ich mich in Bayern auch nie als Preusse aus, sondern als Polack, dieweil nämlich meine Mutter von Polen abstammte.“ Und er gebrauchte auch gleich ein paar polnische Worte, die als Einladung zu einer etwas starken Zumutung auch über Ostdeutschland hinaus Verbreitung gefunden haben.

Als sie aber den Barbier in der Nähe aufsuchten, weil Nagel zuvörderst ein glattes Gesicht haben wollte, hatte er den „Polacken“ bereits vergessen und machte einen Versuch, den Bajuvaren hervorzukehren. „Wann S’ mi a bissel rasieren wollten, nacha kriag’n S’ auch ’n Fünferl mehr,“ sagte er grossartig und liess sich auf einen der drei leeren Lehnstühle nieder. Sofort aber fügte er sächselnd hinzu: „Ei Herrcheses nee, aus Sachsen sind Se ooch?“ Denn der Meister vom Messer, ein spindeldürrer, nicht mehr junger Mann mit wirrem, einst fuchsrot gewesenem, aber stark ergrautem Haarbusch hatte in seiner Begrüssung den Dialekt des Sachsen nicht unterdrücken können.

„Ei freilich, aus Dräsen,“ erwiderte er gemütlich, den Schalk in den beweglichen, rötlich glänzenden Vogelaugen.

„Das dachte ich mir doch gleich,“ sagte Nagel. „Alles, was hervorragt in der edlen Frisierkunst, stammt aus Dresden.“

„Sehr schmeichelhaft, mein Herr,“ dienerte der Meister und schlug dabei schon kräftig den Schaum. Die Herren kommen wohl weit her?“ Er hatte sie sofort als Norddeutsche erkannt, die mit dem Radebrechen anderer Dialekte sich nur einen Jux machen wollten.

„Aus dem Kaukasus,“ log Nagel tapfer darauflos.

„Nu här’n Se mal, das is Sie aber doch ein bisschen sehre weit.“

„Für geniale Leute ist nichts zu weit auf der Welt. Seifen Sie mir bloss nicht die Nase ein vor Aufregung.“

Der Meister trieb sein Geschäft heute allein, denn der Gehilfe war in ein Hotel gerufen, und der Lehrling, genannt Stift, besorgte um diese Zeit, wo es nicht viel zu tun gab, Gepäckträgerdienste auf der Bahn, um erstens den Fremden bestimmte Gasthöfe zu empfehlen, und zweitens die Geschäftskasse seines Herrn und Gebieters auch auf diesem Wege zu füllen. Das alles, mit Ausnahme des letzteren Punktes, vertraute der Verschönerungsrat den Freunden nebenbei an, gewissermassen als Entschuldigung für sein Alleinsein, weil er annahm, dass er auch Kreuz werde bedienen müssen. Dieser vergnügte sich über die Unterhaltung, lachte nur mit, ohne etwas zu sagen, und vertrieb sich dann die Wartezeit, indem er nach den schon sehr zerlesenen Fliegenden Blättern griff, die auf einem Messinghaken an der Wand neben dem schwarzgestrichenen Parfümerieschrank hingen, und dann auf einem Rohrstuhle Platz nahm, der in der Ecke am schmalen Schaufenster stand. Der Laden war nur klein und eng. Wenn der Meister zu neuen Handreichungen in den Hintergrund ging, so übte er gewissermassen eine Tanzkunst aus, indem er sich in Drehungen an den Sesseln vorbeiwand, wobei er fast mehr hüpfte als ging. Niemals aber vergass er, einen Blick in einen der drei Wandspiegel zu werfen, die mit ihren üppigen, erblindeten Goldrahmen den Eindruck machten, als hätte die Gnade eines Fürsten sie hier an die kahle Wand gezaubert.

Als er dann aber das Messer abzog, was er an einem an der Wand hängenden Riemen tat, fragte er pfiffig, während seine wimperlosen Vogelaugen von einem zum andern gingen, wie lange die Herren hier zu bleiben gedächten und ob sie schon Unterkunft gefunden hätten. Es seien diesmal ein bisschen viel Passanten hier und daher die Gasthöfe überfüllt. Im „Bären“ könnten die Herren aber noch Platz finden. Das sei gar nicht so weit von hier, und da sei alles gut: Essen, Trinken, Betten und vor allem gute Bedienung. Saubere und hübsche Mädels aus München. Und preiswert sei es auch.

Nagel, der, die Serviette vor, mit total eingeseiftem Gesicht wie ein Zirkusclown in seiner Garderobe dasass und in dem Spiegel den tragischen Bewegungen des Barbier-Don Quichotes mit Vergnügen folgte, rief sofort laut: „Wo’s Diandl gibt, da gehen wir hin. Juchhe. Nicht wahr, Gabriel?“

Fortwährend dachte er an das Geld in der Tasche und daran, was Kreuz für Augen machen würde, wenn er ihn heute nach seiner Art freihielte. Und war ein ganz besonders hübsches Mädel da, dann wollte er es ebenfalls traktieren und allen Ernstes erwägen, ob man mit ihr nicht anbandeln könne. Denn kein Vergnügen ohne Damen, auch in Oberstdorf nicht.

Der Meister setzte mit gesuchter Eleganz das Messer an und schabte darauf los, dass man das Kratzen auf einer versandeten Mohrrübe zu hören glaubte, denn widerspenstige Klinge und rauhe Bartstoppeln begegneten sich hier zu einem intimen Kampfe. Und weil er das schiefgezogene Gesicht seines Opfers sah, so schaffte er Linderung durch unaufhörliches Schwatzen über Oberstdorf und seine Vorzüge. Unaufgefordert gab er sich ganz als Auskunftsbuch, das die schönsten Seiten von selbst aufschlug. Und dann fragte er nach dem Kaukasus, und ob dort auch ein grosser Fremdenverkehr sei und ob man dort wirklich so viel Bären schiessen könne, wie er gelesen habe.

„Sogar anbinden,“ warf Nagel ein und bat ihn dann, sein Gesicht doch nicht als eine Akazienhecke zu betrachten, an der man nach Belieben herumschnippern könne. Und als der Meister den rechten Ärmel zurückstreifte, als ginge es nun an eine besondere Operation, die Spinnefinger der Linken auf das Gesicht des Duldsamen legte, so dass das Opfer widerstandslos in seiner Gewalt war, und dann vorsichtig mit den kitzligen Strichen über die Kehle begann, da hatte Thomas Nagel einen merkwürdigen Einfall, wie schon öfters, wenn dunkle Vorstellungen von hässlichen Dingen sein Gemüt beschwerten.

„Sagen Sie mal,“ fragte er mit steinerner Ruhe, „haben Sie nie daran gedacht, einem Menschen die Kehle durchzuschneiden, wenn Sie grade diese Partie unterm Messer haben? Das muss doch geradezu Einladen. Ungefähr so, als wenn man durch die harte Rinde plötzlich ins weiche Brot kommt. Die Lösung dieser Frage interessiert mich schon lange. Es gibt doch Dinge, die uns mit Gewalt anziehen, gegen jede Vernunft zu handeln.“

Der Barbier, der nur den wohlfeilen Scherz darin erblickte, schabte ohne jede Erregung ruhig weiter, lachte aber aus Gefälligkeit und meinte, dass er sich schön hüten werde, an so etwas Polizeiwidriges zu denken. Erstens habe er gar keine Zeit dazu, und zweitens sehe er die Hälse gar nicht mehr, sondern nur die Stellen, wo es etwas zu rasieren gebe. Und dann habe er niemals in seinem Leben Mordgedanken gehabt, denn sein Vater sei Schneider gewesen, und davon sei auch etwas auf ihn übergegangen.

Gabriel Kreuz jedoch blickte überrascht auf, beinahe unangenehm berührt; und als er seinen Blick in den Spiegel richtete, begegnete er dort den Augen des Freundes, in denen sich wieder der schwefelgelbe Glanz zeigte. Es war gerade so, als hätte er dabei an ihn gedacht und zu dem andern nur gesprochen. Und als verhielte es sich so, nickte ihm nun Nagel vergnügt zu und sagte: „Wir sind niemals vor unsern schlimmsten Gedanken sicher, — willst du glauben, Gabriel? Das Gehirn des Menschen kann noch so klein sein, der Riese Korpus muss ihm doch gehorchen. Mach’ etwas dagegen.“ Als wäre mit dieser Belehrung die Sache abgetan, liess er sich auch noch die Haare stutzen und sonst schön machen, sächselte zum Vergnügen des Meisters und bereicherte dessen Anekdotenschatz mit der schönen Geschichte von dem redeseligen Vater und dem redeseligen Sohne, die einen Sommerspaziergang von „Dräsen nach Bärne“ machten. Als sie Dresden verlassen hatten, sagte der Vater: „De Gerste steht aber scheene.“ Und als sie in Pirna angelangt waren, ergänzte der Sohn: „Der Haber aber ooch.“

Der Barbier wieherte vor Lachen, soweit man die durch seine Zahnlücken kommenden Zischlaute wiehern nennen durfte, und auch Kreuz verlor durch seine Heiterkeit die nach Unheimlichkeit witternden, schwefelgelben Augen im Spiegelglas aus dem Gesicht.

Der Lehrling kam, ein breitschulteriges Bürschchen mit frischem Bauerngesicht, das, in einem schwarzen Jäckchen steckend, mit seinem pomadisierten Haar fast den Eindruck eines Hotelpikkolos machte. Bei schönem Wetter lief er deswegen auch immer barhäuptig zum Bahnhof, was für die Abzufangenden so nachbarlich einladend aussah.

„Jetzt gehst gleich amal, Xanderl, und führst die Herrschaften in’n „Bären“, schnauzte ihn der Meister mit drohenden Vogelaugen fast an, denn er hatte schon wiederholt nach ihm ausgeschaut und inzwischen die Fremden durch allerlei Redensarten zurückgehalten. Dann dienerte er vor ihnen, nachdem er Kreuz noch eine Schachtel Zigaretten und Nagel ein Stück Seife aufgeschwatzt hatte.

Xanderl, der den historischen Namen Alexander mit in die Wiege bekommen hatte, ohne zu wissen weshalb, plinkerte ein bisschen mit den Augen, als Zeichen, dass er diese Empfehlung zum Vorteile des Meisters zu würdigen wisse.

Barbier Meisel gab seinem Stift noch einen letzten Wink. „Die Herren kommen von weit her, aus de Karpathen, sag’s Herrn Oberbraier extra,“ tuschelte er durch die bekannte Zahnlücke und schubste ihn die zwei Stufen hinunter. (Kaukasus und Karpathen verwechselte er regelmässig.)

Xanderl nickte zwar pfiffig, aber man hätte ihn totschlagen können, bevor er beschworen haben würde, das Richtige verstanden zu haben. Erst als er, den beiden Fremden voranschreitend, sich den roten Kopf darüber zerbrach, wurde es ihm klar, dass die Herren gern „Tomaten“ ässen, und dass er das Herrn Oberbraier, der aus Gründen der Fremdenzufuhr sein besonderer Gönner war, im geheimen anvertrauen solle.

Der Weg bis zum Gasthof war nicht weit, aber doch immerhin lehrreich genug, um zu erfassen, dass Oberstdorf ein Luftkurort mit noch dörfischem Charakter war, in dem das liebe Vieh offen durch die Strassen getrieben wurde und sein natürliches Andenken zurücklassen durfte, ohne dass weder eine Wegereinigung von Amts wegen stattfand, noch die Erholungsgäste zu einer Beschwerde verleitet wurden. Dafür brauchte man auch keine Kurtaxe zu zahlen, keinen wenig helfenden Brunnen zu trinken und keine schlechte Musik zu hören, wie oftmals in ähnlichen kleinen Orten, wo das Idyll durch solche Dinge zu Grabe getragen wurde. Bauern tun bekanntlich nichts umsonst für andere, sie sehen in den Fremden lediglich die Luftschnapper, die ihnen die Wiesen zertreten und einer Kornblume wegen hundert schwere Ähren zum Knicken bringen. Und weil der Bauerngeist noch in der Gemeinde von Oberstdorf herrschte, so war die Parole ausgegeben worden, dass jeder nur vor seiner eigenen Tür kehren solle, was denn auch redlich befolgt wurde. Das alles aber konnte nicht verhindern, dass die Eingeborenen an Fremde vermieteten, soviel sie nur konnten, und aus ihren Dorfbaracken mit der Zeit Logishäuser und Villen machten, mit ganzer und mit halber Pension, manchmal mit elektrischem Lichtanschluss, manchmal auch nicht, jedenfalls aber immer mit der herrlichsten Aussicht auf das Gebirge, natürlich von einer Veranda aus, denn das wurde besonders hervorgehoben. Und führte das Haus dann noch einen schönen Namen, wie etwa „Villa zum Bergfrieden“, obwohl der Wasserfall in unmittelbarer Nähe den Schlaf während der ganzen Nacht störte, oder „Villa Erholung“, obgleich die Dampfsägemühle in der Nähe mit ihrem unaufhörlichen Kreischen und Knirschen zur Verzweiflung aller Nervösen wurde, dann durfte man sich dazu gratulieren, die Tafel mit der Aufschrift „Hier ist noch Logis zu haben“ selten heraushängen zu brauchen.

Die alten Bauern betrachteten zwar die Kurgäste noch immer mit feindlichen Blicken, liessen sich aber doch herab, ihre Ein- und Zweispänner zu Ausflügen herzugeben, natürlich nicht umsonst, sondern gegen die üblichen, anständigen Taxpreise, exklusive Trinkgeld, wodurch sie sogar verführt wurden, die „Saupreissen“ eigenhändig zu fahren, ohne ihr Leben in Gefahr zu bringen. Sie hatten an dem Fremdenzuwachs sogar allmählich so viel Gefallen gefunden, dass sie von ihren Wiesen und Feldern Terrain zur Bebauung abgaben, natürlich nicht aus Freundschaft, sondern gegen das Zehnfache von dem, was sie selbst dafür gezahlt hatten; und was ihre Söhne anbetraf, so hatten sie gar nichts dagegen, wenn diese über das Bauerntum hinauswuchsen und sich als Logierwirte auftaten mit städtischem Gebaren und mit der Neigung, zu feinen Leuten hochdeutsch zu sprechen. Dieweil die Fremden nun einmal Geld brachten, mehr, als ein Gebirgsbauer bei harter Arbeit verdienen konnte. Trotzdem liess man den Kuhmist auf der Dorfstrasse liegen, nicht zuletzt mit der Ausrede, dass die verwöhnten Städter so etwas nicht alle Tage hätten, und dass dieser scharfe Naturgeruch mancher feinen, an Parfüm gewöhnten Nase geradezu ein Labsal sei.

Die Hauptsache aber war und blieb, dass es alle Leute in Oberstdorf herrlich fanden, besonders diejenigen, die zur Erholung gekommen waren und nicht zur Aufmachung ihres Komforts. Denn den konnten sie zu Hause haben. Und so fuhren sie alle mit einem „Auf Wiedersehen“ davon.

Alles das hatten die Freunde aus des Barbiers Anpreisungen herausgehört und fanden es zum Teil bestätigt, als sie auf diesem Gange die ersten flüchtigen Beobachtungen anstellten. Der Grossstädter beobachtet scharf, denn er sieht mit den Augen des Wissenden. Was er bisher aus eigener Anschauung nicht kannte, das hat er bereits aus der Lektüre und aus Bildern geschöpft. Dieser Bildungsapparat, der sich heute über die ganze Welt erstreckt, ist so eindringlich, dass es selbst den einfältigsten Menschen nicht mehr überrascht, wenn er die mächtigen Gletscher, die er aus Abbildungen bereits kennt, plötzlich vor sich auftauchen sieht. Es kann auch das Meer sein, der Urwald oder die Wüste. Der erwartete Eindruck war in den Sinnen bereits vorhanden, und so vollzieht sich der Übergang vom Bilde zur Verkörperung eigentlich wie in einem Wandelpanorama, das allmählich zum Leben heranwächst. Und wenn der moderne Fremde zum ersten Male am Königssee steht und mit Entzücken ausruft: „Wie ein Gemälde!“, so gibt er unbewusst einer in ihm erwachten Empfindung Ausdruck, die seit dem Tage, da er zu Hause den Königssee zum ersten Mal im Bilde sah, in ihm geschlummert hat.

Von diesem Gedankengang bewegt, äusserte Kreuz, dass er sich Oberstdorf so und nicht anders vorgestellt habe, worauf dann Nagel launig erwiderte: „Aber lieber Sohn, wir sind doch hier geboren. Weisst du das nicht mehr?“ Dann, als ihnen drei nicht mehr junge, aber um so energischer dreinschauende Damen mit aufgeschürzten Lodenröcken und langen Gebirgsstöcken entgegenkamen, die grünen Hütlein keck auf die wild hervorquellenden Locken gedrückt, glossierte er: „Berliner Kommunallehrerinnen, oder ich lasse mich hängen. Berlin I. D., janz draussen. Eine neue, von mir entdeckte Himmelsrichtung. Müller-Strasse oder so. Mit dem Stichwort: ‚Blast mir die Männer weg, ich bin aus dem Schneider!‘“

„Und die da?“ fragte Kreuz, der nun bei bester Laune war. „Ist denn heute Sonntag? Die sind ja in Staat.“

Drei Frauenzimmer in bayrischer Gebirgsfesttracht kamen aus einer Seitenstrasse, in Samtmiedern, mit den echtesten Silbermünzen behangen, in seidenen Röcken, fein beschuht und bestrumpft, wohlfrisiert, bunt wie Tuschmodebilder, ganz auf neu geplättet, als kämen sie aus dem Laden. Sie hatten jedoch nicht den wiegenden Gang der Bäuerinnen, obwohl sie gebräunt wie solche aussahen, sondern schritten vornehm und elegant dahin wie auf einer Promenade.

„Das wirst du gleich hören, lieber Sohn,“ sagte Nagel, zog höflich seinen Deckel vor den Dreien und sprach seinen Gruss: „Guten Tag, Frau Kommerzienrat.“ Dabei ging er sorglos ohne Aufenthalt weiter wie ein Frechdachs, der etwas Schlaues begangen hat, die Wirkung aber nicht abwarten will. Und als die Dicke und Älteste, die in der Mitte ging, sich mit freundlichem Lächeln verneigt hatte, hörten sie hinter sich eine von den hübschen Mädchen flöten: „Wer war das, Mama? Jemand aus Berlin?“

Nagel verschluckte ein Lachen. „Siehst du, mein Sohn, da hast du die Salonbayern. Bergfexinnen, wie sie im Buche stehen. Holdrio. Je weniger man hier diese Tracht bei den Eingeborenen sieht, je mehr Theater wird von den Fremden gespielt. Immer, wenn du einen mit Kniehosen siehst, ist er aus Berlin, aus Dresden oder aus Hamburg. Dasselbe ins Weibliche übertragen. Willst du glauben, — nächstens werden wir die echten Tiroler und Bayern nur noch auf den Bildern von Defregger und Grützner sehen. Und es soll mich gar nicht wundern, wenn die Bauern hier eines Tages im Zylinderhut in die Berge kraxeln, um so den nötigen Kulturausgleich zu schaffen. Und das wäre der Humor davon. Ich habe so die Empfindung, als wenn sie sich schon genierten, vor diesen Bildungseuropäern in ihrer Landestracht zu erscheinen.“

Die Sonne stand seit geraumer Zeit schon hinter den Bergen, und so lag das Tal in einer seltsamen blassen Dämmerung, die sich wie der Widerschein des noch hellen Himmels ausnahm. Wundersam war die Luft, kräftig und heilsam, gleich einem tiefgehenden, erquickenden Trank, den man einatmet, statt ihn zu trinken. In den engen Dorfstrassen lag bereits das Dunkel. Es war still und friedlich, so dass man die Menschen schon von ferne sprechen hörte, ehe man sie sah. Und gingen sie vorüber, so glichen sie schwarzen Schatten mit lauten Tritten. Auf dem Marktplatz sassen die Fremden vor dem Gasthof und streckten die Beine lang von sich. Plaudernd stand eine Gruppe beisammen. Ein Hund bellte hinter den Häusern, und aus der Ferne trug der Luftzug das scharfe Reiben eines Wagenrades herüber, das in der Bremse lag.

„Nichts muss teurer bezahlt werden als das, was der liebe Gott geschaffen hat, zum Beispiel die Höhenluft,“ sagte Kreuz. „Ist das nicht ganz verkehrt? Nun fehlt uns nur noch die Luftsteuer, nach tausend Metern Höhe berechnet. Wer am höchsten Luft schnappen will, kommt in die höchste Steuerstufe.“

„Auch nur eine Frage der Zeit, lieber Sohn. Lass nur erst die Vogelmenschen da oben herumfliegen, dann wird auch daraus Kapital geschlagen. Kein Genuss ohne Bezahlung.“

Xanderl, der fortwährend die Ohren spitzte, grinste wieder, und diesmal riss er die blauen Kalbsaugen zu Nagel gross auf. Das Wort „Vogelmensch“ flösste ihm einen ganz gewaltigen Respekt ein, denn der Meister hatte schon von solchem Luftzauber gesprochen; und unwillkürlich blickte er nach dem Himmel, weil auch in seiner Stiftseele der Glaube an solch ein Wunder erwachte. Jedenfalls hatte er wieder etwas gehört, was er weitertragen konnte und womit er den Hausdienern am Bahnhof, wenn sie vor Ankunft der Züge Maulaffen feilhielten, als Klughans erscheinen durfte. Vor schaurigem Schreck liess er dann beinahe den einen Rucksack fallen, als er nun deutlich aus Nagels Munde vernahm, dass dieser schon in zwei Jahren so weit zu sein hoffe, von Berlin nach Oberstdorf zu fliegen und den Leuten „auf die Köpfe zu spucken,“ wenn sie ihn hier während der nächsten Tage nicht gut behandeln würden. Und müsste er sich dann zufällig gerade rasieren lassen, dann würde er bei dem Schaumschläger aus „Dräsen“ herunterkommen, schon weil jedes Vogelgesicht ihn anzöge.

Xanderl schwelgte in heimlicher Wonne. Das war eine Neuigkeit für den Meister! Ohne Puff und Katzenkopf! Dieser Tourist erweckte unbeschreibliche Ehrfurcht in ihm; deshalb wollte er ihn Herrn Oberbraier ganz besonders empfehlen.

Danach folgte er den Herren die Stufen hinauf in den Gasthof zum Bären.

Steh auf und wandle

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