Читать книгу Steh auf und wandle - Max Kretzer - Страница 6

3.

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Die Freunde rafften die Lodenmäntel zusammen und brachten die verschiedenen Dinge, die sie während des Frühstücks den Rucksäcken entnommen hatten, in diesen wieder unter. Schon wollte sich jeder aufs neue mit seinem Pack beladen, als Thomas den grossen Augenblick für gekommen hielt, sich würdig als der Überlegene in Szene zu setzen. Zuerst holte er sich eine frische Zigarre hervor, die er sich an dem noch glühenden Stummel der alten anrauchte, wonach er dann diesen in einem weiten Bogen ins Gras warf. Alsdann tat er ein paar kräftige Züge und fragte, den Glimmstengel im Mundwinkel: „Nun sag’ mal, lieber Sohn, kannst du auch dafür garantieren, dass dich dein Geist ordentlich bewacht hat, während du schliefst? Frag’ mal deinen Korpus.“

Kreuz verstand ihn nicht gleich, denn natürlich glaubte er wieder, dass das eine neue Kritik an seiner Traumphilosophie sein solle. Unwillkürlich blickte er um sich, als könnte er etwas vergessen haben. Dann aber sagte er heiter: „Ach, lass uns gehen.“

„Nein, nein, du — es ist kein Scherz,“ zog ihn Nagel weiter auf. „Mir war’s vorhin so, als machte sich ein Kerl bei dir zu schaffen, der dann über alle Berge ging. Möglich, dass ich nur geträumt habe, — jedenfalls fühle mal in deiner Tasche.“ Und als er dann Kreuz, der ihm wiederum diesen Gefallen tat, schreckensbleich und wortlos vor sich stehen sah, weidete er sich mit Behagen an diesem Anblick und sagte ganz gemütlich: „Siehst du, mein lieber Kronensohn, du hast das Wolkenmänneken da oben so lange beschworen, bis es auf dich heruntergesegelt ist. Und die Folge davon: es hat dich gehörig geplündert. Nun können wir wirklich fechten gehen.“

Breit und massiv stand er da, den spitzen Tirolerhut mit der Hahnfeder wie einen Trichter auf den dicken Kopf gestülpt, unergründliche List in den versteckten Augen, die vor dem aufsteigenden Tabaksqualm in ihre tiefsten Winkel flohen. Sein Mienenspiel blieb unbeweglich, nur die schiefgezogenen Lippen über dem mächtigen Kinn sogen unaufhörlich an der Zigarre.

Gabriel Kreuz, der seine Possen kannte, fasste sich rasch. „Lass doch solchen Unsinn, du jagst mir ja unnütze Schrecken ein,“ sagte er erregt. Und er atmete tief auf, als er seine Vermutung, Nagel habe sich einen schlimmen Scherz mit ihm erlaubt, bestätigt fand. Denn gar zu fürchterlich wäre der Gedanke gewesen, eine ruchlose Hand hätte ihm das in einer Minute geraubt, was Mutterliebe jahrelang für ihn aufgespeichert hatte.

Thomas Nagel holte kaltblütig das Kuvert mit dem Gelde aus seiner Rocktasche, hielt es dem Freunde vor die Nase und sagte mit grausamem Spott: „Siehst du, mein lieber Gabriel, — ich wollte dir nur beweisen, dass all’ deine Philosophie ein Loch hat. Dein Geist hat sich den Teufel darum gekümmert, was inzwischen mit deinem Körper geschah. Obgleich er hübsch munter gewesen sein soll, als du wie ein Toter dalagst. Ich hätte dir auch noch deine Uhr mopsen können und den Siegelring von deinem seligen Alten, — du hättest absolut nichts gemerkt. Denk’ nur! Es heisst zwar sonst immer: der Geist ist willig, der Körper aber schwach, — diesmal aber scheint es umgekehrt der Fall zu sein. Deine Tasche, die doch auch beinahe einen Bestandteil deines Körpers bildet, gab willig alles her, und dein Geist fiel dabei vor Schwäche auf die Nase. Siehst du. Und weil dem so ist und du dich als ein ganz unsicherer Kantonist in punkto Geldaufbewahrung bewiesen hast, so werde ich von nun an die Kasse führen. Denn auf meinen Geist, glaube mir, darf ich mich mehr verlassen. Und das, lieber Sohn, ist die Moral von der Geschichte.“

Und als verstände es sich von selbst, und als duldete er gar keinen Widerspruch, brachte er das dicke Kuvert sorgsam in seiner Tasche unter.

Kreuz riss zwar die meerblauen Augen weit auf, liess ihn aber gewähren, denn schliesslich zeitigte ein Scherz den andern; und nahm er den einen nicht übel, durfte er es beim andern auch nicht tun. Später fand sich schon wieder Zeit, den Ernst hervorzukehren. Im übrigen hatte er nun den Beweis dafür bekommen, wie gut es dieser treue Wandergenosse mit ihm meinte, der sich diesen Witz doch nur erlaubt hatte, um ihn in seiner Weise zu belehren. Und so sagte er denn wie zur Anerkennung: „Ich wusste ja, dass dein Geist um so mehr für mich wachte, also konnte ich ruhig schlafen.“

„Aber wenn ich nun ausgerissen wäre, he!“ quetschte Nagel die Worte hervor.

Kreuz lachte sorglos auf. „Erstens trau’ ich dir das nicht zu, und zweitens hätte es nicht lange bei dir gereicht.“

„Erlaube mal, — mit siebzehntausend Mark lässt sich schon was anfangen. Mancher ist zum Millionär dadurch geworden. Das Geld nur immer haben, wenn man es zur rechten Zeit gebraucht, — das heisst, die Konjunktur auszunutzen.“

„Geld macht nicht glücklich,“ sagte Gabriel mit Überzeugung.

„Aber es macht den Dümmsten gescheit und gibt ihm Ansehen.“

„Und da du immer schon gescheit warst und bei mir in gutem Ansehen stehst, mein lieber Thomas, so scheidest du also bei dieser Frage völlig aus,“ sagte Kreuz bei bester Laune, worauf Nagel vor Verblüffung die Antwort schuldig blieb. „Im übrigen glaube mir: dein Gewissen hätte dich schon wieder zu mir zurückgeführt, wie ich dich kenne.“

„Und du hättest mich wieder mit offenen Armen empfangen, wie?“

„Welche Frage! Der Mensch ist am grössten im Verzeihen, und wer da Reue zeigt, der findet auch den Weg wieder zu sich selbst.“

„Es ist eigentlich niemals an dich herangekommen,“ sagte Nagel ärgerlich.

Das kannst du eigentlich nach dieser Mauserei nicht behaupten,“ legte Kreuz die Worte nach seiner Weise aus, um dem Gespräch eine heitere Wendung zu geben.

Sie waren bereits aufgebrochen und schritten über die blühende Wiese, die den zweiten Schnitt noch trug, dem schmalen Pfade zu, der sich darüber hinschlängelte und zur nächsten Anhöhe führte. Kaum hatten sie den festen Boden unter sich, so blieb Nagel, der voranschritt, wieder stehen und wandte sich fragend zurück: „Sag’ mal, — was verstehst du überhaupt unter Gewissen? Ich bin neugierig, deine Ansicht darüber zu hören. In dir steckt doch immer noch der Gottesmann, auch wenn aus dem Betpult ein Notenpult geworden ist.“ Und mit rotem Kopfe ging er weiter, weil er sich nicht ins Gesicht sehen lassen wollte. Wie alle Menschen, die andauernd auf der Grenze zwischen Gutem und Bösem stehen, ärgerte es ihn, seine wahren Gefühle nicht offenbaren zu können. Denn er hatte Gabriel gern, hatte ihn im Laufe der Jahre liebgewonnen seiner Uneigennützigkeit wegen; er schätzte seinen offenen Charakter, war stets bezwungen von seiner Sanftmut, die immer das gleiche Lächeln der Verzeihung ausstrahlte und allen Wortangriffen mit unendlicher Geduld begegnete. Das aber war es gerade, was Thomas manchmal in heimliche Wut versetzte, weil seine innerliche Raufnatur dadurch nicht befriedigt wurde. Er war der Mann der Tat, ein Lebensbejaher, der den ganzen Kerl sehen wollte und nicht den halben: den kampflustigen Feind, der bis zur Niederlage focht, auch wenn er im Unrecht war. Demut war ihm Schwachheit, nur geschaffen für das Weib, das seiner Ansicht nach die Sklavin des Mannes sein musste.

„Das Gewissen ist die Auferstehung im Menschen, die ihn von Golgatha in den Himmel führt,“ erwiderte Gabriel. „Denn keine grössere Befreiung für uns, als wenn wir nach grossen Seelenqualen bereit sind, die Sühne auf uns zu nehmen. Wir müssen, ob rein oder unrein, ob Verbrecher oder nicht.“

„Hübsch gepredigt, mein Sohn,“ sprach Nagel zurück, ohne seine Schritte zu hemmen. „Aber ich kann dir sagen, dass du damit bei den meisten Leuten kein Glück haben wirst. Denn, willst du glauben: für sie ist das Gewissen nur der schwarze Mann, mit dem man kleine Kinder erschreckt. Ein Gummiball, den man springen lässt und der einem nicht wehe tut, wenn er mal ins Gesicht zurückfällt. Eine Nervenfrage, denn mehr oder weniger hängen doch alle unsere Taten nur mit unseren Nerven zusammen. Starke Nerven scheuen und bereuen nichts, denn sie sind das Blut und Eisen der Weltgeschichte, die Sieger und Schöpfer, die über Leichen gehen. Nur die Schwachnervigen heulen und sehen Gespenster, die natürlich bloss in der Einbildung vorhanden sind. Ergo ist Gewissen nur Einbildung.“

„Die Einbildung schafft aber den Wahn, und der Wahn kann zum Verderben führen.“

Thomas Nagel blieb stehen und sah sich um. „Ja, da hast du recht, darin liegt etwas Wahres. Deshalb darf man sich eben von der Einbildung nicht unterkriegen lassen.“ Und er schritt wieder weiter.

„Des Menschen Wille wird schwach, wenn Gott ihn bricht,“ sagte Kreuz wieder. „Und unser aller Gewissen ist Gott.“

„Ach was!“ rief Nagel nun gereizt aus. „Gott ist nur für die Schwachen da.“

„Aber der Glaube an ihn macht die Schwachen stark,“ erwiderte Kreuz gelassen.

„Dann hättest du deinem Glauben noch eine höhere Potenz zu geben,“ sprach Nagel dickköpfig weiter, ohne seine Gangart einzustellen.

Gabriel Kreuz, der ihn verstand, nahm das gutmütig auf. „Meiner Nachgiebigkeit wegen, wie?“

„Die doch im allgemeinen nur Schwäche ist, lieber Sohn.“

„So legst du es aus als Gewaltmensch,“ erwiderte Kreuz, nun lauter hinter ihm her, weil der andere schon seinen Siebenmeilenschritt nahm. „Ich nenne es Starksein aus innerer Kraft. Widerstrebe nicht dem Übel.“

Thomas Nagel lachte laut in die Landschaft hinein. Dann schrie er, wie zum Hohne, unbändig vor sich hin: „Tolstojaner! Ist ja Quatsch, Philosophie der Mummelgreise, der Impotenten, der ausgebrannten Krater. In ihrer Jugend haben sie sich vielleicht die Füsse mit Sekt gewaschen, und wenn sie alt geworden sind, dann schmieren sie sich den Schädel mit Glaubenssalbe ein. Wie die Dirnen, die nach genossenen Freuden sich als alte Betschachteln zur Ruhe setzen. Nichts leichter, als auf diese Art mit Seelenschmalz hausieren zu gehen und die Dummen zu fangen.“ Und er lachte abermals schallend auf, als wollte er die ganze Welt mit seiner Bärenstimme erschüttern.

„Das hat vor Tolstoj schon ein ganz anderer gesagt,“ wandte Kreuz ein, dem nur die Worte „Widerstrebe nicht dem Übel“ im Sinne lagen. „Und der war wahrhaftig keiner von deiner Sorte.“

Beide sagten eine ganze Weile nichts mehr, denn wieder hatten sie die Empfindung, an der äussersten Grenze ihres inneren Widerspruchs angelangt zu sein. Schon oft hatten sie das Gefühl, dass nur noch ein Wort genügen würde, um die offene Beleidigung ausbrechen zu lassen, und davor scheute sich besonders der abhängige Nagel. Und obwohl er, den Schatz in der Tasche, sich plötzlich als Herr und Gebieter über den anderen fühlte, so wie der blinde Zufall aus dem Nehmenden den Gebenden macht, so lenkte er auch diesmal vorsichtig ein, nicht zuletzt aus Scham, sich wieder als der Niedrige gezeigt zu haben. Denn das fühlte er bei solcher Gelegenheit immer: dass die verborgenen Instinkte wie aus einem blasigen Morast in seiner Seele emporquollen und dann die Erbschaft seines Grossvaters antreten wollten, der als Verbrecher im Zuchthause gestorben war. Und weil er dieses Geheimnis seiner Familie hütete und es durch eigene gleiche Taten nicht entschleiern wollte, so schlug er seine belastete Natur stets in Fesseln, obgleich er in solchen Minuten gedämpften Zornes zu sehr empfand, dass an diesen Fesseln verborgene Mächte ganz frech rüttelten, um sie gegen seinen Willen mit höhnischem Lachen zu zerreissen.

Plötzlich blieb er wieder stehen und gab dem hinter ihm her kommenden Kreuz einen Wink, sich still zu verhalten. Dann blickten beide gespannt über den schroff am Rande hinführenden Pfad auf die Wiese, wo, wenige Meter unter ihnen, auf einem Steine sitzend, ein vereinsamter Hänfling sich abmühte, einen ergatterten Wurm mundgerecht zu machen. Er pickte mit seinem Schnabel darauf los, ohne recht zu wissen, wo er den Anfang machen sollte. Und es war ganz drollig, wie sein Schwanz dabei in die Höhe ging, wie er rechts und links äugte, dem Zappelnden ein wenig Erholung gönnte und dann wieder darauf losschlug. Dann, aufgeschreckt durch die beiden Menschen, nahm er sein Opfer in den Schnabel und flog davon, um die Mahlzeit ungestört zu vollenden.

„Siehst du, da hast du ein Beispiel für meine Theorie,“ sagte Nagel und verweilte noch, um sich eine frische Zigarre anzuzünden. „Kampf ums Dasein, — die Grossen fressen die Kleinen auf.“

„Nichts Neues,“ erwiderte Gabriel heiter.

„Aber wert, immer wieder rekapituliert zu werden. ‚Stirb du, damit ich lebe,‘ sprach der Vogel einfach zum Wurm, und das, siehst du, mein lieber Kreuz, —. das ist die Parole im ganzen Kampfe ums Dasein. Wie bei den Tieren, so auch bei den Menschen. Selbsterhaltungstrieb. Nur mit dem Unterschied, dass die Tiere aus Instinkt handeln und wir mit Bewusstsein. Überlegung, weisst du, ist wohl bei beiden vorhanden. Denn man sah es ja ordentlich, wie dieser Wiesenproletarier erst Übungen vornahm, um das Gleichgewicht im Schnabel zu halten. So etwas interessiert mich ungemein, schon aus Gründen der Flugtechnik.“

Das brauchte er eigentlich nicht mehr zu sagen, denn Gabriel hatte seine Erläuterungen darüber schon bis zum Überdruss gehört. Während der ganzen Wanderschaft, sowie sich Gelegenheit dazu bot, kam Nagel mit seinem Gleichnis zum Vorschein: dass man, um das Problem des fliegenden Menschen zu lösen, den Flug des Vogels studieren müsse, so wie es der bei Berlin verunglückte Lilienthal, der geniale Vorkämpfer auf diesem Wege, zeit seines Lebens getan habe. Und als sie hoch oben in den Alpen waren, an einem Felsengrat, der in schauerlicher Tiefe senkrecht abfiel, und ein Adler über ihnen kreiste, reckte Thomas Nagel so sehr den Hals nach ihm, geriet er mit seiner Erklärung derartig in lebhafte Bewegung, dass er beinahe abgestürzt wäre.

Schweigend gingen sie weiter inmitten finsterer Fichten, deren gekrümmte Wurzelausläufer über den ausgetretenen Fusssteg liefen und natürliche Treppenstufen schufen, die hinaufführten und dann wieder hinunter. Eine Weile schritten sie wie auf schwankendem Grunde, denn dieses ungeheure Wurzellabyrinth trug hier den Erdboden, so dass man den Fuss auf nachgiebigen Gummi zu setzen glaubte. Rechts stieg der Wald hinan und hüllte sich in dämmeriges Dunkel, in dem die graubemoosten Findlinge wie unförmliche Ungeheuer zwischen den schwarzen Stämmen lagen; von links jedoch winkte das lachende Tal mit seinem gleissenden Sonnenschein, der alles in grünes Licht tauchte und das Auge fast blendete. Das Gebirge drüben zog wie ein schmaler blauer Streifen mit, der sich hin und wieder verlor, dann wieder durch die Lichtlucken mächtig anwuchs, bis man plötzlich, wenn die Fernsicht es gestattete, einen blauen Kegel in die Wolken ragen sah.

Diesmal regte sich in Gabriel der Widerspruch, und so fühlte er sich versucht, ein Wortgefecht über die brutalste aller Weltanschauungen zu beginnen. Denn je mehr in seinen Augen der Lebensgigant vor ihm wuchs, der sicher dereinst sein Ziel mit eisernem Beharren erreichen würde, je tiefer bemitleidete er ihn, weil er den Wert des Lebens immer nur auf der Wage der Rücksichtslosigkeit wog. Manch’ guten Zug, den er barg, hätte Gabriel zu gerne aus ihm herausgeholt, und als Kämpfer für das Höchste wollte er nichts unversucht lassen, ihn umzuformen nach dem alten Rezept von Güte und Geduld.

Thomas aber hatte seine schlechte Stunde, wo ihm alles nicht schnell genug ging und er am liebsten die ganze Menschheit massakriert hätte, weil sie seinen Höhenflug noch nicht kannte, ihm keine Millionen zur Erreichung seines Zieles vor die Füsse legte und bisher so wenig Notiz von seiner geliebten Person genommen hatte.

Wie? Was? muckte er gehörig auf. Er habe nicht recht mit seiner Ansicht, obwohl sie der ganzen natürlichen Schöpfungsgeschichte entspreche? Was habe denn Darwin gelehrt, he? Sei der vielleicht ein Dummkopf gewesen? Er habe die Überbibel geschaffen, das wissenschaftliche Abc des gesunden Menschenverstandes, wonach jedes grosse Kind im Buche der Natur lesen lernen könne. Dja! . . . Nun gar erst Haeckel, dieser Finder im unermesslichen Reiche natürlicher Entwicklung. Dieser göttliche Weise auf Erden! Niemand habe reiner aus dem Quell der Wahrheit geschöpft, als er.

„Was ist Wahrheit?“ wagte Kreuz mit abgeklärtem Spotte einzuwenden. „Wo ist sie zu finden? Nicht bei dir und nicht bei mir. Auf alle Fälle ist die Wahrheit ein Begriff, den sich die liebe Menschheit zurechtgemacht hat, um mit Willkür damit umzugehen. Vielleicht, weisst du, ist sie auch nur eine grosse Einbildung, eine Selbstlüge, eine geistige Blindheit, die uns Dinge sehen lässt, die gar nicht vorhanden sind. Wahr allein ist der Glaube, denn er führt ins Grenzenlose, also ins Ewige. Und die Ewigkeit allein steht fest. Also hat auch der Glaube etwas unbedingt Wahres und etwas unbedingt Unerschütterliches. Nach dem Gesetze der Logik sogar.“

Da blieb Nagel mit einem Rucke stehen und wandte sich heftig nach ihm um. „Soll ich dir sagen, was Wahrheit ist?“ Dann höre es, du unverbesserlicher Erdensohn, Säulenheiliger und Rückständiger. Wahrheit ist, meinen neuesten Forschungen nach (er lachte über diesen Witz), dass die erbitterte Menge dem gekreuzigten Christus nicht den bekannten Hohn: „Bist Du Gottes Sohn, so hilf Dir selber“ ins Antlitz schleuderte, sondern dass sie ihm vielmehr einfach hundertstimmig das soziale Vernichtungswort zurief: „Stirb Du, damit ich lebe!“ Denn es wäre ja nicht auszudenken, wenn die allgemeine Menschenverbrüderung damals schon den berechtigten Egoismus des Einzelnen unterbunden hätte. Denn siehst du, mein lieber Sohn, es gibt keinen grösseren Feind des Ichs mit seinem eigenen Sinn, als die Verallgemeinerung mit tausend Köpfen, die immer nur Verwirrung anrichtet. Ich bin ich und weiss, was ich will, die Menge jedoch weiss nie, was sie will. Glaube mir. Mein Ziel führt geradeaus, das Ziel der Menge aber geht nach allen Himmelsrichtungen. Dja. Zwei Beine sind persönlich. Tausend Beine jedoch sind höchst unpersönlich, — sie folgen höchstens dem Drill. Und der Drill ist Maschine, ein aufgesetzter Kopf mit eingesetzten Gedanken. Mit einem Worte: der mit Gas gefüllte Luftballon, der sich treiben lässt. Der fliegende Mensch aber, oder wie man die lebende Luftbalance später mal nennen mag, — der, siehst du, ist rein persönlich. Ist Herr der Lüfte über sein Leben und seinen Tod, untersteht meinetwegen auch ungeschriebenen Gesetzen. Und deshalb will ich mein liebes Ich anmassungsvoll aus Persönlichkeitsgefühl dem Himmel entgegen tragen und meine Seele meinetwegen dem Teufel verschreiben, wenn meine Berechnungen nicht stimmen sollten. Der Wille ist da, und Wille, verstehst du, ist ungehobene Kraft. Heben wir also die Kraft. Wie es der kleine Vogel vorhin bewiesen hat, der trotz der Schnabelladung von seinen Flügeln getragen wurde. Ein winziges Beispiel nur, aber eine elementare Grundlage zur Berechnung des Verhältnisses der Schwere von Körper und Luft . . . Nun sei so gut und gib mir etwas Feuer, denn ich habe meine sämtlichen Streichhölzer aufgefressen. Wenn ich dich belehren muss, geht mir jedesmal die Zigarre aus.“

Kreuz hatte schon das Wort Profanation auf den Lippen, als ihn die tändelnde Art des andern, mit den tiefsten Fragen dieser Welt gleichsam zu jonglieren, wieder mitfortriss und besänftigte. Und so erfüllte er ihm den Wunsch, indem er das alte Steinfeuerzeug, das er noch von seinem Vater geerbt hatte, aus der Tasche holte, den Zunder zum Glühen brachte und ihm hinhielt. Und was er dabei sagte, war nur: „Ich kann dir nur deine eigenen Worte zurückgeben: Es ist nicht an dich heranzukommen.“

Nagel, die Zigarre, wie gewöhnlich, mehr zwischen den Lippen haltend als mit den Zähnen, sog mühselig den Rauch ein, bevor er den nötigen Dampf weghatte, wobei er nochmals den Zunder anblies. Die schweren Lider wölbten sich kugelrund über die Augen, so dass sich gleichsam die ganze Offenheit des Menschen unter ihnen verkroch. Unter diesem nach unten gerichteten Blick brütete gewöhnlich ein verschleierter Gedanke, der die Worte nur als Schild gebrauchte.

„Ich bin doch eigentlich ein Kerl, der in die Welt passt, wie?“ sagte er dabei unentwegt, die Zigarre nun schon im Mundwinkel. „Du natürlich auch,“ ergänzte er seine Meinung, wobei die Augenritze sich etwas erweiterte. Es war aber nur eine Anstandsformel, denn eigentlich meinte er nur sich selbst.

„Sehr gnädig von dir, aber es hätte auch wegbleiben können,“ gab Kreuz mit einer gemachten Verbeugung zurück. „Denn eigentlich passe ich ganz und gar nicht in diese Welt der ewigen Missverständnisse.“

„Na siehst du, — das wollte ich eigentlich auch sagen. Nimm es mir nicht übel, aber in mancher Beziehung bist du rückständig wie dein Feuerzeug. Ebenso umständlich natürlich. Man muss dich immer erst gehörig anblasen, um das Feuer der Zeit aus dir herauszuschlagen. Du weisst, dass ich darin komisch bin: beim ärgsten Föhn ist mir das zehnte brennende Streichholz lieber, das unter dem Loden endlich Feuer fängt, als dieser Zunder-Quark. . . . Du, ist das übrigens Silber?“

Er wog das schwere Feuerzeug in der Hand, wonach denn Gabriel Kreuz der Versuchung nicht widerstehen konnte, es sich mit einem raschen Griff wieder anzueignen; denn schliesslich hätte dieses wertvolle Andenken auch den Weg des Geldes nehmen können, vorläufig wenigstens. Es hatte ihm, trotz der Schmähung des andern, schon so manchen guten Dienst auf der Wanderschaft, besonders bei nassem Wetter, getan, dass er hoffte, diesem Nieversagen auch in Zukunft dankbar sein zu können.

Dann wusste er gar nicht, wie es geschah, dass er von kaltem Schauer erfasst wurde, als Thomas ganz unvermittelt sagte: „Hier könnte doch einer abgemurkst werden, ohne dass ein Hahn danach krähte.“

Sie waren in eine Waldmulde geraten, der die breiten Kronen der Kiefern das Licht des Himmels nahmen. Wetterschwarz türmten sich die Stämme zur Höhe hinauf und umlagerten gespensterhaft den Hohlweg, der in seinem geheimnisvollen Dunkel den Wanderer jenseits weiterführte. Es war die Nacht am Tage, die im öden Gebirgswald lagert und durch ihr Schweigen auf die aufgescheuchten Nerven des Einsamen doppelt schrecklich wirkt. Alles Tote belebt sich: Bäume und Felsen nehmen Gestalt an, versteckte Ungeheuer brüten einen heimlichen Überfall, blasse Geistergesichter mit grossen, drohenden Augen lugen um die schwarzen Stämme herum, flüsternde Stimmen, die sich beraten, dringen an das Ohr des Furchtsamen, und der Schall seiner eigenen Schritte wird zum Geräusch der Verfolger, die hinter ihm her sind und allmählich zu einer Armee anwachsen, die von allen Seiten aus dem Walde herausbricht, um ihr Mordwerk zu verrichten.

Nun war Gabriel Kreuz keiner von diesen Ängstlichen, und wenn er allein gewandert wäre, so würden ihm, wie immer, der frohe Mut und sein Lied der beste Begleiter gewesen sein. Jetzt aber, nach den Worten des Genossen, die so stahlhart durch die Stille klangen, eindringlich wie eine Warnung, floh ihn die Ruhe, er wusste kaum, weshalb. Vielleicht floh sie nur wie ein aufgescheuchter Vogel, der sich bald wieder mit Behaglichkeit niederlässt; aber sie schwirrte doch davon. Er fühlte es am Zittern seiner Glieder, verursacht durch die Schwächeanwandlung, die vom Herzen ausging. Eigentlich vom Blick des Freundes, der so seltsam auf ihm ruhte, mit einem Ausdruck, anders wie sonst: vielleicht nur fragend, forschend, tief ergründend, jedenfalls aber mit dem Erwägen eines Fremden, der plötzlich drohend aus der Erde auftaucht. So stand Thomas Nagel eine Minute lang vor ihm: blass, entgeistert, die Lippen über die Zigarre fest zusammengepresst, schwefelgelben Schimmer in den Augen, den Stock mit festem Griff umschlossen. Er stand da wie jemand, der mit einer Tat ringt, die er nicht begehen möchte. Gewalt in ihm kämpfte mit Gewalt, die Besonnenheit schlug die Gelegenheit tot, und der bequeme Gleichmut wurde alsdann zum Triumphator.

„Meinst du nicht auch, he? Manchmal überkommen mich solche Gedanken. Es ist der Ort, der sie gebiert.“ Das letztere rief er mit Pathos, wie einen Jambus, laut in den Wald hinein, während er schon weiterschritt, dem Freunde wieder voran. Und einmal im Zuge, begann er mit seiner unreinen Stimme laut zu singen: „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben . . .“

Der unselige Spuk war vorüber, das Grauen floh in die Weite. Gabriel Kreuz fühlte es, aber er fühlte es wie ein Mensch, der einen Betäubungsanfall überwunden hat. Zugleich schämte er sich seiner, jedoch wiederum ohne Grund; nannte sich einen Narren, einen Verwirrten, der an Halluzination gelitten habe, und schliesslich einen Unwürdigen, der ein Pfui verdiene. Und als die helle, sonnendurchtränkte Landschaft vor seinen Blicken wieder auftauchte und der unverwüstliche Lebensbejaher vor ihm sie laut begrüsste, wäre er geneigt gewesen, ihm laut Abbitte zu leisten für unsinnige Gedanken.

Steh auf und wandle

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