Читать книгу Steh auf und wandle - Max Kretzer - Страница 8
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ОглавлениеDie beiden Freunde hatten Glück, denn sie bekamen noch zwei kleine Zimmer mit je einem Bett in der „Dependance“, wie Herr Oberbraier, ein vierschrötiger, beleibter Mann mit einem echten Münchener Biergesicht, fachmännisch den niedrigen, verwitterten Anbau zu nennen beliebte, um ihm durch das Französische ein hotelartiges Ansehen zu geben. Sein Antlitz glich einem rot aufgegangenen Vollmond, dem ein Karikaturist einen üppigen Mikosch-Schnauzbart mit herabfallenden Spitzen um die Oberlippe gehängt hat; seine Kleidung war blitzblank und sauber, immer sonntäglich, und riesige Wildschweinhauer an der dicken, goldenen Uhrkette und goldgefasste Hirschhaken in der Krawatte sprachen dafür, dass er Trophäensammlungen sehr liebe. Nagel redete er sofort mit „Herr Enkschöniär“ an, weil Xanderl ihm gleich zugeflüstert hatte: „Dös is oaner, der sich Vogelmensch nennt. Schaug’n S’ nur zu, dass ’r net wegfliegt.“ Danach hatte dann Herr Oberbraier sofort das Richtige erfasst und in ihm einen Erfinder gesehen, der eine Flugmaschine schaffen wolle, worüber die Zeitungen jetzt soviel berichteten. Und alle Erfinder waren für ihn Ingenieure. Gabriel Kreuz dagegen stempelte er zum „Dokter“, denn er sprach so klug und gemessen und zeigte überdies mehr Würde als der andere, der ohne Zweifel etwas von einem Hallodri hatte. Für einen derartigen Typ hatte Herr Oberbraier sofort den richtigen Blick, denn nicht umsonst war er zwanzig Jahre lang Gastwirt.
Kreuz war diese Logisabsonderung durchaus angenehm, denn er schlief nicht gern mit einem anderen in einem Zimmer, sei es auch ein guter Freund. So hatte er es auf der Wanderschaft nach Möglichkeit immer gehalten, falls die Nachtlagerverhältnisse es nicht anders wollten.
Nagel erklärte das für zimperlich und verschroben, wenn nicht gar für unmännlich, Kreuz aber fühlte sich dadurch nicht getroffen, denn wie stets hatte er seine eigene Auffassung. Auch in dieser Beziehung haftete ihm etwas Keusches, Mädchenhaftes an, das die letzte Ursache im Schamgefühl sieht. Ausserdem gehörte er zu den Menschen, die den gesunden Schlaf nur finden, wenn sie allein sind.
Diesmal hatte auch Nagel gegen derartige unnötige Kosten nichts einzuwenden, was mit dem Reichtum in seiner Tasche zusammenhing. Er hatte das behagliche Gefühl, die Kasse zu besitzen, und war nun der Meinung, dass der Schatz bedeutend sicherer sei, wenn er ihn im eigenen Zimmer habe.
Als dann beide, nachdem sie sich gesäubert und erscheinungsfähig gemacht hatten, gemeinsam hinunter in die Gastwirtschaft gingen, um die nötige Magenstärkung vorzunehmen, trat das Merkwürdige ein, dass nun Kreuz die bekannte Frage an den Freund richten musste: „Du, hast du das Geld noch?“, worauf dann Nagel so ohne jede Bedeutung erwiderte: „Keine Sorge, lieber Sohn. Willst du mich vielleicht anpumpen? Es gibt nichts.“
Kreuz hatte bestimmt geglaubt, er werde nach dieser Anspielung sein Vermögen zurückerhalten; nun lachte er aber doch über die Dickköpfigkeit des anderen und vertröstete sich auf die nächste Gelegenheit, um seinen Wunsch offen auszusprechen. Denn inzwischen hatte er sich alles wohl überlegt. Das Geld konnte durch irgend einen unglücklichen Umstand verloren gehen, und dann hätte er es unverantwortlich nennen müssen, das kleine Kapital, das ihm die Sorgen nehmen sollte, so leichtfertig in anderen Händen gelassen zu haben.
Mit diesem Gedanken war er unten im Speisesaal angelangt, als etwas Unerwartetes einen Umschwung seiner Gefühle brachte und zwar durch einen Jubelruf Nagels. „Herrjeh, die Resi!“
Sie war es wirklich, die hübsche, brünette Resi, die ihnen vor ein paar Wochen in München den schäumenden Masskrug gebracht hatte und nun hierher als bedienende Hebe in die Sommerfrische gegangen war, um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, d. h. frische Höhenluft zu schnappen und einen Spargroschen beiseite zu legen, wovon sie auch schon in München gesprochen hatte. Schmuck und sauber, die weisse Bedienungsschürze vor dem um Taille und Büste tadellos sitzenden schwarzen Kleide, modern frisiert, die nun aufgesundeten Wangen durchschossen von Blutfülle, einen neuen Schuss Frohsinn in den leuchtenden Augen, die vollen roten Lippen gerade so weit geöffnet, dass man die kernigen Zähne blitzen sah, kam sie näher, nachdem ihr zuvor ein atembeklemmender Ruck durch den Körper gegangen war. Dieses Näherkommen war kein Schweben, sondern ein festes Auftreten, wodurch sie sich immer schon ausgezeichnet hatte, zu ihrem Kummer, denn ihre Verehrer nannten sie ihrer schlanken Taille wegen „Sylphide“. Und eine Sylphide sollte eigentlich immer etwas Schwebendes haben. Aber die Resi hatte nicht nur etwas zu gross geratene Hände, sondern auch dito Füsse. Daher ihr festes Auftreten, nicht bloss mit dem Munde. Und diesen hatte sie auf dem richtigen Fleck.
„Na, da sind S’ ja scho wieder bei mir. Guten Tag. Wo kommen S’ denn her?“ Und als sie es erfahren hatte: „So weit? O mei. Na, da werden S’ grad’ müd’ genug sein, Härr Inscheniör. Und Sie auch, Härr Dokter.“
In München hatte sie nie so recht gewusst, was sie aus den beiden Herren machen sollte. Nun aber hatte ihr Oberbraier schon den nötigen Wink gegeben, bevor er sie hineinschickte.
Rasch war der Dreibund wieder geschlossen, und da es noch still im Lokal war, so hatte man Gelegenheit, sich gründlich auszuplaudern. Herr Oberbraier näherte sich dann in der schweren, etwas breitbeinigen Gangart des Matrosen, der auf sturmbewegtem Deck schreitet. Aber der Sturm schien bei ihm mehr aus dem Innern zu kommen, als von aussen. Denn Herr Oberbraier machte immer den Eindruck, als hätte er gut gefrühstückt: morgens, mittags, abends und in der Nacht. Auch in den dazwischen liegenden Pausen vertilgte er gern ein belegtes Brötchen mit einem Schnitt Portwein. Er behauptete, man könne sein Leben nur verlängern, wenn man wenig, aber recht oft esse. Und das nannte er dann „frühstücken“. Und so bestand sein ganzes Dasein aus einem ewigen Frühstücken, falls er natürlich nicht schlief. Und er behauptete, wie ein Murmeltier zu schlafen. Manchmal, besonders des Abends, schlief er hinter dem Büffet, auch im Stehen, zeigte somit eine Eigenschaft, die im Gastwirtsgewerbe häufig vorkommen soll.
„Wann S’ ganz frische Tomaten haben wollen, die sind da, auch Ochsenfleisch mit Tomatensauce,“ begann er mit Nachdruck, schüttelte aber dann den Kopf, als er hörte, dass man Tomaten nicht liebe. Verwunderung sprach aus seinen kleinen, geröteten Augen. Er wollte doch Xanderl ganz gehörig an den Ohrlappen ziehen, weil er ihm zu diesem Hereinfall verholfen hatte.
Die Arbeit des Magenstärkens machte die Freunde schweigsam, worin gerade Nagel Bedeutsames leistete, weil sein Appetit sich heute in aufsteigender Linie bewegte, wie sonst seine Flugideen. Und als auch die Resi für ihn nicht mehr zu haben war, weil sich das Lokal nach und nach mit Abendgästen, zum Teil mit Familien, füllte, die sie bedienen musste, so schlug er noch einen Bummel durch den Ort vor, womit Kreuz einverstanden war.
Die Strassen hinter dem Gasthof waren dunkel. Nur auf dem Fahrweg, der hinein in die Berge führte, hing, weit hinten, ein elektrisches Licht, das die paar Menschen, die dort auftauchten, eine halbe Minute lang taghell beleuchtete, bevor der Häuserschatten sie verschlang. Der Himmel wölbte sich beinahe schwarz, so dass man die wenigen Sterne suchen musste. Weiter hinein, dem Marktplatz zu, war mehr Licht und Leben. Die Freunde gingen in ein Papiergeschäft und kauften sich Ansichtspostkarten, dazu die nötigen Briefmarken. Alsdann behauptete Nagel, einen neuen Gebirgshut haben zu müssen, denn der alte Deckel sei ihm schon zu schäbig; auch einen neuen, besseren Wanderstock wollte er sich zulegen. Als sie zum Gasthof gingen, waren sie an einem Ausrüstungsladen vorbeigekommen, den sie nun glücklich fanden. Thomas suchte sich einen sehr schönen und teuren Tirolerhut aus, dazu einen fein polierten Stock aus seltenem Holz. Auch ein hübsches Portemonnaie wählte er sich, weil es ihm gerade gefiel. „Du, Gabriel, sei doch so gut und lege aus bis morgen, ich möchte nicht gern wechseln,“ sagte er dann in einer Weise, die keinen Widerspruch duldete. Kreuz sah darin nur einen Witz, durch den ihm angedeutet werden sollte, dass der Schatz in der fremden Tasche nur ihm gehöre, dass es aber nichts schaden könne, wenn man einmal den Grossen spiele. Und so bezahlte er mit einem Goldstück, obwohl er sich sagte, dass der Reisegenosse seine Ansprüche etwas niedriger hätte schrauben können. Nachdem sich Nagel im nächsten Geschäft noch die nötigen Zigarren zugelegt hatte, gingen sie in das kleine Café nebenan, um Berliner Zeitungen zu lesen, die sie seit einer Woche nicht zu Gesicht bekommen hatten.
Sie kamen sich merkwürdig munter vor, aber es war die Übermunterung nach einem langen Marsche, der die Glieder zwar matt gemacht, die Nerven aber aufgepeitscht hat, so dass die Gehirntätigkeit besonders erhöht erscheint. Der Körper ist abgestumpft, aber das Denken wird unheimlich lebendig und sucht nach Ausdruck in regen Worten. Und besonders war es Nagel, der selbst beim Lesen den Mund nicht halten konnte, weil er bei der Mahlzeit tapfer dem Rheinwein zugesprochen hatte, wogegen Kreuz als Mässigkeitsapostel mit einem Glase voll schon zufrieden gewesen war. Nicht dass er einen guten Trunk verschmäht hätte, — auf der Wanderschaft hielt er es jedoch für besser, sich des Alkoholgenusses so viel wie möglich zu enthalten. Nagel fand einen Artikel über neue Flugversuche in Amerika, den er, die qualmende Zigarre im Mundwinkel, zuerst schweigend verschlang, dann aber dem Freunde bruchstückweise halblaut vorlas. Schliesslich begann er wie ein Buch zu reden, ganz verwandelt, wie immer, wenn er völlig in seiner Idee aufging. Und so, von der Begeisterung getragen, machte er beinahe einen schönen Eindruck, nahm seine verquollene Stimme besseren Klang an, leuchteten seine verwaschenen Augen in dunklem Glanze, der nichts mehr von der gelbschimmernden Bosheit trug, die manchmal am Tage, wenn der andere in ihm aus ihnen sprach, das vernichtende Sprühlicht auf den Gegner sandte. Wenn man sagt, dass aus den Augen des Menschen die Seele spreche, so musste die Seele Nagels jedenfalls, seiner Augensprache nach zu urteilen, in sehr verschiedenen Farben schillern: gleich einem Regenbogen, der sich von gut zu böse wölbt. Es war das ewige Ringen aus dunklen Tiefen zu lichten Höhen, vom Schlechten zum Besseren, ohne dass er selbst wusste, wie dieser Kampf enden würde.
Er holte Papier und Bleistift aus seiner Brieftasche und begann ein Fluggestell zu zeichnen, das einem riesigen Vogel mit ausgespannten Flügeln glich, aber dem eines hohlen Vogels, der unten im Bauche eine grosse Öffnung zeigt. Wo die Fänge des Vogels seien, müsse der Mensch sitzen, dessen Schwere sozusagen das Körpergewicht des Vogels ersetzen solle, meinte er. Denn auf diese Berechnung komme es ganz besonders an. Der Vogel halte sich in der Luft durch seine Blut- und Körperwärme; man müsse sich also den warmen Körper des Menschen quasi als Ersatz des fehlenden Vogelbauches denken. Trage erst die Luft das ganze Gestell, dann werde es sich nur noch um die künstliche Bewegung, um das Steuern und um die Flugkraft handeln. Und zur Lösung dieses Problems hoffe er auch noch zu kommen. Er werde, wenn er wieder in Berlin sei, sich für seine Idee einen Geldmann suchen, sich irgendwo in einsamer Gegend einen Schuppen mieten und fest darauflos bauen. Dja . . . Und wenn er einen reichen Juden totschlagen müsste, um durchzukommen, er würde nicht eher ruhen, bis er als Luftkönig über der Menge schwebe. Denn diesen Namen wolle er sich verdienen, um angestaunt und bewundert zu werden von dem kribbelnden Ameisenhaufen da unten, den man Menschheit nenne.
„Und dann, siehst du, mein lieber Gabriel, bin ich eher oben bei deinem Wolkengott, als du.“ Mit einer Handbewegung winkte er ab: „Ich weiss schon, was du wieder sagen willst: er sei dir doch näher als mir, wenn du auch unten bliebest.“
„Ich nehme es an, Thomas. Um Gott zu suchen, braucht man keine Reise zu machen. Wer ihn nicht in sich trägt, wird ihn niemals finden.“
„Meinetwegen,“ wehrte sich Nagel ganz freundlich. „Dann fliege ich als Atheist. Sicher ist jedenfalls, lieber Sohn, — ich werde mehr Mut zeigen, als du, wenn ich mich aufmache, ihm zu begegnen. Und sieht er mich dann zornig an, wie du meinst, dann, glaube mir, will ich nicht zittern und nicht wanken, sondern seinen Blick ertragen. Der Menschengeist soll ihm eben Respekt einflössen, dieweil doch dieser Menschengeist nun einmal allein die Welt beherrscht. Basta. Merk’ es dir.“
„Hübsch gesagt, aber ich will es mir merken,“ erwiderte Kreuz. „Heute ist der achte August. Denk’ an diesen Tag.“
„Was sind mir Tage, wo ich für Aeonen schaffe,“ quetschte Nagel unter seiner Zigarre hervor, die ihm nun beinahe schon wieder lieber war als alles andere. Wie das Quecksilber in einem Thermometer stieg und sank seine Stimmung, je nachdem die reinen Gedanken von den unreinen verdrängt wurden. Der Einfall kam ihm, ob er nicht Kreuz darum angehen solle, sein Kapital zur Erreichung seines Zieles bei ihm anzulegen, natürlich gegen gute Verzinsung. Dann brauchte er es ihm erst gar nicht wiederzugeben: das wäre die einfachste Lösung des Gewissenskonfliktes, in dem er sich befand. Denn hielt er Heerschau über seine Gedanken, so entdeckte er einen sehr schwarzen, der die Überrumpelung des Schlafenden heute vormittag zum Ausgangspunkt eines überlegten, durchaus ernsten Spieles genommen hatte, das den Scherz nur als Maske trug. Nun war er aber doch zu feige, den Freund offen zu diesem Opfer herauszufordern, das ihm, es muss zu seinen Gunsten gesagt werden, eine grosse Last von der Seele genommen hätte. Und so wollte er lieber warten, bis Kreuz ihm auf halbem Wege entgegenkäme, bis er sagen würde: Nimm es hin und behalte es, ich glaube an dich. Als er aber sah, dass auch seine wiederholte Anspielung nicht verstanden wurde, würgte er zwar seinen Ärger hinunter, nahm sich aber doch vor, den Versuch immer wieder zu erneuern. Denn wer nicht wagte, der nicht gewann.
Und diese Gelegenheit fand sich noch am selben Abend, als sie die letzten Gäste im Restaurationszimmer des Gasthofs waren. Nur im kleinen Garten sassen noch ein paar Spätlinge, die, in ihre Lodenmäntel gehüllt, der Abendkühle trotzten. Denn irgendwo musste es gewittert haben: schwarze Regenwolken trieben am Himmel, und der plötzliche Wetterumschlag brachte die feuchten Schauer von den Bergen. Und da sass es sich behaglicher in der Wirtshausecke, weil Nagel behauptete, noch nicht schlafen zu können, und weil Oberbraier meinte, es werde sich noch etwas „entladen“.
Als Kreuz noch einmal seine Stube aufgesucht hatte und nun zurückkehrte, sah er eine Flasche Sekt auf dem Tisch, die der Freund inzwischen bestellt hatte. Und die Resi stand dabei, hielt gerade einen Kelch, den sie noch einmal geputzt hatte, gegen das Licht und rief ihm fröhlich zu: „Na, was sagen S’ dazu, — Schampus will er noch trinken. Ja, schaug’n S’ nur her. Und i soll auch a Glas abbekommen. Na, machen S’ doch net so’n bös’ Gesicht, schaug’n S’ net drein, als wenn S’ mi glei vergiften wollten. Und wenn S’ auch schon bezahlen müssen, ’s is doch nu mal Ihr Fremd. Und so jung kommen wir net mehr z’sammen.“
„Oho, oho,“ wehrte sich Nagel gegen die ihm deutlich gemachte Abhängigkeit. Die Resi aber sagte einfach: „Beruhig’n S’ nur erst den Dokter und sagen S’ ihm, dass i net animiert hab’. Sonst frisst er mi amend glei.“
Damit rauschte sie davon, weil sie vom Garten aus gerufen wurde. Obwohl sie sich befleissigte, zu den Gästen sonst Hochdeutsch zu sprechen, soweit es sich mit ihrem Dialektrückfall vertrug, liess sie sich den Freunden gegenüber durchaus gehn, weil Nagel sie durch den Versuch seines Münchnerisch dazu herausgefordert hatte, wie schon vor Wochen. In München hatte sie immer nur gesehen, dass Kreuz für den Freund bezahlte, und so dachte sie sich nicht viel bei ihrer Redensart. Kreuzens gute Laune war allerdings plötzlich gewichen, so dass er ihr sein finsterstes Gesicht gezeigt haben mochte. Da nun aber an Nagels Leichtsinn nichts mehr zu ändern war, so wollte er sich mit verschlucktem Ärger in das Unabänderliche fügen, denn einmal war ja bekanntlich keinmal. Nagel erstickte auch sofort jeden Vorwurf, indem er meinte, dass er ebenfalls mal der Spendierende sein möchte, schon seines Ansehens wegen. Er sagte es so in der Art des Besitzenden, dem das Geld die Überlegenheit gibt. Und Kreuz, nachsichtig wie immer, wollte ihm die Freude heute gönnen.
Nun war es draussen auch still geworden, und so kam zuerst die Resi und dann Herr Oberbraier, dieser noch kauend, denn er hatte soeben erst wieder „gefrühstückt“. Er sprach nicht viel, denn der bewegt gewesene Tagesbetrieb hatte ihn maulfaul und müde gemacht. Um aber wieder munter zu werden, trank er den Sekt wie Wasser, was er erstens aus Geschäftsrücksichten tat, und zweitens aus Gefälligkeit gegen die Gäste, denn wer ihn einlud, wollte doch auch geehrt sein. So war die erste Flasche bald leer, und die zweite musste folgen, so mit der Notwendigkeit eines schönen Übels, das das andere gebiert. Mitgefangen, mitgehangen, dachte Kreuz und liess sich schliesslich von der Sektstimmung mit fortreissen, was ihm dann auch gar nicht schwer wurde, denn im Grunde genommen war er eine gesunde Natur.
Herr Oberbraier blieb unerschütterlich. Wie ein Felsblock sass er da, dessen Lage nicht verändert werden kann, wenn auch seine Runen statt des Regens einmal vom Champagner ausgewaschen werden.
Die Resi jedoch hatte schon einen kleinen Spitz weg, zeigte glühende Wangen und ganz verliebte Augen und zwar nach der Richtung auf Gabriel Kreuz zu, dessen höfliches Wesen ihr schon in München gefallen und den sie in Gedanken für einen schönen Mann erklärt hatte. Zwar erschien er ihr zu sanft und zu zurückhaltend, was sie an den Männern, die sie herausfordern wollte, nicht gerade liebte, aber sein Gottesglaube und seine edlen Ansichten, von denen sie in München während der Unterhaltung der beiden so manches aufgefangen hatte, sprachen ihr in die Seele, denn die Resi neigte als gute Katholikin zur Frömmigkeit, obwohl sie ihre sechs Mass Bier gut vertragen konnte und auch noch mehr, wenn es darauf angekommen wäre. Und was sie an Sekt vertilgen konnte, das vermochte nur der Münchener Fasching zu erzählen, wenn die „Hetz“ den Menschen wieder einmal die Besinnung nahm. Das brachte eben das Geschäft und die Liebe mit sich. Im übrigen hatte Kreuz auch das grosse Portemonnaie, und so etwas reizt die Weiber immer. Und wenn es Sekt gab, so musste auch das Trinkgeld danach sein, so kalkulierte die Resi. Und deshalb rückte sie noch näher an Kreuz heran, obgleich das sonst nicht geduldet wurde. Denn die süddeutschen Kellnerinnen sind nur dazu da, um mit dem Masskrug oder sonst etwas immer unterwegs zu sein und mit den Gästen höchstens im Stehen einmal zu plaudern. Heute aber war man unter sich. Überdies rollte verhaltener Donner draussen, und der Regen schlug schon gegen die Scheiben. Da blieben die Oberstdorfer hübsch daheim, und wer unterwegs war, strebte nach Hause. „O mei,“ rief die Resi aus, „seien S’ froh, dass S’ nich mehr unterwegs sind. Uns’ lieber Härrgott brummt wieder mal gewaltig.“
„Dees g’schieht bloss, weil d’ zuviel g’sündigt hast,“ sagte Nagel, ein wenig ärgerlich darüber, dass sie Kreuz so auffallend bevorzugte.
Die Resi drehte ihr Glas und lachte: „I glaub’ schon. Dös is aber scho gar net mehr wahr, so solid bin i g’worden . . . . . Wann S’ ibrigens münchnerisch mit mir reden wollen, dann müssen S’ scho den Mund net so berlinerisch verziehen. So fressen S’ ja de Wort’. Was is scho a bissel Sünd’ auf der Welt! Liab’ is’s, nur dös. Und alleweil is die Liab das Scheenst’ auf der Welt. Neben dem Schampus. Natürlich. Na, dann prost.“ Und sie stiess mit ihnen an und fuhr dann in ihrer Sektphilosophie fort: „Woas Sünd’ is, möcht’ i scho grad’ von Ihna wissen, Härr Dokter, weil S’ jetzt doch gar zu wenig g’scheit dreinschaug’n.“
Es war wenig schmeichelhaft, aber Kreuz lachte doch auch aus Gefallen an der Urwüchsigkeit. Nagel dagegen schmetterte los: „Sünde ist Temperamentssache, in punkto Liebe natürlich. Wer viel liebt, wird leicht müde, wer müde ist, schläft gut, wer schläft, sündigt nicht, ergo: wer viel liebt, der sündigt nicht.
Worauf die Resi sagte: „Sie sind schon oamer, das merk ich. Wann Sie’s nehm’n könn’n, dann nehm’n S’ scho.“
Sie wusste kaum, wie wahr sie sprach, und merkte nicht, wie Gabriel Kreuz überrascht aufblickte, als wäre ihm von irgendwoher eine Stimme der Offenbarung gekommen. Und so machte er den Versuch, das eilende Gesprächsschiff aus dem unreinen Fahrwasser ins reine zu lenken, damit auch dieser weibliche Aussenseiter etwas davon profitiere, obschon er sich sagte, dass das Gelage nicht dazu angetan sei, mit ernsten Erörterungen gewürzt zu werden. Aber er gehörte zu den glücklichen Menschen, die immer mehr für sich sprechen als für andere, und die denselben Genuss davontragen würden, auch wenn sie keine Zuhörer fänden. Im besseren Sinne war er eitel für sich, nicht auf andere.
„Was Sünde ist? Das will ich Ihnen sagen,“ meldete er sich. „Bei reinen Menschen die Tränen der Reue, bei unreinen der Morast, in dem sie versinken. Der schwankende Steg über einen Abgrund, den zu betreten man sich sehr überlegen soll. Die Sünde ist die Zwillingsschwester der Schuld, beide rächen sich immer auf Erden, ob in dieser oder jener Form, schleichend, wie ein fressendes Gift, das zerstörend wirkt, manchmal im Körper und manchmal in der Seele. Die Sünde war der Anfang aller menschlichen Dinge, und sie wird das Ende aller menschlichen Dinge sein.“
Die Resi sprach plötzlich hochdeutsch. „Wissen Sie, Herr Doktor, in Ihnen ist auch ein Pastor verloren gegangen.“
Thomas Nagel lachte dazu bezeichnend. Dann rief er aus: „Dann wären wir ja einig, lieber Sohn. Am Anfang war das Weib. Dann wäre die Sünde also eine Schönheit, also etwas Verlockendes.“
„In deinem alles zersetzenden Sinne, ja. Dir ist ja nichts heilig.“
„Alles, nur nicht deine Einfalt, mein Sohn Gabriel.“ Unbeweglich sass er da und qualmte ruhig weiter, so mit kleinen Augen, wenn er sich gleichsam mit seinen verborgenen Gedanken in sich zurückzog.
„Die Einfältigen im Geiste sind die Überragenden,“ wandte Kreuz ein, aufgestachelt von so manchem.
„Eigenlob riecht, mein Sohn,“ forderte ihn Nagel mutwillig heraus, wohl wissend, dass sich die Wogen bald wieder glätten würden.
Wie so oft schon, platzten sie aufeinander, aber diesmal geschah es nicht nur aus sachlichen Gründen, sondern getrieben von einem jäh aufflackernden persönlichen Groll, der, sie fühlten es, nicht erst des Sekts zur Ermunterung bedurft hätte. Nagel ärgerte sich über das Moralisieren Kreuzens. Dieser dagegen fühlte sich verletzt durch die Art, wie er ihn plötzlich ganz offen lächerlich zu machen versuchte. Ihre Erregung steigerte sich, sie ging in Heftigkeit über, und die Verschiedenheit ihrer Weltanschauung kehrte sozusagen ihr ganzes Innere um, aus dem der Verstand nun alles herausholte, was dem Wortgefecht als Waffe nützen könnte. Kreuzens Lippen bebten, denn alles, was er sagte, quoll aus seltener Gefühlswelt; er durchlebte es im Augenblick. Nagel aber empfand nichts Tieferes; er fühlte weiter nichts als das Behagen, wie ein unverwundbarer Achilles seine vernichtenden Wortpfeile auf den anderen abzuschiessen, unbeweglich hinter seiner dickfelligen Verschanzung.
„Was sind S’ bloss für Fremde,“ rief die Resi aus und schlug die Hände zusammen. „Seien S’ g’scheit und trink’n S’ lieber, dös is scho viel g’sunder. Nacha tun S’ sich ja doch wieder auffressen vor Liebe.“ Und sie sah sich wie hilfesuchend nach Oberbraier um, der schon vor dem Streite in das hinter dem Büffett liegende Zimmer gegangen war, weil er dort mit den anderen Kellnerinnen abzurechnen hatte.
Draussen fielen grosse Wassermassen vom Himmel, klatschten gegen die Scheiben, als gösse man ganze Eimer Wasser gegen die Fenster, und verwandelten den kleinen Garten in eine Schwemme. Man sah es durch die Fensterwand, wenn der Blitzschein seine blendende Helle hineinwarf, die geisterhaft aufzuckte und verschwand. Unaufhörlich rollte der Donner über dem Hause und machte die Wände erbeben. Durch die Decke hörte man Scharren und Tritte. Die Gäste oben mussten sich wieder aus den Betten erhoben haben, weil die Gewitterfurcht sie doch nicht schlafen liess.
„O mei, heut geht die Welt g’wiss unter,“ sprach die Resi wieder und duckte sich unwillkürlich vor dem Donner. „Zanken S’ sich doch nich über unsern lieben Härrgott, dös is a Sünd’, a wirkliche Sünd’. Wann S’ ihn scho seh’n woll’n, und wann S’ Mut dazu hab’n, dann schaug’n S’ sich amal draussen um. Nacha wenn S’ am Leben bleiben, haben S’ a rein’s Gewissen. Dös hat mei Mutterl immer z’ mir g’sagt. Fang’n S’ an, Härr Inscheniör.“
„Ich werde mich schön hüten, dann könnte ich ja nass werden,“ sagte Nagel mit verschleiertem Blick und rückte zum ersten Male etwas unruhig auf seinem Stuhle hin und her, denn er fühlte sich getroffen. „Das ist nur etwas für Gottesmänner, die so schön prahlen können mit dem Blitze ihrer Erkenntnis. Den andern meiden sie, der schwachen Nerven wegen.“
„Du fürchtest dich,“ sagte Kreuz.
„Und dir fehlt der Mut, lieber Sohn.“
Da erhob sich Gabriel Kreuz, warf sich rasch seinen Lodenmantel um, setzte sich den Hut auf und ging hinaus in Sturm, Regen und Blitz. Bange zehn Minuten vergingen. Eine Feuersäule schien vom Himmel zu kommen, die die ganze Welt versengen wollte, und unmittelbar folgte ein Schlag wie aus tausend Kanonenschüssen zugleich, so furchtbar nahe, dass das Ohr davon betäubt wurde.
„Härrgott, dös hat eing’schlag’n,“ rief die Resi aus, faltete die Hände und sass leichenblass, regungslos da, als sähe sie nun geduldig ihr Stündlein nahen.
Alles war mäuschenstill, wie in der Erwartung unheilvoller Botschaft. Auch Herrn Oberbraiers Stimme, die bisher eintönig hereingeschallt war, erstarb in dem Schreck. Dann hörte man oben ein paar Kinder weinen und rufen; laute Schritte polterten die Treppe herunter. Schrill ertönte eine elektrische Klingel, die immer wieder aufs neue ansetzte, und irgendwo wurde eine Tür laut zugeschlagen. Herr Oberbraier, seine Virginia im Munde, ging mit schwerem Elefantentritt heftig durchs Lokal und hinaus in die „Dependance“, um zu sehen, was los sei. Draussen aber wütete das Unwetter weiter; unaufhörlich rollte der Donner, dumpf und schlagfertig, dann wieder aufgelöst in Prasseln, in Schnellfeuer übergehend; aber bevor er die Erde erschütterte, sandte er die grellen Blitze aus den Schlünden.
„Dös sind mindestens drei G’ewitter,“ jammerte die Resi. „Wenn’s bloss den Härrn Dokter nicht getroffen hat. Wie kann a Mensch auch so verrückt sein. Moan’ S’ nich auch? Wann’s aber eintreffen sollt’, hab’ i’ ’n auf’m G’wissen. Dös hätt’ i net sag’n soll’n.“
Thomas Nagel nahm die Zigarre aus dem Mund und blickte das Mädchen schweigend an. Mächtig wälzten sich seine Gedanken durcheinander, die am besten verschlossen blieben. Unwillkürlich fühlte er nach der Brustseite, wo Kreuzens Vermögen steckte, denn im Augenblick hatte er die fixe Idee, er könnte es dem Freunde schon wieder zurückgegeben haben. Etwas Hässliches beschäftigte ihn, das ihm die Hitze ins Gesicht trieb. Er fühlte es förmlich, wie sein Gesicht heiss wurde und wie sein ganzer Kopf ihm beinahe anschwoll unter diesem Druck des höllischen Gedankens, dass Kreuz ein Opfer des Unwetters werden und nicht mehr zurückkehren könne. Er wusste: er litt jetzt schon Qualen dabei; aber es waren die Qualen, denen von irgendwoher sonnige Erlösung winkt. Um sich loszureissen von dem Bilde, kippte er die Flasche mit dem letzten Sekt um und goss das Glas in einem Zuge hinunter.
In dem Aufruhr der Elemente draussen erschallte Feuerlärm. Man hörte langgezogenes, dumpfes Tuten, das unheimlich in die Ohren schallte. Der ganze Gasthof schien plötzlich munter geworden zu sein, denn man vernahm Rufen, kreischende Stimmen und Trampeln. Eine Herde Menschen schien die Treppe herunter zu kommen. Aber es war nur Herr Oberbraier mit dem Hausknecht, die das Lokal betraten. Der Gastwirt steckte schon in einem Regenmantel, einen graugrünen Filzhut weit über die Ohren gezogen, so dass sein rotes Gesicht wie ein Borsdorfer Apfel unter ihm verschwand. Im eigenen Hause war nichts passiert, aber irgendwo sollte es brennen, ohne dass man den Feuerschein sehen konnte. Da wurde die Tür, die an der Ecke in der Glaswand direkt ins Freie führte, aufgerissen; ein total durchnässter Mann stürzte herein und sagte aufgeregt:
„Du, Oberbraier Peter, komm scho glei, — beim Huber Martin soll’s eing’schlag’n hab’n. Und’s is oaner vom Blitz getroffen. Auf der Strassen soll er liegen. I hab’ scho alarmiert. Glei blos’ i no amol.“
„Jes’s, dös is d’r Härr Dokter!“ rief die Resi dazwischen und rang die Hände.
Oberbraier stürmte hinaus hinter dem Nachbar her, der draussen den Mund wieder an das Horn legte, um die freiwillige Feuerwehr zusammenzublasen. Und man hörte nun auch den Aufruhr der Stimmen, vernahm ein Rufen und Fragen und sah durch das grosse Wandfenster, wie jenseits des Gartens dunkle Gestalten durch den prasselnden Regen die enge Strasse entlang eilten, der Gegend zu, wo es brennen sollte. Ein paar aufgescheuchte Gäste durchsprangen unter ihrem Regenschirm den Garten und tauchten in dem kleinen Zimmer hinten auf, wo sie sich die Nässe abschüttelten. In den Häusern gegenüber sah man Licht, das aber verblasste, sobald der Blitz grell sein blendendes Antlitz auf das Dorf warf.
„So geh’n S’ doch scho und suchen S’ Ihren Freind,“ sagte die Resi wieder, die nicht begreifen konnte, wie Nagel hier noch ruhig sass, wo alles in Aufregung war. „Warten S’, i geh’ scho mit. Nur a Tuch will i holen.“ Und sie stürmte davon, hinein zu den Kolleginnen, die furchtsam zusammenhockten.
Thomas Nagel erhob sich nun und sah sich nach Hut und Mantel um, obwohl er beides nicht weit von sich deutlich hängen sah. Aber der Schreck lag ihm derartig in den Gliedern, wurzelte ihn so fest an die Stelle, dass dieses Suchen seiner Augen ihm wie eine geschenkte Pause zum Nachdenken dünkte. Und dabei hatte er so etwas wie eine Vision. Er sah einen Mann, in einen Lodenmantel gehüllt, einen sonderbaren Spaziergang bei Donner, Blitz und Regen machen, aufrechten Hauptes, den Blick furchtlos nach oben gerichtet. Da zuckte, begleitet von einem furchtbaren Schlag, der zündende Blitz zur Erde nieder, traf diesen Mann und fällte ihn lautlos, so wie die scharfe Axt frevelhaft eine junge, nordische Eiche fällt. Und dieser Mann war Gabriel Kreuz, — der Mann, der Gott versuchen wollte. Wenn er tot wäre, erschlagen auf diese Art, — wäre es nicht wie ein Sieg der Verneiner, die, gleich ihm, nichts von einer göttlichen Weltordnung wissen wollten und sich nur auf das Abc der Natur verliessen, das man erst kennen müsse, um im Buche der Entwicklungsgeschichte zu lesen? Dann wäre der tödliche Blitz draussen einer von den vielen Zufällen im Kosmos gewesen, die notwendig sind, um den Menschen von himmlischen Wahnideen zu befreien.
So sehr war Thomas in diesem Augenblick vom Tode Gabriels überzeugt, dass er nun, als die Resi, in ein Kopftuch gehüllt und mit einem Schirm bewaffnet, wieder erschien und er gefasst zu Hut und Mantel griff, das Gefühl eines Menschen hatte, der einen andern auf seinem letzten Gange begleiten soll.