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II. Knies und das Irrationalitätsproblem.

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I. Die Irrationalität des Handelns. Charakter des Kniesschen Werkes S. 42. – »Willensfreiheit« und »Naturbedingtheit« bei Knies im Verhältnis zu modernen Theorien S. 44. – Wundts Kategorie der »schöpferischen Synthese« S. 51. – Irrationalität des konkreten Handelns und Irrationalität des konkreten Naturgeschehens S. 64. – Die »Kategorie« der »Deutung« S. 67. – Erkenntnistheoretische Erörterungen dieser »Kategorie«: 1) Münsterbergs Begriff der »subjektivierenden« Wissenschaften S. 70. – 2) »Verstehen« und »Deuten« bei Simmel S. 93. – 3) Gottls Wissenschafts-Theorie S. 95.


Das methodologische Hauptwerk von Knies »Die politische Oekonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode« erschien in erster Auflage 1853, vor dem Erscheinen des ersten Bandes von Roschers »System« (1854), mit dem sich Knies in den »Göttinger gelehrten Anzeigen« (1855) auseinandersetzte. Knies' Werk fand außerhalb enger Fachkreise relativ wenig Beachtung; darüber, daß Roscher ihn nicht eingehender erwähnt und behandelt habe, glaubte er sich beklagen zu können97, mit Bruno Hildebrand geriet er in eine heftige Fehde. – Als dann in den sechziger Jahren die Freihandelsschule von Erfolg zu Erfolg schritt, geriet das Buch fast in Vergessenheit. Erst als die »kathedersozialistische« Bewegung Macht über die Jugend gewann, begann es in steigendem Maße gelesen zu werden, so daß Knies, dessen zweites in den siebziger Jahren entstandenes Hauptwerk »Geld und Kredit« der »historischen« Methode völlig fern steht, nach 30 Jahren (1883) vor einer zweiten Auflage stand. Sie erschien unmittelbar, ehe durch Mengers »Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften«, Schmollers Rezension derselben und Mengers heftige Replik der Methodenstreit in der Nationalökonomie die Höhe seiner Temperatur erreichte, und gleichzeitig in Diltheys »Einleitung in die Geisteswissenschaften« der erste groß angelegte Entwurf einer Logik des nicht naturwissenschaftlichen Erkennens vorgelegt wurde.


Eine Analyse des Kniesschen Werkes bietet nicht geringe Schwierigkeiten. Einmal ist der Stil teilweise bis dicht an die Unverständlichkeit ungelenk, dank der Arbeitsweise des Gelehrten, der in einen geschriebenen Satz, weitergrübelnd, Nebensatz auf Nebensatz hineinschachtelte, unbekümmert darum, ob die entstehende Periode syntaktisch aus allen Fugen ging98. Die Fülle der ihm zuströmenden Gedanken ließen Knies dabei gelegentlich auch die offenbarsten Widersprüche in bald aufeinanderfolgenden Sätzen übersehen, und sein Buch gleicht so einem Mosaik aus Steinen von sehr verschiedener, nur im großen, nicht immer im einzelnen aufeinander abgestimmter Färbung. Die Zusätze der zweiten Auflage, welche ziemlich unorganisch neben dem fast unveränderten Text stehen, stellen gegenüber dem Gedankengehalt der ersten teils eine Verdeutlichung und Fortentwickelung, teils aber auch eine bewußte Umbiegung zu ziemlich abweichenden Gesichtspunkten dar. Wer den ganzen Inhalt dieses eminent gedankenreichen Werkes überhaupt in voller Tiefe wiedergeben wollte, dem bliebe nichts übrig, als zunächst die gewissermaßen aus verschiedenen Gedankenknäueln stammenden Fäden, welche neben- und durcheinander herlaufen, voneinander zu sondern und sodann jeden Gedankenkreis für sich zu systematisieren99. Seine Ansicht über die Stellung der Nationalökonomie im Kreise der Wissenschaften hat Knies erst in der zweiten Auflage endgültig präzisiert100, jedoch in einer Weise, welche durchaus den Gedankengängen der ersten entspricht. Danach erörtert sie jene Vorgänge, welche daraus entspringen, daß der Mensch für die Deckung des Bedarfs »des menschlich persönlichen Lebens« auf die »Außenwelt« angewiesen ist: – eine, gegenüber dem historisch gewordenen Aufgabenkreise unserer Wissenschaft offenbar teils zu weite, teils zu enge Umgrenzung. Um nun aus diesem Aufgabenkreis der Nationalökonomie ihre Methode abzuleiten, stellt Knies neben die schon von Helmholtz je nach dem behandelten Objekt unterschiedenen Gruppen der »Naturwissenschaften« einerseits, der »Geisteswissenschaften« anderseits, als dritte Gruppe die »Geschichtswissenschaften«, als diejenigen Disziplinen, welche es mit äußeren, aber durch »geistige« Motive mit bedingten Vorgängen zu tun haben.


Von der für ihn selbstverständlichen Voraussetzung aus, daß die wissenschaftliche »Arbeitsteilung« eine Repartierung des objektiv gegebenen Tatsachenstoffes darstelle, und daß ferner dieser objektiv ihr zugewiesene Stoff es sei, der einer jeden Wissenschaft ihre Methode vorschreibe, geht nun Knies an die Erörterung der methodologischen Probleme der Nationalökonomie. Da diese Wissenschaft menschliches Handeln unter einerseits naturgegebenen, andererseits historisch bestimmten Bedingungen behandelt, so ergibt sich ihm, daß in ihr Beobachtungsmaterial als Determinanten auf der einen Seite, der des menschlichen Handelns, die menschliche »Willensfreiheit« »eingehen«, auf der anderen dagegen »Elemente der Notwendigkeit«: nämlich – erstens – in den Naturbedingungen die blinde Nezessitierung des Naturgeschehens und – zweitens – in den historisch gegebenen Bedingungen die Macht kollektiver Zusammenhänge101.


Die Einwirkung der natürlichen und »allgemeinen« Zusammenhänge faßt nun Knies ohne weiteres als gesetzmäßige Einwirkung auf, da für ihn wie für Roscher Kausalität gleich Gesetzmäßigkeit ist102. So schiebt sich ihm an die Stelle des Gegensatzes: zweckvolles menschliches Handeln auf der einen Seite, – durch die Natur und die geschichtliche Konstellation gegebene Bedingungen dieses Handelns auf der andern, der ganz andere: »freies« und daher irrational-individuelles Handeln der Personen einerseits, – gesetzliche Determiniertheit der naturgegebenen Bedingungen des Handelns anderseits103. Die Einwirkung der »Natur« auf die ökonomischen Erscheinungen würde, so meint Knies, an sich einen gesetzlichen Ablauf derselben bedingen müssen. Tatsächlich wirken nun zwar die Naturgesetze auch in der menschlichen Wirtschaft, aber sie sind nicht Gesetze der menschlichen Wirtschaft104, und zwar, nach ihm, deshalb nicht, weil in diese in Gestalt des »personalen« Handelns die Freiheit des menschlichen Willens hineinragt.


Wir werden weiterhin sehen, daß diese »prinzipielle« Begründung der Irrationalität des ökonomischen Geschehens dem, was Knies an anderen Stellen über die Einwirkung der Naturbedingungen auf die Wirtschaft ausführt, geradezu ins Gesicht schlägt, indem dort gerade die geographisch und historisch »individuelle« Gestaltung der Wirtschaftsbedingungen als dasjenige Element erscheint, welches die Aufstellung allgemeiner Gesetze des rationalen wirtschaftlichen Handelns ausschließt.


Es verlohnt aber, auf die ganze Frage, die Knies hier berührt hat, schon an dieser Stelle etwas näher einzugehen105. Die Identifikation von Determiniertheit mit Gesetzlichkeit einerseits, von »freiem« und »individuellem«, d.h. nicht gattungsmäßigem Handeln anderseits, ein so elementarer Irrtum sie ist, findet sich nämlich keineswegs nur bei Knies. Vielmehr spukt sie auch in der historischen Methodologie gelegentlich bis in die Gegenwart hinein, und namentlich gilt dies für das Hineinspielen der »Frage« der Willensfreiheit in die methodologischen Erörterungen der Spezialwissenschaften. Noch immer wird dieses Problem, und zwar ganz in demselben Sinne wie von Knies, ohne alle Not von den Historikern in die Untersuchungen über die Tragweite »individueller« Faktoren für die Geschichte hineingetragen. Man findet dabei immer wieder die »Unberechenbarkeit« des persönlichen Handelns, welche Folge der »Freiheit« sei, als spezifische Dignität des Menschen und also der Geschichte angesprochen, entweder ganz direkt106 oder verhüllt, indem die »schöpferische« Bedeutung der handelnden Persönlichkeit in Gegensatz zu der »mechanischen« Kausalität des Naturgeschehens gestellt wird.


Es erscheint angesichts dessen nicht ganz ungerechtfertigt, an dieser Stelle etwas weiter auszuholen und diesem hundertmal »erledigten«, aber in stets neuer Form auftauchenden Problem etwas ins Gesicht zu leuchten. Nichts als »Selbstverständlichkeiten«, zum Teil trivialster Art, können dabei herausspringen, aber gerade diese sind, wie sich zeigen wird, immer wieder in Gefahr, verdunkelt zu werden oder geradezu in Vergessenheit zu geraten107. – Dabei akzeptieren wir vorläufig einmal ohne Diskussion den Standpunkt von Knies, wonach die Wissenschaften, in welchen menschliches »Handeln«, sei es allein, sei es vorzugsweise, den Stoff der Untersuchung bilde, innerlich zusammen gehören, und, da dies unstreitig in der Geschichte der Fall ist, so wird hier von »der Geschichte und den ihr verwandten Wissenschaften« gesprochen, wobei vorerst ganz dahingestellt bleibt, welche jene Wissenschaften sind. Wo von »Geschichte« allein die Rede ist, ist immer an den weitesten Sinn des Wortes (politische, Kultur- und Sozialgeschichte eingeschlossen) zu denken. – Unter jener noch immer so stark umstrittenen »Bedeutung der Persönlichkeit« für die Geschichte kann nun zweierlei verstanden werden. Einmal 1. das spezifische Interesse, welches die möglichst umfassende Kenntnis von dem »geistigen Gehalt« des Lebens geschichtlich »großer« und »einzigartiger« Individuen als eines »Eigenwerts« besitzt; oder 2. die Tragweite, welche dem konkret bedingten Handeln bestimmter Einzelpersonen – gleichviel, ob wir sie »an sich« als »bedeutende« oder »unbedeutende« Persönlichkeiten bewerten würden – als ursächlichem Moment in einem konkreten historischen Zusammenhang zuzuschätzen ist. Beides sind offenbar logisch ganz und gar heterogene gedankliche Beziehungen. Wer jenes Interesse (ad 1) prinzipiell leugnet, oder als »unberechtigt« verwirft, ist auf dem Boden der Erfahrungswissenschaft natürlich ebenso unwiderlegbar, wie derjenige, welcher umgekehrt die verstehende und »nacherlebende« Analyse »großer« Individuen in ihrer »Einzigartigkeit« für die einzige menschenwürdige Aufgabe und als einzig die Mühe verlohnendes Ergebnis der Erforschung der Kulturzusammenhänge ansieht. Gewiß lassen sich diese »Standpunkte« ihrerseits wieder zum Gegenstand der kritischen Analyse machen. Aber jedenfalls wird dann kein geschichtsmethodologisches und auch kein einfach erkenntniskritisches, sondern ein geschichtsphilosophisches Problem: die Frage nach dem »Sinn« des wissenschaftlichen Erkennens des Historischen, aufgerollt108. – Die kausale Bedeutung (ad 2) aber, sei es konkreter Einzelhandlungen, sei es jenes Komplexes »konstanter Motive«, welche wir im formalen Sinn »Persönlichkeit« nennen, generell zu bestreiten, ist nur dann möglich, wenn man a priori entschlossen ist, diejenigen Bestandteile eines historischen Zusammenhanges, welche dadurch ursächlich bedingt sind, als eben deshalb unseres kausalen Erklärungsbedürfnisses nicht würdig, außer Betracht zu lassen. Ohne diese, wiederum den Boden der Erfahrung verlassende und auf ihm nicht begründbare, weil ein Werturteil enthaltende, Voraussetzung hängt es natürlich lediglich vom Einzelfall, d.h. von der Frage, welche Bestandteile einer gegebenen historischen Wirklichkeit im Einzelfall kausal erklärt werden sollen und welches Quellenmaterial zur Verfügung steht, ab, ob wir 1. beim kausalen Regressus auf eine konkrete Handlung (oder Unterlassung) eines Einzelnen als eine in ihrer Eigenart bedeutsame Ursache stoßen – etwa auf das Edikt von Trianon –, und weiter 2., ob es alsdann genügt, zur kausalen Interpretation jener Handlung die Konstellation der »außerhalb des Handelnden« liegenden Antriebe zum Handeln als eine nach allgemeinen Erfahrungssätzen sein Verhalten zulänglich motivierende Ursache aufzuhellen oder ob wir daneben 3. seine »konstanten Motive« in ihrer Eigenart festzustellen, bei diesen aber haltzumachen genötigt und berechtigt sind, oder ob endlich 4. das Bedürfnis erwächst, auch noch diese letzteren charakterogenetisch, z.B. in ihrem Entstehen aus »ererbten Anlagen« und Einflüssen der Erziehung, konkreten Lebensschicksalen und der individuellen Eigenart des »Milieus«, nach Möglichkeit, kausal erklärt zu sehen. – Irgendein prinzipieller Unterschied zwischen Handlungen eines Einzelnen und Handlungen vieler Einzelner besteht nun hier natürlich, soweit die Irrationalitätsfrage in Betracht kommt, in keiner Weise: das alte lächerliche Vorurteil naturalistischer Dilettanten, als ob die »Massenerscheinungen«, wo sie als historische Ursachen oder Wirkungen in einem gegebenen Zusammenhang in Betracht kommen, »objektiv« weniger »individuell« seien als die Handlungen der »Helden«, wird sich hoffentlich auch in den Köpfen von »Soziologen« nicht mehr allzulange behaupten109. Auch bei Knies ist ja in dem erwähnten Zusammenhang von menschlichem Handeln überhaupt, nicht aber von dem der »großen Persönlichkeiten« die Rede, und so wird bei unseren weiteren Bemerkungen ein- für allemal – soweit nicht das Gegenteil sich aus dem Zusammenhang unzweifelhaft ergibt bzw. ausdrücklich gesagt ist, – nicht nur an ein Sich-Verhalten eines Einzelnen, sondern ganz ebenso an »Massenbewegungen« gedacht, wo von »menschlichem Handeln«, »Motivation«, »Entschluß« u. dgl. die Rede ist. –


Wir beginnen mit einigen Bemerkungen über den Begriff des »Schöpferischen«, welchen namentlich Wundt in seine Methodologie der »Geisteswissenschaften« als grundlegend aufgenommen hat. In welchem Sinne immer man nun jenen Begriff mit Bezug auf »Persönlichkeiten« verwenden möge, so muß man sich jedenfalls sorgsam hüten, in ihm etwas anderes finden zu wollen als den Niederschlag einer Wertung, die wir an den ursächlichen Momenten einerseits, und dem ihnen zugerechneten Endeffekt andererseits, vornehmen. Insbesondere ist die Vorstellung gänzlich irrig, als hinge das, was unter jenem »schöpferischen« Charakter menschlichen Tuns etwa verstanden werden kann, mit »objektiven«, – d.h. hier: von unseren Wertungen abgesehen in der empirischen Wirklichkeit gegebenen oder aus ihr abzuleitenden, – Unterschieden in der Art und Weise der Kausalbeziehungen zusammen. Als ursächliches Moment greift die Eigenart und das konkrete Handeln einer konkreten »historischen« Persönlichkeit »objektiv«, – d.h. sobald wir von unserem spezifischen Interesse abstrahieren, – in keinem irgend verständlichen Sinn »schöpferischer« in das Geschehen ein, als dies bei »unpersönlichen« ursächlichen Momenten, geographischen oder sozialen Zuständlichkeiten oder individuellen Naturvorgängen, ebenfalls der Fall sein kann. Denn der Begriff des »Schöpferischen« ist, wenn er nicht einfach mit dem der »Neuheit« bei qualitativen Veränderungen überhaupt gleichgesetzt, also ganz farblos wird, kein reiner Erfahrungsbegriff, sondern hängt mit Wertideen zusammen, unter denen wir qualitative Veränderungen der Wirklichkeit betrachten. Die physikalischen und chemischen Vorgänge z.B., welche zur Bildung eines Kohlenflözes oder Diamanten führen, sind »schöpferische Synthesen« in formal ganz demselben – nur durch die Verschiedenheit der leitenden Wertgesichtspunkte inhaltlich verschieden bestimmten – Sinn wie etwa die Motivationsverkettungen, welche von den Intuitionen eines Propheten zur Bildung einer neuen Religion führen. Unter logischen Gesichtspunkten betrachtet, hat die qualitative Veränderungsreihe in beiden Fällen die gleiche Eigenart der Färbung lediglich dadurch angenommen, daß infolge der Wertbeziehungen eines ihrer Glieder die Kausalungleichung, in welcher sie – wie an sich jede lediglich auf ihre qualitative Seite hin betrachtete Veränderung in der individuell besonderten Wirklichkeit – verläuft, als eine Wertungleichung ins Bewußtsein tritt. Damit wird die Reflexion auf diese Beziehung zum entscheidenden Grund unseres historischen Interesses. Wie die Unanwendbarkeit des Satzes »causa aequat effectum« auf das menschliche Handeln nicht aus irgendwelcher »objektiven« Erhabenheit des Ablaufes der psychophysischen Vorgänge über die »Naturgesetzlichkeit« im allgemeinen oder über spezielle Axiome, wie etwa das von der »Erhaltung der Energie« oder dergleichen abzuleiten ist, sondern aus dem rein logischen Grund, daß eben die Gesichtspunkte, unter welchen das »Handeln« für uns Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wird, die Kausalgleichung als Ziel derselben a priori ausschließen, – so verhält es sich, lediglich in einem noch um eine Stufe gesteigerten Grade, mit demjenigen »Handeln«, sei es Einzelner, sei es einer als Gruppe begrifflich zusammengefaßten Vielheit von Menschen, welches wir als »historisches« Handeln aus der Fülle des vom geschichtlichen Interesse nicht erfaßten Tuns herausheben. Das »Schöpferische« desselben liegt lediglich darin, daß für unsere »Auffassung« der geschichtlichen Wirklichkeit der kausale Ablauf des Geschehens einen nach Art und Maß wechselnden Sinn empfängt: – m. a. W. das Eingreifen jener Wertungen, an denen unser geschichtliches Interesse verankert ist, läßt aus der Unendlichkeit der an sich historisch sinnlosen und gleichgültigen ursächlichen Komponenten das eine Mal gleichgültige Ergebnisse, das andere Mal aber eine bedeutungsvolle, d.h. in bestimmten Bestandteilen von jenem historischen Interesse erfaßte und gefärbte Konstellation entstehen. Im letzteren Fall sind für unsere »Auffassung« neue Wertbeziehungen gestiftet worden, die vorher fehlten, und wenn wir nun weiterhin diesen Erfolg anthropozentrisch dem »Handeln« der Menschen kausal zurechnen, dann gilt uns dasselbe in solchen Fällen als »schöpferisch«. Nicht nur aber kann, wie gesagt, rein logisch betrachtet, die gleiche Dignität auch reinen »Naturvorgängen« zukommen, – sobald nämlich von jener »objektiv« ja ganz und gar nicht selbstverständlichen anthropozentrischen Zurechnung abstrahiert wird, – und nicht nur kann dies »Schöpferische« natürlich auch – je nach dem »Standpunkt« – mit negativem, herostratischem Vorzeichen versehen sein oder einfach qualitativen Wertwandel ohne eindeutiges Vorzeichen bedeuten, – sondern vor allem ist aus all diesen Gründen selbstverständlich zwischen Sinn und Maß des »Eigenwerts« des »schöpferisch« handelnden Menschen und seines Tuns und demjenigen des ihm zugerechneten Erfolges keinerlei notwendige Beziehung vorhanden. Ein – nach seinem »Eigenwert« bemessen – für uns absolut wert- und geradezu sinnloses Handeln kann in seinem Erfolge durch die Verkettung historischer Schicksale eminent »schöpferisch« werden, und anderseits können menschliche Taten, welche, isoliert »aufgefaßt«, durch unsere »Wertgefühle« mit den grandiosesten Farben getränkt werden, in den ihnen zuzurechnenden Erfolgen in der grauen Unendlichkeit des historisch Gleichgültigen versinken und also für die Geschichte kausal bedeutungslos werden, oder – das in der Geschichte regelmäßig Wiederkehrende – in der Verkettung der historischen Schicksale ihren »Sinn« nach Art und Maß bis zur Unkenntlichkeit ändern.


Gerade diese letzteren Fälle des historischen Bedeutungswandels pflegen unser historisches Interesse im intensivsten Maße auf sich zu ziehen, und man kann also die spezifisch historische Arbeit der Kulturwissenschaften auch hierin als äußerste Antithese aller auf Kausalgleichungen hinarbeitenden Disziplinen ansehen: Die Kausalungleichung als Wertungleichung ist für sie die entscheidende Kategorie, und lediglich diesen Sinn kann es also auch haben, wenn man von »schöpferischer Synthese« als einem dem Gebiet, sei es des individualpsychischen Geschehens, sei es der Kulturzusammenhänge, oder beider, eigentümlichen Vorgang spricht. Die Art hingegen, wie dieser Begriff von Wundt bei den verschiedensten Gelegenheiten110 verwendet wird, ist, wie ich glauben möchte, nicht haltbar und direkt irreführend, wennschon natürlich niemand diesem hervorragenden Gelehrten den Gebrauch, welchen Historiker wie Lamprecht gelegentlich von dieser Kategorie zu machen versucht haben, zur Last legen wird. – Wundts angeblich »psychologische« Theorie mag hier in gedrängter Skizze analysiert werden.


Die »psychischen Gebilde« stehen nach Wundt111 zu den sie komponierenden »Elementen« zwar in bestimmten kausalen Beziehungen – d.h. also doch selbstverständlich: sie sind eindeutig determiniert –, aber sie besitzen zugleich »neue Eigenschaften«, die in jenen einzelnen Elementen »nicht enthalten sind«. – Es ist doch wohl zweifellos, daß dies bei allen Naturvorgängen ganz in gleichem Sinn und Maß der Fall ist, wann immer wir sie als qualitative Veränderungen auffassen. Wasser z.B. besitzt, mit bezug auf seine qualitative Eigenart betrachtet, Eigenschaften, die absolut nicht in seinen Elementen »enthalten« sind. Sobald vollends die Beziehung auf Werte erfolgt, gibt es überhaupt keinen Naturvorgang, der nicht gegenüber seinen »Elementen« spezifisch »neue« Eigenschaften enthielte. Auch die rein quantitativen Beziehungen des Sonnensystems, gegenüber den, als seine »Elemente«, isoliert betrachteten einzelnen Planeten oder gegenüber den mechanischen Kräften, die es aus einem hypothetischen Urnebel herausentwickelt haben mögen, macht durchaus in keinem Sinn eine Ausnahme davon, trotzdem doch hier eine Verkettung von rein physikalisch interessierenden Einzelvorgängen vorliegt, deren jeder also in einer Kausalgleichung ausdrückbar wäre. – Aber hören wir zunächst wieder Wundt. Ein Kristall, meint er, könne für den Naturforscher »nichts anderes« sein als »die Summe seiner Moleküle samt den ihnen eignen äußeren Wechselwirkungen«. Das gleiche gelte für eine organische Form, die für den Naturforscher, auch wenn er »das Ganze« noch nicht »kausal abzuleiten« vermöge, nur das »in den Elementen vollständig vorgebildete Produkt dieser Elemente« sei. Das entscheidende Zugeständnis, welches Wundt hier in die Feder geflossen ist, liegt in den Worten: »für den Naturforscher«, – der eben für seine Zwecke von den in der unmittelbar erlebten Wirklichkeit gegebenen Beziehungen zu abstrahieren hat. Denn für den Nationalökonomen, – um unter Außerachtlassung der feineren Zwischenglieder gleich zu ihm zu kommen, – liegt die Sache offenbar anders. Ob die »Wechselbeziehung« der chemischen Elemente eine solche ist, daß durch sie ein für die menschliche Ernährung geeigneter Getreidehalm oder etwa ein Diamant dargestellt wird, oder ob chemisch gleiche Elemente sich in irgendeiner für die Befriedigung menschlicher Nahrungs- oder Schmuckbedürfnisse indifferenten Verbindung befinden, ist für seine Betrachtung ein fundamentaler Unterschied: im ersteren Falle hat der Naturprozeß ein Objekt hervorgebracht, welches ökonomisch bewertbar ist. Würde dagegen nun eingewendet, daß es sich eben deshalb hier um das Hineinspielen »psychologischer« Momente – der mittels »psychischer Kausalität« zu interpretierenden »Wertgefühle« und »Werturteile« – handle, so wäre dieser Einwand zwar in dieser Fassung falsch formuliert, aber in dem, was er sagen möchte, natürlich durchaus richtig. Nur gilt eben für das gesamte »psychische« Geschehen genau das gleiche. »Objektiv« – d.h. hier: unter Abstraktion von allen Wertbeziehungen – betrachtet, stellt es gleichfalls ausschließlich eine Kette qualitativer Veränderungen dar, deren wir uns teils direkt in der eigenen »inneren Erfahrung«, teils indirekt, durch analoge Interpretation von Ausdrucksbewegungen »anderer«, bewußt werden. Es ist ganz und gar nicht abzusehen, warum diese Veränderungsreihen nicht absolut ohne alle Ausnahme in ganz demselben Sinn einer von »Wertungen« freien Betrachtung sollten unterworfen werden können, wie irgendeine Reihe qualitativer Veränderungen in der »toten« Natur112. Wundt freilich stellt dem Kristall und dem organischen Gebilde eine »Vorstellung« als etwas gegenüber, was »niemals bloß die Summe der Empfindungen, in die sie sich zerlegen läßt«, darstelle, und bezeichnet weiter die »intellektuellen Vorgänge«, also z.B. ein Urteil oder einen Schluß, als Gebilde, die sich niemals »als bloße Aggregate einzelner Empfindungen und Vorstellungen begreifen« lassen: denn, so fügt er hinzu, »was diesen Vorgängen erst die Bedeutung gibt, das entsteht« (in streng kausaler Determination, dürfen wir auch hier unzweifelhaft Wundts Ansicht interpretieren) »...aus den Bestandteilen, ohne daß es doch in ihnen enthalten ist«. Sicherlich: aber ist dies etwa bei der Bildung jener »Naturprodukte« anders? War etwa die »Bedeutung«, welche der Diamant oder der Getreidehalm für gewisse menschliche »Wertgefühle« besitzt, in den physikalisch-chemischen Bedingungen ihrer Entstehung in höherem Grade oder in anderem Sinne »vorgebildet«, als dies – bei strenger Durchführung der Kategorie der Kausalität auf psychischem Gebiet – bei den »Elementen« der Fall ist, aus denen sich Vorstellungen und Urteile bilden? Oder – um »historische« Vorgänge »heranzuziehen« – war die Bedeutung des schwarzen Todes für die Sozialgeschichte, oder die Bedeutung des Einbruchs des Dollart für die Geschichte der Kolonisationsbewegung usw. usw. »vorgebildet« in den Bakterien und den anderen Ursachen der Infektion, welche jenes, oder in den geologischen und meteorologischen Ursachen, welche dieses Ereignis bedingten? Es steht mit beiden absolut nicht anders als mit dem Einbruch Gustav Adolfs in Deutschland oder dem Einbruch Dschingis-Chans in Europa. Historisch bedeutsame – d.h. für uns an »Kulturwerten« verankerte – Folgen haben alle jene Vorgänge hinterlassen. Kausal determiniert waren sie, – wenn man, wie Wundt, mit der Universalherrschaft des Kausalprinzips Ernst machen will, – ebenfalls alle. Alle bewirkten »psychisches« ebenso wie »physisches« Geschehen. Daß wir ihnen aber historische »Bedeutung« beilegen, war bei keinem von ihnen aus der Art ihrer kausalen Bedingtheit abzulesen. Insbesondere folgte dies ganz und gar nicht daraus, daß »psychisches Geschehen« in ihnen enthalten ist. In allen diesen Fällen ist vielmehr der Sinn, den wir den Erscheinungen beilegen, d.h. die Beziehungen auf »Werte«, die wir vollziehen, dasjenige, was der »Ableitung« aus den »Elementen« als prinzipiell heterogenes und disparates Moment die Pfade kreuzt. Diese »unsere« Beziehung »psychischer« Hergänge auf Werte, – gleichviel, ob sie als undifferenziertes »Wertgefühl« oder als rationales »Werturteil« auftritt, – vollzieht eben die »schöpferische Synthese«. Bei Wundt ist erstaunlicherweise die Sache gerade umgekehrt gedacht: das in der Eigenart der psychischen Kausalität »objektiv« begründete Prinzip der »schöpferischen Synthese« findet nach ihm seinen »charakteristischen Ausdruck« in Wertbestimmungen und Werturteilen. Würde damit nur gemeint sein, daß es ein berechtigtes Ziel psychologischer Forschung sei, z.B. die psychischen oder psychophysischen »Bedingungen« des Entstehens von Wertgefühlen und -Urteilen aufzusuchen und den Versuch zu machen, psychische oder psychophysische »Elementar« vorgänge als kausale Komponenten derselben zu erweisen, so wäre dagegen nichts zu erinnern. Man braucht aber nur wenige Seiten weiter zu lesen, um sich zu überzeugen, welches in Wahrheit die Konsequenzen von Wundts angeblich »psychologischer« Betrachtungsweise sein sollen: »Im Laufe jeder individuellen wie generellen Entwickelung« – also natürlich doch in derjenigen des geborenen Trunkenbolds oder Lustmörders ebenso wie in derjenigen des religiösen Genius – werden, nach Wundt, geistige (d.h. nach Wundts Interpretation logische, ethische, ästhetische) Werte erzeugt, »die ursprünglich in der ihnen zukommenden spezifischen Qualität überhaupt nicht vorhanden waren«, weil – nach Wundt – innerhalb der Lebenserscheinungen zu dem Prinzip der Erhaltung der physischen Energie das Gesetz des »Wachstums der psychischen Energie« (d.h. der aktuellen und potentiellen Werte) tritt. Diese generelle »Tendenz« zur Bildung »wachsender Wertgrößen« kann durch »Störungen« zwar »teilweise oder ganz vereitelt« werden, aber selbst »eine der wichtigsten dieser Unterbrechungen psychischer Entwickelung: das Aufhören der individuellen geistigen Wirksamkeit« – gemeint ist offenbar diejenige Erscheinung, die man gewöhnlich einfacher als »Tod« bezeichnet – »pflegt«, wie nach Wundt »immerhin zu beachten« ist, »durch das Wachstum der geistigen Energie innerhalb der Gemeinschaft, welcher der Einzelne angehört, ... mehr als kompensiert« zu werden. Das Entsprechende gelte im Verhältnis der einzelnen Nation zur menschlichen Gemeinschaft. Eine empirisch sein wollende Disziplin müßte dies nun aber auch in einer wenn auch noch so entfernten Annäherung an »Exaktheit« nachzuweisen imstande sein. Und da doch offenbar nicht nur der Professor, sondern auch der Staatsmann und überhaupt jeder Einzelne eine »psychische Entwickelung« erlebt, so entsteht die Frage: für wen denn nun dieses tröstliche Verhältnis des »Kompensiertwerdens« gelten soll?, – d.h. ob der Tod Cäsars oder irgendeines braven Straßenfegers als »psychologisch« kompensiert zu gelten hat: – 1. dem Verstorbenen oder Sterbenden selbst, oder 2. seiner hinterbliebenen Familie, oder 3. demjenigen, für welchen sein Tod eine »Stelle« oder eine Gelegenheit zum »Wirken« frei machte, oder 4. der Steuerkasse, 5. der Aushebungsbehörde, oder 6. bestimmten politischen Parteirichtungen usw., oder etwa 7. Gottes providentieller Weltleitung, – oder endlich: dem psychologistischen Metaphysiker. Nur diese letztere Annahme erscheint zulässig. Denn wie man sieht, handelt es sich hier nicht um Psychologie, sondern um eine im Gewande »objektiver« psychologischer Betrachtung auftretende geschichtsphilosophische Konstruktion des a priori postulierten »Fortschritts« der Menschheit. Weiterhin wird denn auch aus der »schöpferischen Synthese« das »Gesetz der historischen Resultanten« abgeleitet, welches mit dem Gesetz der historischen »Relationen« und demjenigen der historischen »Kontraste« die psychologistische Dreieinigkeit der historischen Kategorien bildet. Und sie muß weiterhin auch dazu dienen, Entstehung und »Wesen« der »Gesellschaft« und der Totalitäten überhaupt in einer vermeintlich »psychologisch« begründeten Weise zu interpretieren. Und endlich soll sie verständlich machen, warum wir Kulturerscheinungen (angeblich) ausschließlich in Form des kausalen Regressus (von der Wirkung zur Ursache) zu erklären imstande sind, – als ob nicht genau das gleiche bei jedem mit den Mitteln der Physik zu interpretierenden konkreten »Naturvorgang« der Fall wird, sobald es auf die individuellen Komplikationen und die Einzelheiten seiner Konsequenzen für die konkrete Wirklichkeit aus irgendwelchen Gründen einmal ankommt. Doch davon später. Hier sollten zunächst nur die elementarsten Charakterzüge der Theorie konstatiert werden. – Die außerordentliche, dankbare Hochachtung, welche der umfassenden Gedankenarbeit dieses hervorragenden Gelehrten geschuldet wird, darf nicht hindern, für diese speziellen Probleme zu konstatieren, daß eine solche Art von angeblicher »Psychologie« für die wissenschaftliche Unbefangenheit des Historikers geradezu Gift ist, weil sie ihn dazu verleitet, die geschichtsphilosophisch gewonnenen Werte, auf welche er die Geschichte bezieht, sich selbst durch Verwendung angeblicher psychologischer Kategorien zu verhüllen und so sich und andern einen falschen Schein von Exaktheit vorzutäuschen, – wofür Lamprechts Arbeiten ein abschreckendes Beispiel geliefert haben.


Verfolgen wir, der außerordentlichen Bedeutung wegen, welche Wundts Ansichten auf dem Gebiet psychologischen Arbeitens zukommt, das Verhältnis von kausal erklärender Psychologie zu den »Normen« und »Werten« noch etwas weiter. Es sei vor allem betont, daß die Ablehnung jener angeblichen psychologischen »Gesetze« Wundts und die Hervorhebung des Werturteils-Charakters gewisser angeblich »psychologischer« Begriffe nicht etwa dem Streben nach Beeinträchtigung der Bedeutung und des Arbeitsgebietes der Psychologie und der ihr aggregierten »psychophysischen« Disziplinen, oder gar dem Wunsch, »Lücken« in der Geltung des Kausalprinzips für die empirischen Wissenschaften aufzuweisen, entspringt. Das gerade Gegenteil ist der Fall. Psychologie wird als empirische Disziplin erst durch Ausschaltung von Werturteilen – wie sie in Wundts »Gesetzen« stecken – möglich. Die Psychologie mag hoffen, irgendwann einmal jene Kostellationen psychischer »Elemente« festzustellen, welche kausal eindeutige Bedingungen dafür sind, daß bei uns das »Gefühl« entsteht, ein »objektiv« gültiges »Urteil« bestimmten Inhalts zu »fällen« oder »gefällt« zu haben. Die Hirnanatomie irgendeiner Zukunft mag die für diesen Tatbestand unentbehrlichen und ihn eindeutig bedingenden physischen Vorgänge ermitteln wollen. Ob dies sachlich möglich ist, fragen wir hier nicht, jedenfalls enthält die Annahme einer solchen Aufgabe keine logisch widersinnige Voraussetzung und, was die sachliche Seite anlangt, so zeigt z.B. der Begriff der »potentiellen Energie«, auf dessen Einführung das Energiegesetz ruht, ganz ebenso »unbegreifliche« (hier: unanschauliche) Bestandteile wie irgendwelche noch so verwickelten hirnanatomischen Voraussetzungen der Psychophysik zum Zweck der Erklärung des »explosions« artigen Verlaufs gewisser »Auslösungs«-vorgänge. Die Voraussetzung der Möglichkeit solcher Feststellungen ist, als ideales Ziel der psychophysischen Forschung gedacht, trotz der höchsten Wahrscheinlichkeit seiner Unerreichbarkeit, jedenfalls als Problemstellung positiv sinnvoll und fruchtbar. Es mag ferner – um noch eine andere Seite heranzuziehen – die Biologie die »psychische« Entfaltung unserer logischen Kategorien, die bewußte Verwendung des Kausalprinzips z.B., etwa als Produkt der »Anpassung« »verstehen«: man hat bekanntlich die »Schranken« unserer Erkenntnis prinzipiell daraus abzuleiten versucht, daß »das Bewußtsein« eben nur als Mittel der Erhaltung der Gattung entstanden sei und daher – weil die Erkenntnis »nur« um des Erkennens selbst willen ja Produkt des »Spieltriebs« sei – seine Sphäre nicht über das durch jene Funktion bedingte Maß ausdehnbar sei. Und man mag diese freilich dem Wesen nach »teleologische« Interpretation weiterhin durch eine mehr kausale zu ersetzen suchen, indem etwa die allmähliche Entstehung des Wissens von der Bedeutung jener Kategorie als Ergebnis ungezählter spezifischer »Reaktionen« auf gewisse, irgendwie näher zu bestimmende »Reize« im Laufe einer langen phylogenetischen Entwicklung – für die ja die nötigen Jahrmillionen gratis zur Verfügung stehen – interpretiert wird. Man mag ferner über die Verwendung so summarischer und stumpfer Kategorien, wie »Anpassung«, »Auslösung« u. dgl. in ihrer generellen Fassung hinausgehen und die speziellen »Auslösungsvorgänge«, welche die moderne Wissenschaft entbunden haben, auch streng historisch in gewissen – im weitesten Sinne des Wortes – »praktischen« Problemen zu finden suchen, vor welche konkrete Konstellationen der gesellschaftlichen Verhältnisse das Denken stellten, und weiterhin aufzeigen, wie die Verwendung bestimmter Formen des »Auffassens« der Wirklichkeit, zugleich praktische Optimalitäten der Befriedigung gewisser jeweils ausschlaggebender Interessen bestimmter sozialer Schichten darstellten, – und man mag so in einem freilich stark veränderten Sinne mit dem Satz des historischen »Materialismus«, daß der ideelle »Ueberbau« Funktion des gesellschaftlichen Gesamtzustandes sei, auch auf dem Gebiet des Denkens Ernst machen: der Satz, daß letztlich als »wahr« nur zu gelten pflege, was uns »nützlich« sei, würde so gewissermaßen historisch erhärtet werden. Jene Aufstellungen mögen sachlich sehr skeptisch zu beurteilen sein, – einen logischen Widersinn schließt dieser Satz jedenfalls erst da ein, wo »Erkenntniswert« und »praktischer Wert« konfundiert werden und die Kategorie der »Norm« fehlt, wo also behauptet wird: daß das Nützliche, weil nützlich, auch wahr sei, daß jene »praktische Bedeutung« oder jene »Auslösungs«- und Anpassungsvorgänge die Sätze der Mathematik – nicht etwa nur zu einer faktisch erkannten, sondern – zu einer normative Geltung besitzenden Wahrheit erst gemacht haben. Das wäre freilich »Unsinn«, – im übrigen finden alle jene Ueberlegungen ihre prinzipielle erkenntnistheoretische Schranke nur in dem ihrem Erkenntniszweck immanenten Sinn und die Schranken ihrer sachlichen Verwertbarkeit lediglich an der Grenze ihrer Fähigkeit, die empirisch gegebenen Tatsachen widerspruchslos derart zu »erklären«, daß die Erklärung sich »in aller Erfahrung bewährt«. Was nun aber bei idealster Lösung aller solcher Zukunftsaufgaben einer physiologischen, psychologischen, biogenetischen, soziologischen und historischen »Erklärung« des Phänomens des Denkens und bestimmter »Standpunkte« desselben natürlich gänzlich unberührt bleiben würde, das ist eben die Frage nach der Geltung der Ergebnisse unserer »Denkprozesse«, ihrem »Erkenntniswert«. Welche anatomische Vorgänge der Erkenntnis von der »Geltung« des kleinen Einmaleins korrespondieren, und wie diese anatomischen Kostellationen phylogenetisch sich entwickelt haben, dies könnten, käme es nur auf die logische Möglichkeit an, irgendwelche »exakten« Zukunftsforschungen zu ermitteln hoffen. Nur die Frage der »Richtigkeit« des Urteils: 2 x 2 = 4 ist dem Mikroskop ebenso wie jeder biologischen, psychologischen und historischen Betrachtung aus logischen Gründen für ewig entzogen. Denn die Behauptung, daß das Einmaleins »gelte«, ist für jede empirische psychologische Beobachtung und kausale Analyse einfach transzendent und als Objekt der Prüfung sinnlos, sie gehört zu den für sie gar nicht nachprüfbaren logischen Voraussetzungen ihrer eigenen psychometrischen Beobachtungen. Der Umstand, daß die Florentiner Bankiers des Mittelalters, infolge Unkenntnis des arabischen Zahlensystems, sich selbst bei ihren Erbteilungen ganz regelmäßig – wie wir vom »normativen« Standpunkt aus sagen – »verrechneten« und wirklich »richtige« Rechnungen bei größeren Posten in manchen Buchungen der damaligen Zeit beinahe die Ausnahme bilden, – dieser Umstand ist kausal genau so determiniert wie der andere: daß die »Richtigkeit« heute die Regel bildet, und wir solche Vorkommnisse bei heutigen Bankiers höchst übel zu »deuten« geneigt sein würden. Wir werden zur Erklärung jenes Zustandes in den Büchern etwa der Peruzzi alles mögliche, – nur das eine jedenfalls nicht geltend machen können, daß das kleine Einmaleins zu ihrer Zeit noch nicht »richtig« gewesen sei, ebensowenig wie seine »Richtigkeit« heute etwa erschüttert werden würde, falls eine Statistik über die Anzahl der Fälle, in denen im Laufe eines Jahres tatsächlich »unrichtig« gerechnet worden ist, ein »ungünstiges« Resultat ergeben sollte, – denn »ungünstig« wäre es eben nicht für die Beurteilung des Einmaleins auf seine Geltung hin, sondern für eine vom Standpunkt und unter Voraussetzung dieser Geltung aus vorgenommene Kritik unserer Fähigkeit im »normgemäßen« Kopfrechnen. – Würde nun – um bei dem Beispiel der intellektuellen Entwickelung zu bleiben – eine an Wundts Begriffen orientierte Betrachtungsweise auf alle diese etwas sehr simplen und natürlich von Wundt selbst am allerwenigsten bestrittenen, nur eben sachlich von ihm nicht festgehaltenen Bemerkungen antworten, daß das Prinzip der »schöpferischen Synthese« oder der »steigenden psychischen Energie« ja, unter anderm, gerade dies bedeute, daß wir im Laufe der »Kulturentwickelung« zunehmend »befähigt« werden, solche zeitlos gültigen »Normen« intellektuell zu erfassen und »anzuerkennen«, dann wäre damit lediglich konstatiert, daß diese angeblich empirisch-»psychologische« Betrachtung eben keine im Sinne der Abwesenheit von Wertungen »voraussetzungslose« empirische Analyse, sondern eine Beurteilung der »Kulturentwickelung« unter dem Gesichtspunkt eines bereits als geltend vorausgesetzten »Werts«: des Werts »richtiger« Erkenntnis, darstellt. Denn jenes angebliche »Gesetz« der »Entwickelung« würde dann nur da eben als vorhanden anerkannt, wo sich eine Veränderung in der Richtung auf die Anerkennung jener »Normen« hin bewegte113. Dieser Wert – an welchem der Sinn unseres gesamten wissenschaftlichen Erkennens verankert ist – versteht sich aber doch nicht etwa »empirisch« von selbst. Während, wenn wir z.B. den Zweck wissenschaftlicher Analyse der empirisch gegebenen Wirklichkeit als wertvoll – es sei aus welchen Motiven immer – anerkennen wollen, bei der wissenschaftlichen Arbeit selbst die »Normen« unseres Denkens sich ihre Beachtung (soweit sie uns bewußt bleiben und solange zugleich jener Zweck festgehalten wird) erzwingen, – ist der »Wert« jenes Zweckes selbst etwas aus der Wissenschaft als solcher ganz und gar nicht begründbares. Ihr Betrieb mag in den Dienst klinischer, technischer, ökonomischer, politischer oder anderer »praktischer« Interessen gestellt sein: dann setzt, für die Wertbeurteilung, ihr Wert denjenigen jener Interessen voraus, welchen sie dient, und dieser ist dann ein »a priori«. Gänzlich problematisch aber wird dann, rein empirisch betrachtet, der »Wert« der »reinen Wissenschaft«. Denn, empirisch-psychologisch betrachtet, ist der Wert der »um ihrer selbst willen« betriebenen Wissenschaft ja nicht nur praktisch, von gewissen religiösen Standpunkten und etwa demjenigen der »Staatsraison« aus, sondern auch prinzipiell unter Zugrundelegung radikaler Bejahung rein »vitalistischer« Werte oder umgekehrt radikaler Lebensverneinung tatsächlich bestritten worden, und ein logischer Widersinn liegt in dieser Bestreitung ganz und gar nicht oder nur dann, wenn etwa verkannt würde, daß damit eben lediglich andere Werte als dem Wert der wissenschaftlichen Wahrheit übergeordnet angesprochen werden. –


Es würde nun zu weit führen, nach diesen umständlichen Darlegungen von »Selbstverständlichkeiten« hier auch noch zu erörtern, daß für andere Werte genau das gleiche gilt, wie für den Wert des Strebens nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Es gibt schlechterdings keine Brücke, welche von der wirklich nur »empirischen« Analyse der gegebenen Wirklichkeit mit den Mitteln kausaler Erklärung zur Feststellung oder Bestreitung der »Gültigkeit« irgendeines Werturteils führt, und die Wundtschen Begriffe der »schöpferischen Synthese«, des »Gesetzes« der stetigen »Steigerung der psychischen Energie« usw. enthalten Werturteile vom reinsten Wasser. Verdeutlichen wir uns nur kurz noch die Denkmotive, welche zu diesen Aufstellungen geführt haben. Sie sind ganz offenbar darin zu finden, daß wir eben die Entwickelung derjenigen Völker, die wir »Kulturvölker« nennen, als Wertsteigerung beurteilen, und daß dies Werturteil, welches den Ablauf qualitativer Veränderungen, den wir an ihnen feststellen, als eine Kette von Wertungleichungen aufgefaßt werden läßt, eben dadurch unser »historisches Interesse« in spezifischer Art auf sie hinlenkt, – bestimmter ausgedrückt: dafür konstitutiv wird, daß diese Entwickelungen für uns »Geschichte« werden. Und jene durch unsere Wertbeurteilung hergestellten Wertungleichungen, die Erscheinungen des historischen Wert- und Bedeutungswandels, der Umstand, daß jene Bestandteile des zeitlichen Ablaufes des Geschehens, welche wir als »Kulturentwickelung« bewerten und so aus der Sinnlosigkeit der endlosen Flucht unendlicher Mannigfaltigkeiten herausheben, eben für unser Werturteil in gewissen wichtigen Hinsichten, – so namentlich am Maßstabe des Umfanges der »Erkenntnis« gemessen – »Fortschritte« zeigen: – dies alles erzeugt nun den metaphysischen Glauben, als ob, auch bei Abstraktion von unserer wertenden Stellungnahme, aus dem Reiche der zeitlosen Werte in das Reich des historischen Geschehens durch Vermittelung, sei es der genialen »Persönlichkeit«, sei es der »sozialpsychischen Entwickelung«, ein Jungbrunnen hinübersprudle, welcher den »Fortschritt« der Menschheitskultur in die zeitlich unbegrenzte Zukunft hinein »objektiv« stets von neuem erzeuge.


Diesem »Fortschritts«-Glauben stellt sich Wundts »Psychologie« als Apologet zur Verfügung. Und den gleichen, – vom Standpunkt einer empirischen Psychologie aus gesprochen: – metaphysischen Glauben teilte offenbar auch Knies. Und sicherlich hatte er sich dieses Glaubens zu schämen keinen Anlaß, nachdem ihm ein Größerer eine in ihrer Art klassische Form gegeben hatte. Kants »Kausalität durch Freiheit« ist, zusammen mit den mannigfachen Verzweigungen, welche in der weiteren Entwickelung des philosophischen Denkens aus diesem Begriff hervorgewachsen waren, der philosophische Archetypos aller metaphysischen »Kultur«- und »Persönlichkeits«-Theorien dieser Art. Denn jenes Hineinragen des intelligiblen Charakters in die empirische Kausalverkettung vermittelst der ethisch normgemäßen Handlungen läßt sich ja mit der größten Leichtigkeit zu der Anschauung verschieben und verbreitern, daß entweder alles Normgemäße in ähnlicher Art aus der Welt der »Dinge an sich« in die empirische Wirklichkeit hineinverwebt sein müsse oder daß, noch weiter, aller Wertwandel in der Wirklichkeit durch »schöpferische« Kräfte hervorgebracht werde, welche einer spezifisch anderen Kausalität unterliegen als andere, für unser »Werturteil« indifferente qualitative Veränderungsreihen. In dieser letzteren Form taucht jene Gedankenreihe, freilich arg degeneriert gegenüber dem – trotz aller Widersprüche, in die er bei jeder näheren Erwägung führt – grandiosen und vor allem in seinem logischen Wesen rückhaltlos unverhüllten Charakter des Kantschen Gedankens, in dem Wundtschen Begriff der »schöpferischen Synthese« und des Gesetzes der »steigenden psychischen Energie« auf. –


Ob und welcher Sinn solchen Aufstellungen etwa auf dem Gebiet metaphysischer Betrachtungen zukommen könnte, bleibt hier ganz dahingestellt, und ebenso sind die sachlichen Schwierigkeiten der »Kausalität durch Freiheit« und aller ihr verwandten Konstruktionen, welche wohl gerade auf dem metaphysischen Gebiet beginnen dürften, hier nicht zu besprechen114. Jedenfalls ist der »Psychologismus«, d.h. hier: die Prätension der Psychologie, »Weltanschauung« zu sein oder zu schaffen, ganz ebenso sinnlos und für die Unbefangenheit der empirischen Wissenschaft ganz ebenso gefährlich wie der »Naturalismus« auf Grundlage sei es der Mechanik, sei es der Biologie auf der einen, der »Historismus« auf Grundlage der »Kulturgeschichte« auf der anderen Seite115.


Daß mit diesem angeblichen »Prinzip« des psychischen Geschehens für irgendeine Psychologie absolut nicht das Geringste anzufangen ist, hat bereits Münsterberg116 zur Evidenz erwiesen. Das »objektivierte«, d.h. von der Beziehung auf Wertideen gelöste »psychische« Geschehen kennt eben lediglich den Begriff der qualitativen Veränderung, und die objektivierte kausale Beobachtung dieser Veränderung denjenigen der Kausalungleichung. Der Begriff des »Schöpferischen« kann erst da in Funktion treten, wo wir individuelle Bestandteile jener »an sich« durchaus indifferenten Veränderungsreihen auf Werte zu beziehen beginnen. Tun wir dies aber, dann kann, wie gesagt, die Entstehung des Sonnensystems aus irgendeinem Urnebel oder, wenn man für die Anwendbarkeit des Begriffs auf die Plötzlichkeit des Ereignisses Gewicht legen will, der Einbruch des Dollart ganz ebenso unter den Begriff des »Schöpferischen« gebracht werden wie die Entstehung der Sixtinischen Madonna oder das Erdenken von Kants Kritik der reinen Vernunft. – Aus irgendeinem von Werturteilen freien, »objektiven«, Merkmal der Art ihrer kausalen Wirkungsweise kann eine spezifische »schöpferische Bedeutung« der »Persönlichkeiten« oder des »menschlichen Handelns« nicht abgeleitet werden. Dies allein – so selbstverständlich es ist – sollte hier ausdrücklich festgestellt werden.


In welchem Sinn im übrigen der Historiker den Begriff des »Schöpferischen« verwendet und mit »subjektivem« Recht verwenden darf, erörtern wir hier nicht. Vielmehr wenden wir uns wieder mehr dem Ausgangspunkt dieser Erörterungen – der Ansicht von Knies – durch einige Bemerkungen zu, betreffend den Glauben an die spezifische Irrationalität des menschlichen Handelns oder der menschlichen »Persönlichkeit«. Wir nehmen hier den Begriff »Irrationalität« zunächst einfach in dem vulgären Sinn von jener »Unberechenbarkeit«, welche, nach der Meinung von Knies und, noch immer, so vieler anderer, das Symptom der menschlichen »Willensfreiheit« sein soll, und auf welche, – daß sie es nämlich mit solchen, vermöge dieser Unberechenbarkeit spezifisch reputierlichen Wesen zu tun hätten, – eine Art von spezifischer Dignität der »Geisteswissenschaften« zu begründen versucht wird. Nun ist ja zunächst in der »erlebten« Wirklichkeit von einer spezifischen »Unberechenbarkeit« menschlichen Tuns ganz und gar nichts zu spüren. Jedes militärische Kommando, jedes Strafgesetz, ja jede Aeußerung, die wir im Verkehr mit anderen machen, »rechnet« auf den Eintritt bestimmter Wirkungen in der »Psyche« derer, an die sie sich wendet, – nicht auf eine absolute Eindeutigkeit in jeder Hinsicht und bei allen, aber auf eine für die Zwecke, denen das Kommando, das Gesetz, die konkrete Aeußerung überhaupt dienen wollen, genügende. Sie tut dies, logisch betrachtet, in ganz und gar keinem anderen Sinn, als »statische« Berechnungen eines Brückenbaumeisters, agrikulturchemische Berechnungen eines Landwirts und physiologische Erwägungen eines Viehzüchters, und diese wieder sind »Berechnungen« in demselben Sinn, in dem die ökonomischen Erwägungen eines Arbitrageurs und Terminmaklers es auch sind: jede von diesen »Berechnungen« begnügt sich mit dem für sie erforderlichen und bescheidet sich mit dem für ihre spezifischen Zwecke nach Lage ihres Quellenmaterials in concreto erreichbaren Maß von »Exaktheit«. Ein prinzipieller Unterschied gegen »Naturvorgänge« besteht nicht. Die »Berechenbarkeit« von »Naturvorgängen« in der Sphäre von »Wetterprophezeiungen« etwa ist nicht entfernt so »sicher« wie die »Berechnung« des Handelns einer uns bekannten Person, ja, sie ist einer Erhebung zur gleichen Sicherheit auch bei noch so großer Vervollkommnung unseres nomologischen Wissens gar nicht fähig. So steht es aber überall, wo nicht bestimmte, abstrahierte Relationen, sondern die volle Individualität eines künftigen »Naturvorgangs« in Frage steht117. Schon die allertrivialsten Erwägungen zeigen aber ferner, daß auch auf dem Gebiet des kausalen Regressus die Dinge in gewissem Sinn gerade umgekehrt liegen als die »Unberechenbarkeitsthese« annimmt, jedenfalls aber von einem auch bei Abstraktion von unsern Wertgesichtspunkten gültig bleibenden, also in diesem Sinn »objektiven« Plus an jener Art von Irrationalität auf seiten des menschlichen »Handelns« schlechterdings nicht die Rede sein kann.


Wenn der Sturm einen Block von einer Felswand herabgeschleudert hat, und er dabei in zahlreiche verstreut liegende Trümmer zersplittert ist, dann ist die Tatsache und, – jedoch schon ziemlich unbestimmt, – die allgemeine Richtung des Falles, die Tatsache und vielleicht – aber wiederum ziemlich unbestimmt – der allgemeine Grad des Zersplitterns, günstigenfalls bei vorausgegangener eingehender Beobachtung auch noch die ungefähre Richtung des einen oder anderen Sprunges, aus bekannten mechanischen Gesetzen kausal »erklärbar« im Sinn des »Nachrechnens«. Aber beispielsweise: in wie viele und wie geformte Splitter der Block zersprang, und wie gruppiert diese verstreut liegen, – für diese und eine volle Unendlichkeit ähnlicher »Seiten« des Vorganges würde, obwohl auch sie ja rein quantitative Beziehungen darstellen, unser kausales Bedürfnis, wenn es aus irgendeinem Grunde einmal auf ihre Kenntnis ankäme, sich mit dem Urteil begnügen, daß der vorgefundene Tatbestand eben nichts »Unbegreifliches«, – das heißt aber: nichts mit unserem »nomologischen« Wissen im Widerspruch Stehendes – enthalte. Ein wirklich kausaler »Regressus« aber würde uns nicht nur wegen der absoluten »Unberechenbarkeit« dieser Seiten des Vorganges – weil die konkreten Determinanten spurlos für uns verloren sind – gänzlich unmöglich, sondern auch, abgesehen davon, gänzlich »zwecklos« erscheinen. Unser Bedürfnis nach Kausalerklärung würde erst wieder erwachen, wenn innerhalb jenes Resultates des Felsabsturzes eine Einzelerscheinung aufträte, die auf den ersten Blick im Widerspruch mit den uns bekannten »Naturgesetzen« zu stehen schiene. – So einfach dieser Sachverhalt liegt, so ist es doch gut, sich so klar wie möglich darüber zu werden, daß diese höchst unbestimmte, jedes sachlich begründete Notwendigkeitsurteil ausschließende, Form der kausalen Erklärung – bei welcher die universelle Geltung des »Determinismus« reines a priori bleibt – durchaus typisch ist für den Hergang der »kausalen« Erklärung von konkreten Einzelhergängen. – Mit im Prinzip durchaus gleichartigen Formen der Befriedigung unseres Kausalbedürfnisses wie in diesem trivialen Falle müssen nicht nur Wissenschaften wie die Meteorologie, sondern auch die Geographie und die Biologie außerordentlich häufig antworten, sobald wir an sie mit dem Begehren der Erklärung konkreter Einzelerscheinungen herantreten. Und wie unendlich weit [entfernt] von aller »exakten« Zurechnung festgestellter (oder vermuteter) phylogenetischer Vorgänge z.B. der biologische Begriff der »Anpassung« ist, wie fremd ihm namentlich kausale Notwendigkeitsurteile sind, braucht heute wohl kaum mehr hervorgehoben zu werden118. Wir begnügen uns eben in solchen Fällen damit, daß die konkrete Einzelerscheinung im allgemeinen als »begreiflich« interpretiert ist, d.h. nichts unserem nomologischen Erfahrungswissen direkt Zuwiderlaufendes enthält, und wir üben diese Genügsamkeit teils – wie bei den Erscheinungen der Phylogenese – überwiegend deshalb, weil wir jetzt und vielleicht für immer nicht mehr wissen können, teils – wie in jenem Beispiel vom Felsabsturz – weil wir überdies nicht mehr zu wissen das Bedürfnis empfinden.


Die Möglichkeit kausaler Notwendigkeitsurteile ist bei der »Erklärung« konkreter Vorgänge nicht etwa die Regel, sondern die Ausnahme, und sie beziehen sich stets nur auf einzelne, allein in Betracht gezogene Bestandteile des Vorganges unter Abstraktion von einer Unendlichkeit anderer, die als »gleichgültig« beiseite bleiben müssen und können. Aehnlich komplex und individuell verzweigt, wie in dem Beispiel von der Gruppierung der Felsblocksplitter, liegen nun die Chancen des kausalen Regressus normalerweise auf dem Gebiet des geschichtlich relevanten menschlichen Tuns, sei es, daß es sich um konkrete, geschichtlich relevante Handlungen eines Einzelnen, oder daß es sich etwa um den Ablauf einer Veränderung innerhalb der sozialen Gruppenverhältnisse handelt, an deren Herbeiführung viele Einzelne in komplexer Verschlingung beteiligt gewesen sind. Und da man in jenem Beispiel von der Gruppierung der Felssplitter durch weiteres Hineinsteigen in die Einzelheiten des Herganges und Ergebnisses die Zahl der möglicherweise mit in Betracht zu ziehenden ursächlichen Momente »größer machen kann als jede gegebene, noch so große Zahl«, da also dieser Vorgang, wie jeder scheinbar noch so einfache individuelle Hergang, eine intensive Unendlichkeit des Mannigfaltigen enthält, sobald man ihn als eine solche sich ins Bewußtsein bringen will, – so kann kein noch so komplexer Ablauf menschlicher »Handlungen« prinzipiell »objektiv« mehr »Elemente« in sich enthalten, als sie selbst in jenem einfachen Vorgang der physischen Natur sich auffinden lassen. Unterschiede aber gegenüber jenem »Naturvorgang« finden sich in folgender Richtung:


1. Unser kausales Bedürfnis kann bei der Analyse menschlichen Sichverhaltens eine qualitativ andersartige Befriedigung finden, welche zugleich eine qualitativ andere Färbung des Irrationalitätsbegriffs nach sich zieht. Wir können für seine Interpretation uns, wenigstens prinzipiell, das Ziel stecken, es nicht nur als »möglich« im Sinn der Vereinbarkeit mit unserem nomologischen Wissen »begreiflich« zu machen, sondern es zu »verstehen«, d.h. ein »innerlich« »nacherlebbares« konkretes »Motiv« oder einen Komplex von solchen zu ermitteln, dem wir es, mit einem je nach dem Quellenmaterial verschieden hohen Grade von Eindeutigkeit, zurechnen. Mit anderen Worten: individuelles Handeln ist, seiner sinnvollen Deutbarkeit wegen, – soweit diese reicht, – prinzipiell spezifisch weniger »irrational« als der individuelle Naturvorgang. Soweit die Deutbarkeit reicht: denn wo sie aufhört, da verhält sich menschliches Tun wie der Absturz jenes Felsblocks: die »Unberechenbarkeit« im Sinn der fehlenden Deutbarkeit ist, mit anderen Worten, das Prinzip des »Verrückten«. Wo es für unser historisches Erkennen auf ein im Sinne der Undeutbarkeit »irrationales« Verhalten einmal ankommt, da muß freilich unser kausales Bedürfnis regelmäßig sich mit einem an dem nomologischen Wissen etwa der Psychopathologie oder ähnlicher Wissenschaften orientierten »Begreifen« ganz in dem Sinn begnügen, wie bei der Gruppierung jener Felssplitter, – aber eben auch nicht mit weniger. Den Sinn dieser qualitativen Rationalität »deutbarer« Vorgänge kann man sich leicht veranschaulichen. Daß bei einem konkreten Würfeln mit dem Würfelbecher die Sechs nach oben fällt, ist, – sofern der Würfel nicht »falsch« ist, – durchaus jeder kausalen Zurechnung entzogen. Es erscheint uns als »möglich«, d.h. gegen unser nomologisches Wissen nicht verstoßend, aber die Ueberzeugung, daß es »notwendig« so kommen mußte, bleibt reines a priori. Daß in einer sehr großen Zahl von Würfen sich – »Richtigkeit« des Würfels vorausgesetzt – die nach oben fallenden Zahlen annähernd gleich auf alle sechs Flächen verteilen, erscheint uns »plausibel«, wir »begreifen« diese empirisch feststellbare Geltung des »Gesetzes der großen Zahlen« dergestalt, daß das Gegenteil: – dauernde Begünstigung gewisser einzelner Zahlen trotz immer weiterer Fortsetzung des Würfelns, – uns die Frage nach dem Grunde, dem dieser Unterschied zuzurechnen sein könnte, aufdrängen würde. Aber das Charakteristische ist offenbar die wesentlich »negative« Art, in der hier unser kausales Bedürfnis abgespeist wird, verglichen mit der »Deutung« statistischer Zahlen, welche z.B. die Einwirkung bestimmter ökonomischer Veränderungen etwa auf die Heiratsfrequenz wiedergeben und welche durch unsere eigene, von der Alltagserfahrung geschulte, Phantasie zu einer wirklich positiv kausalen Deutung aus »Motiven« heraus wird. Und während auf dem Gebiet des »Undeutbaren« der individuelle Einzelvorgang: – der einzelne Wurf mit dem Würfel, die Splitterung des abstürzenden Felsens – durchaus irrational in dem Sinn blieb, daß wir uns mit dem Feststehen der nomologischen Möglichkeit: – Nichtwiderspruch gegen Erfahrungsregeln – begnügen mußten und erst die Vielheit der Einzelfälle unter bestimmten Voraussetzungen darüber hinaus zu »Wahrscheinlichkeitsurteilen« zu führen vermochte, – gilt uns z.B. das Verhalten Friedrichs II. im Jahre 1756, in einer einzelnen höchst individuellen Situation also, nicht nur als nomologisch »möglich«, wie jene Felssplitterung, sondern als »teleologisch« rational, nicht in dem Sinn, daß wir in kausaler Zurechnung zu einem Notwendigkeitsurteil gelangen könnten, wohl aber dergestalt, daß wir den Vorgang als »adäquat verursacht«, – d.h. als, bei Voraussetzung bestimmter Absichten und (richtiger oder fälschlicher) Einsichten des Königs und eines dadurch bestimmten rationalen Handelns, »zureichend« motiviert finden. Die »Deutbarkeit« ergibt hier ein Plus von »Berechenbarkeit«, verglichen mit den nicht »deutbaren« Naturvorgängen. Sie steht, rein auf den Modus der Befriedigung des Kausalitätsbedürfnisses hin angesehen, den Fällen der »großen Zahlen« gleich. Und selbst wenn die »rationale« Deutbarkeit aus Absichten und Einsichten mangelt, also z.B. »irrationale« Affekte hineinspielen, bleibt das Verhältnis wenigstens möglicherweise noch ein ähnliches, da wir auch sie, bei Kenntnis des »Charakters«, als in ihrer Wirkung »verständliche« Faktoren in die Zurechnung einzustellen vermögen. Erst wenn wir, wie zuweilen bei Friedrich Wilhelm IV., auf [eine] direkt pathologische, die Deutung ausschließende Sinn- und Maßlosigkeit des Reagierens stoßen, gelangen wir zu dem gleichen Maß von Irrationalität wie bei jenen Naturvorgängen. In gleichem Maße aber, wie die Deutbarkeit abnimmt (und also die »Unberechenbarkeit« sich steigert), pflegen wir – und hier ergibt sich der Zusammenhang dieser Erörterungen mit unserem Problem – dem Handelnden die »Willensfreiheit« (im Sinn der »Freiheit des Handelns«)119 abzusprechen: es zeigt sich mit andern Worten schon hier, daß »Freiheit« des Handelns (wie immer der Begriff gedeutet werden möge) und Irrationalität des historischen Geschehens, wenn überhaupt in irgendeiner allgemeinen Beziehung, dann jedenfalls nicht in einem solchen Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit durch einander stehen, daß Vorhandensein oder Steigerung des einen auch Steigerung des anderen bedeuten würde, sondern – wie sich immer deutlicher ergeben wird – gerade umgekehrt.


2. Unser kausales Bedürfnis verlangt nun aber auch, daß da, wo die Möglichkeit der »Deutung« prinzipiell vorliegt, sie vollzogen werde, d.h. die bloße Beziehung auf eine lediglich empirisch beobachtete noch so strenge Regel des Geschehens genügt uns bei der Interpretation menschlichen »Handelns« nicht. Wir verlangen die Interpretation auf den »Sinn« des Handelns hin. Wo dieser »Sinn« – wir lassen vorerst ununtersucht, welche Probleme dieser Begriff birgt – im Einzelfall unmittelbar evident feststellbar ist, da bleibt es uns gleichgültig, ob sich eine »Regel« des Geschehens formulieren läßt, die den konkreten Einzelfall umfaßt120. Und andrerseits kann die Formulierung einer solchen Regel, selbst wenn sie den Charakter strenger Gesetzmäßigkeit an sich tragen würde, niemals dahin führen, daß die Aufgabe »sinnvoller« Deutung durch die einfache Bezugnahme auf sie ersetzt werden könnte. Ja, noch mehr: solche »Gesetze« »bedeuten« uns bei der Interpretation des »Handelns« an sich noch gar nichts. Gesetzt, es gelänge irgendwie der strengste empirisch-statistische Nachweis, daß auf eine bestimmte Situation seitens aller ihr jemals ausgesetzt gewesenen Menschen immer und überall in, nach Art und Maß, genau der gleichen Weise reagiert worden sei und, sooft wir die Situation experimentell schaffen, noch immer reagiert werde, dergestalt also, daß diese Reaktion im wörtlichsten Sinn des Wortes »berechnet« werden könnte, – so würde das an sich die »Deutung« noch keinen Schritt weiterbringen; denn es würde ein solcher Nachweis, für sich allein, uns noch nicht im mindesten in die Lage versetzen, zu »verstehen«, »warum« überhaupt jemals und vollends, warum immer in jener Art reagiert worden sei. Wir würden solange dieses Verständnis nicht besitzen, als uns eben nicht auch die Möglichkeit »innerer« »Nachbildung«121 der Motivation in der Phantasie gegeben wäre: ohne diese würde der denkbar umfassendste empirisch-statistische Nachweis der Tatsache einer gesetzmäßig auftretenden Reaktion mithin hinter den Anforderungen, die wir an die Geschichte und die ihr in dieser Hinsicht verwandten »Geisteswissenschaften« – wir lassen es, wie gesagt, zunächst ganz dahingestellt, welche diese sind – stellen, der Erkenntnisqualität nach zurückbleiben. –


Man hat nun infolge dieser Inkongruenz der formalen Erkenntnisziele der »deutenden« Forschung mit den Begriffsgebilden der »gesetzeswissenschaftlichen« Arbeit die Behauptung aufgestellt, daß die Geschichte und andere ihr verwandte »subjektivierende« Wissenschaften, z.B. auch die Nationalökonomie, es mit einem prinzipiell andersartigen Sein als Objekt zu tun haben, als alle jene Wissenschaften, welche, wie Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, auf die Bildung von Allgemeinbegriffen auf dem Wege der in »Induktion«, »Hypothesenbildung« und Verifizierung der Hypothesen an den »Tatsachen« verlaufenden »objektivierenden Erfahrung« ausgehen. Nicht um die von keinem Verständigen geleugnete absolute Gegensätzlichkeit alles »physischen« zu allem »psychischen« Sein handelt es sich dabei, sondern um eine Ansicht, nach welcher jenes »Sein«, welches »Objekt« einer analytischen Betrachtung überhaupt werden könne: – »physisches« wie »psychisches« –, prinzipiell in einem ganz anderen Sinne »sei«, wie diejenige Wirklichkeit, die wir unmittelbar »erleben« und innerhalb deren der Begriff des »Psychischen«, wie ihn die »Psychologie« verwertet, gar nicht anwendbar sei. Eine solche Auffassung würde nun auch dem von uns bisher noch gar nicht näher analysierten Begriffe der »Deutung« eine prinzipielle Grundlage geben: in dieser Art des Erkennens würde offenbar die »subjektivierende« Methode ihre eigentümliche Ausdrucksform besitzen. Die Kluft zwischen jenen beiden Arten von Wissenschaften würde aber offenbar die Gültigkeit aller Kategorien des »objektivierenden« Erkennens: »Kausalität«, »Gesetz«, »Begriff«, problematisch werden lassen. Die Grundthesen einer derartigen Wissenschaftstheorie sind wohl am konsequentesten in Münsterbergs »Grundzügen der Psychologie« entwickelt und haben alsbald die Theorie der »Kulturwissenschaften« zu beeinflussen begonnen. So wenig hier eine erschöpfende Kritik des geistvollen122 Buches am Platze ist, so kann doch, da hier der Begriff der Irrationalität des »Persönlichen« und derjenige der »Persönlichkeit« selbst einen ganz anderen Sinn zu erhalten scheint, eine Stellungnahme wenigstens zu denjenigen seiner Aufstellungen nicht umgangen werden, welche das Problem der Kausalität auf dem Gebiete menschlichen Handelns berühren und in diesem Sinne von einigen Autoren – namentlich F. Gottl – für die Erkenntnistheorie der Geschichte und der ihr verwandten Wissenschaften nutzbar gemacht worden sind. Münsterbergs Gedankengang bezüglich der für uns hier wesentlichen Punkte123 läßt sich wohl etwa so zusammenfassen: Das »Ich« des wirklichen Lebens, wie wir es in jedem Augenblicke »erleben«, kann nicht Objekt analysierender, mit Begriffen, Gesetzen und kausaler »Erklärung« operierender Forschung sein, denn es wird niemals in gleichem Sinn »vorgefunden« wie z.B. unsere »Umgebung«, es ist von »unbeschreibbarer« Art. Und ebenso die von ihm wirklich »gelebte« Welt. Denn jenes Ich ist nie nur anschauend, sondern stets und in jedem Augenblick »stellungnehmend, bewertend, beurteilend«, und die Welt kommt daher für dieses Ich – für jeden von uns, solange er »wirkt« – gar nicht als »beschreibbar«, sondern nur als »bewertbar« in Betracht. Erst wenn ich zum Zweck der Mitteilung und Erklärung die Welt als der Abhängigkeit vom Ich entzogen denke, wird sie zu einem »lediglich wahrgenommenen« Tatsachenkomplex. Schon hier ist einzuschalten, daß in dieser Theorie, wenn wir sie wörtlich verstehen wollten, offenbar die rationale Ueberlegung der Mittel zum Zweck eines konkreten »Wirkens« und der möglichen Folgen eines erwogenen Handelns keine Stätte als Teil des noch unobjektivierten »Erlebens« hätten, denn in jeder solchen Ueberlegung wird die »Welt« als »wahrgenommener Tatsachenkomplex« unter der Kategorie der Kausalität zum »Objekt«. Ohne »erfahrene« Regeln des Ablaufs des Geschehens, wie sie nur durch »objektivierende« bloße »Wahrnehmung« zu gewinnen sind, kein »rationales« Handeln124. Darauf würde indessen Münsterberg entgegnen, daß allerdings die Objektivierung der »Welt« zum Zweck der Erkenntnis letztlich in jenem rationalen Handeln wurzele, welches für seinen Zweck der Welt des »Erlebten« einen Kosmos des »Erfahrenen« unterbaut, um unsere »Erwartung« der Zukunft behufs Stellungnahme zu sichern, und daß hier tatsächlich die Quelle aller mit Begriffen und Gesetzen arbeitenden Wissenschaft liege. Die »Erfahrung« aber, welche die objektivierende Wissenschaft schaffe, sei erst möglich nach Loslösung der Wirklichkeit von der Aktualität des wirklich Erlebten. Sie sei ein für bestimmte, ursprünglich praktische, später logische Zwecke geschaffenes, unwirkliches Abstraktionsprodukt. Das aktuelle »Wollen« insbesondere werde nie in dem gleichen Sinne »erlebt«, wie man sich der Willensobjekte – welche nachher Gegenstände der »objektivierenden« Wissenschaften werden – »bewußt« werde (S. 51) und sei daher von allem »vorgefundenen« Erfahrungsinhalt prinzipiell verschieden. Man wird zunächst geneigt sein, hiergegen einzuwenden, daß es sich dabei doch lediglich um die »Verschiedenheit« des »Existenten« selbst vom »Existenzialurteil« handle, welch letzteres von uns an einem konkreten (auch eignen) Wollen genau ebenso realisiert werden könne und tatsächlich werde, wie an irgendeinem »Objekt«. Daß das Wollen existent ist, d.h. also »erlebt« wird, ist natürlich – aber ganz wie bei »wahrgenommenen« Objekten – etwas logisch anderes, als daß wir von diesem Erlebnis »wissen«. Münsterberg würde hierauf entgegnen, seine Ansicht besage ja nur, daß erst nach vollzogener »Introjektion« des Psychischen in einen Körper, welche ihrerseits erst nach vollzogener Trennung des »Psychischen« vom »Physischen« möglich werde (eine Trennung, von der das unmittelbare »Erleben« gar nichts wisse), also erst nach vollzogener »Objektivierung« der Welt, der »Wille« Gegenstand der »Beschreibung und Erklärung« werden könne. Dieser Wille sei aber alsdann nicht mehr der »wirkliche« Wille des »aktuellen Subjektes«, sondern ein durch Abstraktion gewonnenes und nun weiter zum Gegenstand der Analyse gemachtes »Objekt«. Wir wissen – nach seiner Ansicht – nun aber auch von dem wirklichen Willen in seiner erlebten Realität. Aber dieses »Wissen« von der eignen ununterbrochen »stellungnehmenden« und wertenden »Aktualität«, und ebenso von derjenigen eines anderen stellungnehmenden, d.h. wollenden und wertenden Subjekts – Mensch, oder, wie er gelegentlich ausdrücklich hervorhebt, Tier! –, bewege sich in der Sphäre der unmittelbar gelebten Wirklichkeit, der »Welt der Werte«, bedeute deshalb auch ein unmittelbares »Verstehen«, d.h. ein Mit- und Nacherleben, Nachfühlen, Würdigen und Bewerten von »Aktualitäten« – im Gegensatz zu jenem erst durch »Objektivierung«, d.h. künstliche Loslösung vom ursprünglichen »verstehenden und wertenden« Subjekt zu erzeugenden Gegenstand des »wertfreien« analytischen Erkennens, welches seinerseits eben nicht eine Welt der Aktualität innerlich »verstehen«, sondern eine Welt der »vorgefundenen« Objekte »beschreiben« und durch Auflösung in ihre Elemente »erklären« wolle. Schon zum bloßen »Beschreiben« und vollends zum »Erklären« bedürfe aber diese »objektivierende« Erkenntnis nicht nur der »Begriffe«, sondern auch der »Gesetze«, die andrerseits auf dem Gebiet des »Verstehens« des »aktuellen« Ich als Erkenntnismittel weder wertvoll noch überhaupt sinnvoll seien. Denn die Aktualität des Ich, von der eine »Wirklichkeitswissenschaft« nicht abstrahieren könne, sei die »Welt der Freiheit« und manifestiere sich als solche dem Erkennen als die Welt des deutbar Verständlichen, »Nacherlebbaren«, eine Welt, von der wir eben jenes »erlebte« Wissen haben, welches durch die Anwendung der Mittel des »objektivierenden Erkennens«: Begriffe und Gesetze, in keiner Weise vertieft werden könne. – Da nun aber, nach Münsterberg, die »objektivierende« Psychologie ebenfalls von den erlebten Inhalten der Wirklichkeit ausgeht, um sie alsdann »beschreibend« und »erklärend« zu analysieren, so verbleibt schließlich als Gegensatz der objektivierenden und der subjektivierenden Disziplinen nur die »Abhängigkeit vom Ich«, welche von den letzteren nicht aufgegeben werden kann und soll, während die ersteren von jener Abhängigkeit nur das rein theoretische, wertfreie »Erfahrenwerden« ihrer Objekte beibehalten, und daher die Einheit des »stellungnehmenden« Ich durch ihre Konstruktionen gar nicht erreichen können, da dieses Ich eben nicht »beschreibbar«, sondern nur »erlebbar« ist. Und da die Geschichte von »Akten« der »Persönlichkeiten« berichtet, einen »Willenszusammenhang« herstellen will, bei dem menschliches Werten und Wollen in seiner vollen »erlebten« Realität »nacherlebt« wird, so ist sie eine subjektivierende Disziplin.


Daß das nur auf dem Gebiet »geistiger« Vorgänge mögliche »Einfühlen« und »Verstehen« die eigentümliche Kategorie des »subjektivierenden« Erkennens sei, daß es von ihr aus keine Brücke zu den Mitteln des objektivierenden Erkennens gebe, daß wir deshalb auch nicht berechtigt seien, nach Belieben von der einen, z.B. von der psychophysischen, zur »noëtischen« (verstehenden) Deutung eines Vorgangs gewissermaßen überzuspringen125, oder etwa Lücken, welche die eine Erkenntnisart läßt, durch die andere auszufüllen –, auf diese Sätze gründet sich – wenn man eine Anzahl offenbarer logischer Fehler streicht126 – der für uns wesentliche Gehalt dieser Münsterbergschen Auffassung von der Eigenart der Geschichte und der ihr verwandten »Geisteswissenschaften«. Nun hat schon Schopenhauer einmal gesagt, die Kausalität sei »kein Fiaker, den man beliebig halten lassen kann«. Da aber, nach Münsterberg, die Kluft zwischen »subjektivierender« und »objektivierender« Auffassung ein solches Innehalten an der Grenze des »noëtisch« Zugänglichen unvermeidlich machen würde, so verwirft er die Anwendbarkeit der Kausalitätskategorie auf das »subjektivierende« Erkennen überhaupt. Denn wenn wir, so meint er, mit der kausalen Erklärung einmal beginnen, können wir »keinesfalls mit dem Erklären aufhören«, »wenn wir zufällig auf eine Willenshandlung stoßen, die neben ihrer erfahrbaren Konstitution auch noch eine verstehbare Innentendenz hat« (S. 130). Wir müßten vielmehr alsdann versuchen, auch diese Willenshandlung in eine Reihe von (psychophysischen) Elementarprozessen aufzulösen: können wir das nicht, so »bliebe eine dunkle Stelle zurück«, die wir durch »Einfühlung« nicht (d.h. aber doch wohl nur: nicht im Sinn der Psychophysik) »erleuchten« würden (S. 131). Und umgekehrt können wir für die Erkenntnis von Subjektzusammenhängen nichts gewinnen – d.h. aber doch wohl nur: kein Mehr von »nacherlebendem« Verständnis erreichen –, wenn wir »Unverstandenes unter die Kategorie von Objektzusammenhängen bringen« (ebd.). Um nun mit den zuletzt wiedergegebenen, mehr peripherischen Argumenten zu beginnen, so sind diese jedenfalls nicht zwingend. Die »subjektivierenden« Deutungen, mit denen z.B. eine kulturhistorische Analyse etwa der Zusammenhänge zwischen religiösen und sozialen Umwälzungen in der Reformationszeit arbeiten würde, beziehen sich zunächst, soweit die »Innenseite« der Handelnden in Betracht kommt, vom Standpunkt des experimentierenden Psychologen aus betrachtet, auf Bewußtseinsinhalte von unerhört komplexem Charakter; so komplex, daß vorerst noch kaum der erste Anfang einer »Auflösung« derselben in einfache »Empfindungen« oder andere, auch nur vorläufig nicht weiter zerlegbare »Elemente« vorliegt. Diesem sehr trivialen Umstand tritt der fernere, noch trivialere, hinzu, daß schwer abzusehen ist, wie für eine solche »Auflösung«, die ja doch nur im Wege »exakter« (Laboratoriums-)Beobachtung möglich wäre, das Material jemals beschafft werden könnte. Das Entscheidende aber ist schließlich, daß die Geschichte sich ja doch keineswegs nur auf dem Gebiet jener »Innenseite« bewegt, sondern die ganze historische Konstellation der »äußeren« Welt als einerseits Motiv, andererseits Ergebnis der »Innenvorgänge« der Träger historischen Handelns »auffaßt«, – Dinge also, die in ihrer konkreten Mannigfaltigkeit nun einmal weder in ein psychologisches Laboratorium noch überhaupt in eine rein »psychologische« Betrachtung, wie immer man den Begriff der Psychologie begrenzen möge, eingehen. Und die bloße »Unzerlegbarkeit« und »teleologische Einheit« der Willenshandlung, oder vielmehr der Umstand, daß eine Wissenschaft die »Handlungen« mit ihren »Motiven« oder etwa die »Persönlichkeiten« als für sich unzerlegbar behandelt – weil für ihre Fragestellung eine Zerlegung keinem wertvollen Erkenntniszweck dienen würde –, dieser Umstand allein genügt sicherlich nicht, um diese Disziplin aus dem Umkreis der »objektivierenden« Wissenschaften zu streichen. Der Begriff der »Zelle«, mit welcher der Biologe arbeitet, zeigt in seinem Verhältnis zu physikalischen und chemischen Begriffen ganz die gleiche Erscheinung. Es ist weiterhin gar nicht abzusehen, warum nicht z.B. die exakte psychologische Analyse etwa der religiösen Hysterie einmal gesicherte Ergebnisse zeitigen könnte, welche die Geschichte als begriffliche Hilfsmittel zur kausalen Zurechnung bestimmter Einzelvorgänge ganz ebenso verwerten könnte und müßte, wie sie die brauchbaren Begriffe irgendwelcher anderen Wissenschaften, wo sie ihren Zwecken nützen, anstandslos verwendet. Wenn dies geschieht – wenn also die Geschichte sich etwa von der Pathologie belehren ließe, daß gewisse »Handlungen« Friedrich Wilhelms IV. sich gewissen von ihr ergründeten Regeln psychopathischer Reaktion fügen –, dann passiert genau das, was Münsterberg für unmöglich erklärt: daß wir »Unverstandenes« auf dem Wege der »Objektivierung« erklären127. Und daß die »subjektivierenden« Wissenschaften überall da, wo die Ergebnisse »objektivierender« Disziplinen für sie relevant werden, ähnlich verfahren, zeigt Münsterberg selbst, indem er die Verwertbarkeit experimentalpsychologischer Resultate für die Pädagogik betont128, und dabei nur den gewiß zutreffenden – aber für die Geschichte und alle theoretischen Disziplinen nicht in Betracht kommenden – Vorbehalt macht, daß der praktische Pädagoge in seiner praktischen Tätigkeit, im lebendigen Verkehr also mit den Schülern, nicht einfach zum Experimentalpsychologen werden könne und dürfe. Dies nach Münsterberg deshalb nicht, weil 1. er hier, – wo er eben, nach Münsterbergs Terminologie, »stellungnehmendes Subjekt«, eben deshalb aber nicht Mann der Wissenschaft, auch nicht einer »subjektivierenden«, ist, – Ideale des Sein-Sollenden zu verwirklichen hat, über deren Wert oder Unwert eine analytische Erfahrungswissenschaft gar kein Ergebnis zeitigen kann –, 2. weil die für pädagogische Zwecke äußerst dürftigen Ergebnisse der Experimentalpsychologie durch den »gesunden Menschenverstand« und die »praktische Erfahrung« an Bedeutung bei weitem übertroffen werden. Woher nun – um bei diesem ganz lehrreichen Beispiel einen Augenblick zu verweilen – diese letztere Erscheinung, für welche bei Münsterberg eine Begründung zu vermissen ist, und welche doch eigentlich allein interessiert? Offenbar daher, daß der konkrete Schüler oder die Vielzahl konkreter Schüler für die praktische Erziehung als Individuen in Betracht kommen, deren für die pädagogische Beeinflussung relevante Qualitäten in wichtigen Punkten durch eine ungeheure Summe von ganz konkreten Einflüssen der »Veranlagung« und des individuellen »Milieus« im weitesten Sinn dieses Wortes bedingt werden, – Einflüsse, die ihrerseits unter allen möglichen Gesichtspunkten zum Gegenstand wissenschaftlicher, auch »objektivierender« Betrachtung gemacht, sicherlich aber nicht im Laboratorium eines Psychologen experimentell hergestellt werden können. Jeder einzelne Schüler repräsentiert, vom Standpunkt der »Gesetzeswissenschaften« aus, eine individuelle Konstellation einer Unendlichkeit einzelner Kausalreihen, er kann als »Exemplar« in eine noch so große Anzahl von »Gesetzen« auch bei Erreichung des denkbaren Maximums nomologischen Wissens immer nur in der Art eingeordnet werden, daß diese Gesetze als unter Voraussetzung einer Unendlichkeit »schlechthin« gegebener Bedingungen wirkend gedacht werden. Und die »erlebte« Wirklichkeit »physischer« Vorgänge unterscheidet sich darin in absolut nichts von der »erlebten« Wirklichkeit »psychischer« Vorgänge, wie gerade Münsterberg, der nachdrücklich den sekundären, erst im Gefolge der »Objektivierung« eintretenden Charakter der Spaltung der Welt in »Physisches« und »Psychisches« betont, in keiner Weise bestreiten wird. Noch so umfassendes nomologisches Wissen – Kenntnis also von »Gesetzen«, d.h. aber: Abstraktionen – bedeutet eben hier so wenig wie sonst Kenntnis der »ontologischen« Unendlichkeit der Wirklichkeit. Daß die, zu ganz heterogenen Erkenntniszwecken gewonnene, wissenschaftlich-psychologische Kenntnis im Einzelfall einmal die »Mittel« für die Erreichung eines pädagogischen »Zweckes« nachweisen kann, ist gänzlich unbestreitbar, – ebenso sicher aber, daß dafür keinerlei Gewähr a priori bestehen kann, denn es hängt eben natürlich auch von dem Inhalt des konkreten Zweckes der pädagogischen Tätigkeit ab, inwieweit generelle »exakte« Beobachtungen der Psychologie von der Art, wie dies z.B. bei denjenigen über die Bedingungen der Ermüdung, über Aufmerksamkeit und Gedächtnis der Fall ist, auch generell und »exakt« geltende pädagogische Regeln ergeben können. Die fundamentale Eigenschaft des »einfühlenden Verständnisses« ist es nun, gerade individuelle »geistige« Wirklichkeiten in ihrem Zusammenhang derart in ein Gedankenbild fassen zu können, daß dadurch die Herstellung »geistiger Gemeinschaft« des Pädagogen mit dem oder den Schülern und damit deren geistige Beeinflussung in einer bestimmten gewollten Richtung möglich wird. Der unermeßliche Fluß stets individueller »Erlebnisse«, welcher durch unser Leben strömt, »schult« die »Phantasie« des Pädagogen – und des Schülers – und ermöglicht jenes »deutende Verständnis« des Seelenlebens, welches dem Pädagogen not tut. Inwieweit er daneben Anlaß hat, diese seine »Menschenkenntnis« durch die Besinnung auf abstrakte »Gesetze« aus dem Gebiet des »Anschaulichen« in dasjenige des »Begrifflichen« zu übertragen, und, vor allem, wieweit alsdann die logische Bearbeitung in der Richtung auf die Bildung von tunlichst »exakten« und generell geltenden Gesetzesbegriffen im Interesse der Pädagogik als wertvoll zu gelten hat, das hängt lediglich davon ab, ob für einzelne Zwecke die »exakte« Bestimmtheit einer begrifflichen Formel irgendwelche durch die »Vulgärpsychologie« nicht erreichbaren »neuen« Erkenntnisse einschließt, welche für den Pädagogen irgendwelchen praktischen Wert haben129. Bei der hochgradig »historischen« Natur der Bedingungen, mit welchen die Pädagogik zu rechnen hat, wird es sich dabei um relativ sehr kleine Enklaven innerhalb eines weiten Gebiets von »Lebenskenntnissen« handeln, welche nur eine relative, und zwar geringe, begriffliche Bestimmtheit besitzen, besitzen können und auch nur zu besitzen brauchen, um den Zwecken, um die es sich handelt, zu dienen.


Das gleiche gilt nun aber für die historischen Disziplinen. Richtig ist an den Ausführungen Münsterbergs über ihre Stellung alles, was sich auf die lediglich negative Bedeutung des nicht »Deutbaren« für die Geschichte bezieht. Erfahrungssätze der Psychopathologie und Gesetze der Psychophysik kommen für die Geschichte nur genau in dem gleichen Sinn in Betracht, wie physikalische, meteorologische, biologische Erkenntnisse. Das heißt: Es ist ganz und gar Frage des Einzelfalls, ob die Geschichte oder die Nationalökonomie von den feststehenden Ergebnissen einer psychophysischen Gesetzeswissenschaft Notiz zu nehmen Anlaß hat. Denn die zuweilen gehörte Behauptung, daß die »Psychologie« im allgemeinen oder eine erst zu schaffende besondere Art von Psychologie um deswillen für die Geschichte oder die Nationalökonomie ganz allgemein unentbehrliche »Grundwissenschaft« sein müsse, weil alle geschichtlichen und ökonomischen Vorgänge ein »psychisches« Stadium durchlaufen, durch ein solches »hindurchgehen« müßten, ist natürlich unhaltbar. Man müßte sonst, da alles »Handeln« heutiger Staatsmänner durch die Form des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, also durch Schallwellen und Tintentropfen usw. »hindurchgeht«, auch die Akustik und die Lehre von den tropfbaren Flüssigkeiten für unentbehrliche Grundwissenschaften der Geschichte halten. Die heute so populäre Meinung, es genüge, die »Bedeutung« bestimmter realer »Faktoren« für kausale Zusammenhänge des Kulturlebens aufzuweisen, um schleunigst eine spezielle Wissenschaft von diesen »Faktoren« zu gründen, übersieht, daß die erste Frage doch stets ist, ob in jenen »Faktoren« generell etwas Problematisches steckt, welches nur durch eine spezifische Methode gelöst werden kann. Wir wären vor vielen »... logien« bewahrt geblieben, wenn diese Frage regelmäßig auch nur aufgeworfen würde. – Es läßt sich – schon aus diesen Gründen – nicht einmal behaupten, daß die Geschichte a priori ein »näheres« Verhältnis zu irgendeiner Art von »Psychologie« haben müsse als zu anderen Disziplinen. Denn sie behandelt eben nicht den im Menschen durch gewisse »Reize« ausgelösten Innenvorgang um seiner selbst willen, sondern das Verhalten des Menschen zur »Welt«, in seinen »äußeren« Bedingungen und Wirkungen. Der »Standpunkt« ist dabei freilich stets ein in einem spezifischen Sinn »anthropozentrischer«. Wenn in der Geschichte Englands der schwarze Tod nicht in kausalem Regressus auf das Gebiet etwa der bakteriologischen Erkenntnis verfolgt, sondern als ein Ereignis gewissermaßen aus einer »außerhistorischen« Welt, als ein »Zufall« behandelt wird, so hat dies zunächst einfach seinen Grund in den »Kompositionsprinzipien«, denen auch jede wissenschaftliche Darstellung untersteht, ist also insoweit nicht erkenntnistheoretisch begründet. Denn eine »Geschichte des schwarzen Todes«, welche sorgsam die konkreten Bedingungen und den Verlauf der Epidemie auf Grund medizinischer Kenntnisse analysiert, ist natürlich sehr wohl möglich: – sie ist dann »Geschichte« im wirklichen Sinn des Wortes, wenn sie durch jene Kulturwerte, welche unsere Betrachtung einer Geschichte Englands in der betreffenden Zeit leiten, sich ebenfalls leiten läßt, wenn also ihr Erkenntniszweck nicht ist: Gesetze z.B. der Bakteriologie zu finden, sondern kulturhistorische »Tatsachen« kausal zu erklären. Das bedeutet nun, infolge des begrifflichen Wesens der »Kultur«, stets, daß sie darin gipfelt, uns zur Erkenntnis eines Zusammenhanges hinzuleiten, in welchen verständliches menschliches Handeln oder, allgemeiner, »Verhalten« eingeschaltet und als beeinflußt gedacht ist, da hieran sich das »historische« Interesse heftet.


Eine psychologische Begriffsbildung, welche im Interesse der »Exaktheit« unter die Grenze des »Noëtischen« herunter auf irgendwelche nicht in der empirisch gegebenen Psyche verstehend »nacherlebbare« Elemente griffe, würde für die Geschichte ganz in die gleiche Stellung rücken, wie das nomologische Wissen irgendeiner anderen Naturwissenschaft oder wie – nach der anderen Seite – irgendeine Reihe nicht verständlich deutbarer statistischer Regelmäßigkeiten. Soweit psychologische Begriffe und Regeln oder statistische Zahlen der »Deutung« nicht zugänglich sind, stellen sie Wahrheiten dar, welche von der Geschichte als »gegeben« hingenommen werden, die aber zur Befriedigung des spezifisch »historischen Interesses« nichts beitragen.


Die Verknüpfung des historischen Interesses mit der »Deutbarkeit« bleibt also als das eigentlich zu Analysierende immer wieder allein zurück.


Münsterberg trägt in die Erörterung der Bedeutung dieses Umstandes erhebliche Unklarheiten hinein. Es verwirrt sich sein Gedankengang auf das Bedenklichste namentlich dadurch, daß, um die Kluft zwischen »objektivierender« und »subjektivierender« Betrachtungsweise möglichst weit aufzureißen, bei ihm Erkenntniskategorien und Begriffe sehr heterogener Art miteinander teils terminologisch, teils sachlich verquickt werden. Es bleibt bei seinen verschiedenen Aufstellungen über jene Erkenntniskategorie zunächst unklar, inwieweit das Wortpaar »Verstehen und Bewerten« (Münsterbergs Bezeichnung der »natürlichen Betrachtung des Geisteslebens«130) eine einheitliche, oder zwei an sich verschiedene, wenn auch bei der »subjektivierenden« Betrachtungsweise in steter Gemeinschaft miteinander auftretende Formen des »subjektivierenden« Sich-Verhaltens zum »Geistesleben« bedeuten sollen. Sicher und von Münsterberg nicht bestritten ist, daß das »Bewerten« von seiten des »stellungnehmenden Subjektes« auch an nicht »geistigen«, also nicht »verstehbaren« Dingen vollzogen wird. Die Frage bleibt also, inwieweit auch ein subjektivierendes »Verstehen« – von »geistigem« Leben – ohne »Bewerten« möglich ist. Die bejahende Beantwortung könnte zweifellos erscheinen, da Münsterberg ja »normative« und »historische« subjektivierende Wissenschaften unterscheidet. Alles wird aber wieder zweifelhaft angesichts der Tatsache, daß die Tabelle der Wissenschaftsystematik, welche Münsterberg seinem Buche nachgesendet hat131, die Mutter aller »exakten« Wissenschaften: die Philologie, restlos den objektivierenden Wissenschaften zuweist, obwohl der Philologe ohne allen Zweifel (nicht nur, aber auch und in hervorragendem Maße) deutend verfährt und nicht nur bei Konjekturen – die Münsterberg vielleicht als »Teilarbeit« der Literatur-, also Kulturgeschichte ansprechen würde –, sondern ebenso bei jeder nicht rein klassifizierenden Arbeit der Grammatik ausschließlich, und – obwohl dies den »Grenzfall« darstellt – sogar bei der Lautwandellehre doch auch132 sich an das »nacherlebende Verstehen« wenden muß. Es scheint daher, als ob es auch »deutendes« wissenschaftliches Arbeiten gebe, welches dennoch »objektivierenden« Disziplinen angehört, weil es nicht »wertet«. Es spielen aber bei Münsterberg überhaupt heterogene Gesichtspunkte in das Problem hinein. Entscheidend tritt dies darin zutage, daß er das »Verstehen«, das »Einleben«, »Würdigen« und »Einfühlen« der »subjektivierenden Wissenschaften« mit »teleologischem Denken« identifiziert133.


Nun kann man ja unter »teleologischem Denken« sehr Verschiedenes verstehen. Nehmen wir zunächst an, es handle sich um die Deutung von Vorgängen aus ihrem Zweck. Dann ist sicher – und wir werden es noch näher erörtern –, daß das »teleologische Denken« einen engeren Umkreis deckt als unsere Fähigkeit des »subjektivierenden Einlebens« und »Verstehens«. Anderseits erstreckt sich teleologisches »Denken« in diesem Sinn keineswegs nur auf »Geistesleben« oder menschliches Handeln, sondern ist in allen Wissenschaften, welche mit »Organismen« – z.B. Pflanzen – zu tun haben, zum mindesten als eine höchst wichtige »Durchgangsstufe« anzutreffen. Endlich schließen die Kategorien »Zweck« und »Mittel«, ohne welche es teleologisches »Denken« überhaupt nicht gibt, sobald mit ihrer Hilfe wissenschaftlich operiert wird, gedanklich geformtes nomologisches Wissen, d.h. also: Begriffe und Regeln, an der Hand der Kausalitätskategorie entwickelt, ein. Denn es gibt zwar kausale Verknüpfung ohne Teleologie, aber keine teleologischen Begriffe ohne Kausalregeln134. – Würde unter »teleologischem Denken« dagegen lediglich die Gliederung des Stoffs durch Wertbeziehungen, also die »teleologische Begriffsbildung« oder das Prinzip der »teleologischen Dependenz« gemeint sein, in dem Sinne, in welchem Rickert und nach ihm andere diese Begriffe verwenden135, so hätte dies natürlich weder mit einem »Ersatz« der Kausalität durch irgendwelche »Teleologie«, noch mit einem Gegensatz zur »objektivierenden« Methode irgend etwas zu tun, da es sich hier lediglich um ein Prinzip der Auswahl des für die Begriffsbildung Wesentlichen durch Beziehung auf Werte handelt, die »Objektivierung« und Analysis der Wirklichkeit also dabei gerade vorausgesetzt wird. –


Man könnte nun aber die Verwendung »teleologischen Denkens« in den historischen Disziplinen etwa darin finden wollen, daß sie Begriffe »normativer« Disziplinen, z.B. namentlich solche der Jurisprudenz, übernehmen und verwenden. – Nun ist selbstverständlich die juristische Begriffsbildung keine »kausale«. Sie erfolgt, soweit sie begriffliche Abstraktion ist, unter der Fragestellung: wie muß der zu definierende Begriff X gedacht werden, damit alle diejenigen positiven Normen, welche jenen Begriff verwenden oder voraussetzen, widerspruchslos und sinnvoll, neben-und miteinander bestehen können? Es steht nichts im Wege, diese Art der Begriffsbildung, welche die eigenartige »subjektive Welt« der juristischen Dogmatik konstituiert, »teleologisch« zu nennen136. Allein so selbstverständlich die Bedeutung der so gewonnenen juristischen Begriffsgebilde gegenüber den Begriffsbildungen aller kausal erklärenden Disziplinen gänzlich autonom ist, mit kausaler Interpretation der Wirklichkeit gar nichts zu schaffen hat, – so unzweifelhaft ist es, daß die Geschichte und alle Spielarten der nicht normativen »Gesellschaftswissenschaften« diese Begriffsbildungen in ganz anderem Sinne verwerten als die juristische Dogmatik. Für letztere steht der begriffliche Geltungsbereich gewisser Rechtsnormen, für jede empirisch-geschichtliche Betrachtung dagegen das faktische »Bestehen« einer »Rechtsordnung«, eines konkreten »Rechtsinstituts« oder »Rechtsverhältnisses« nach Ursachen und Wirkungen in Frage. Sie finden als diesen »faktischen Bestand« in der historischen Wirklichkeit die »Rechtsnormen« einschließlich der Produkte der dogmatisch-juristischen Begriffsbildung lediglich als in den Köpfen der Menschen vorhandene Vorstellungen vor, als einen der Bestimmungsgründe ihres Wollens und Handelns neben anderen, und sie behandeln diese Bestandteile der objektiven Wirklichkeit wie alle anderen: kausal zurechnend. Das »Gelten« eines bestimmten »Rechtssatzes« kann z.B. für die abstrakte ökonomische Theorie unter Umständen begrifflich sich auf den Inhalt reduzieren: daß bestimmte ökonomische Zukunftserwartungen eine an Sicherheit grenzende faktische Chance der Realisierung haben. Und wenn die politische oder soziale Geschichte juristische Begriffe verwenden – wie sie dies fortwährend tun –, so wird das ideale Gelten wollen des Rechtssatzes hier nicht erörtert, sondern die juristischen Normen sind nur der für die Geschichte allein in Betracht kommenden faktischen Realisierung gewisser äußerer Handlungen von Mensch zu Mensch terminologisch soweit substituiert, als dies nach Lage der Sache möglich ist. Das Wort ist dasselbe, – was gemeint ist, etwas im logischen Sinn toto coelo Verschiedenes. Der juristische Terminus ist hier teils Bezeichnung einer oder vieler faktischer Beziehungen, teils ein »idealtypischer« Kollektivbegriff geworden. Daß dies leicht übersehen wird, ist die Folge der Bedeutung rechtlicher Termini in der Praxis unseres Alltagslebens; – und im übrigen ist der Sehfehler nicht häufiger und nicht schwerwiegender als der umgekehrte: daß Gebilde juristischen Denkens mit Naturobjekten identifiziert werden. Der wirkliche Tatbestand ist, wie gesagt: daß der juristische Terminus zur Erfassung eines rein kausal zu analysierenden realen Sachverhaltes verwendet wird und normalerweise auch verwendet werden kann, weil wir alsbald dem Geltenwollen juristischer Begriffsgebilde das faktisch existente soziale Kollektivum unterschieben137. –


Würde man endlich – wie dies sicherlich Münsterbergs eigentlicher, wennschon durch seine eigenen Ausführungen verdunkelter Ansicht entspricht –, unter »subjektivierendem« und deshalb »teleologischem« Denken ein solches verstehen, welches, unbekümmert um die Abstraktionen psychologischer Theorien, das »Wollen« in seiner empirischen, ungebrochenen Gegebenheit nimmt, und seinen Ablauf, seine Konflikte und Verbindungen mit fremdem Wollen und – was aber bei Münsterbergs Ausdrucksweise immer wieder unter den Tisch fällt – mit den Widerständen und »Bedingungen« der »Natur«, denkend zu erfassen sucht, so würde die Tatsache, daß es andere Disziplinen gibt, welche für ihre Erkenntniszwecke das »Wollen« als einen »Empfindungskomplex« behandeln, doch keine prinzipielle, wie Münsterberg sagt: »ontologische«, Kluft zwischen beiden Betrachtungsweisen begründen. Sie würde auch einer Gewinnung von kausalen Regeln durch eine Disziplin, für welche das »Wollen« ein- für allemal die letzte, nicht weiter zu zerlegende »Einheit« bildet, nach dem früher Ausgeführten natürlich durchaus nicht im Wege stehen.


Immer wieder bleibt also als spezifisches Merkmal der »subjektivierenden« Wissenschaften, soweit sie historische Wissenschaften und nicht normative Disziplinen sind, das Ziel des »Einfühlens«, »Nacherlebens«, kurz des »deutenden Verstehens«. Der Objektivierung entrinnt aber bei den auf dieses Verstehen abzielenden Disziplinen der konkrete psychische Vorgang, z.B. das »unmittelbar« verständliche »Wollen« und ebenso auch das »Ich« in seiner »unmittelbar« verständlichen »Einheit« niemals, wo immer es sich um eine wissenschaftliche Darstellung von Tatsachen handelt, zu deren Wesen es eben gehört, daß sie überindividuell als »objektive Wahrheit« gelten will. Diese Objektivierung wird sich, wo es sich um die Ausnutzung unserer Fähigkeit des »deutenden« Verstehens handelt, teilweise, namentlich in der Art und Weise ihrer begrifflichen Bestimmtheit, anders gestalteter Demonstrationsmittel bedienen, als da, wo das Zurückgehen auf »unverstandene«, aber eindeutig bestimmte »Formeln« das Ziel sein soll, und allein sein kann, aber »Objektivierung« ist sie eben auch. Münsterberg138 ist der Ansicht, daß das subjektivierende »Nachfühlen«, welches, im Gegensatz zu der ebenfalls von dem »Anerkennen« fremder Subjekte ausgehenden, dann aber im Interesse der Beschreibung, Erklärung und Mitteilung den Weg der »Introjektion« einschlagenden Psychologie, der Historiker verwende, sich auf das »Zeitlose« des »Erlebnisses« beziehe, daher wesensgleich mit dem »Verstehen« des »stellungnehmenden Subjektes sei«. Je weniger »begrifflich« bestimmt der Ausdruck, desto sicherer erreiche daher der Historiker seinen Zweck. Wir kommen darauf noch näher zurück, hier sei nur folgendes dazu bemerkt: Die Kategorie der »Deutung« zeigt ein doppeltes Gesicht: sie kann 1. eine Anregung zu einer bestimmten gefühlsmäßigen Stellungnahme sein wollen – so die »Suggestion« eines Kunstwerks oder einer »Naturschönheit«: dann bedeutet sie die Zumutung zum Vollzug einer Wertung bestimmter Qualität. Oder sie kann 2. Zumutung eines Urteils im Sinn der Bejahung eines realen Zusammenhanges als eines gültig »verstandenen« sein: dann ist sie das, was wir hier allein behandeln: kausal erkennende »Deutung«139. Sie ist bei der »Naturschönheit« in Ermangelung metaphysischer Aufstellungen ausgeschlossen, beim Kunstwerk auf die historische »Deutung« der »Intentionen« und der »Eigenart« des Künstlers in ihrer Bedingtheit durch die zahllosen in Betracht kommenden Determinanten seines Schaffens beschränkt. Wenn in den »Genuß« des Kunstwerks beides ungeschieden einzugehen pflegt und in den Darstellungen der Kunsthistoriker nur zu oft beides nicht geschieden wird, wenn ferner die faktische Scheidung ungemein schwer fällt und die Fähigkeit dazu erarbeitet werden will, und wenn endlich und vor allem die wertende Deutung in gewissem Umfang der unentbehrliche Schrittmacher für die kausale Deutung ist, – so ist die prinzipielle Scheidung beider von der Logik doch selbstverständlich unbedingt zu postulieren. Sonst wird »Erkenntniszweck« und »praktischer Zweck« ähnlich ineinander geschoben, wie dies so oft zwischen Erkenntnisgrund und Realgrund geschieht. Es steht jedermann frei, sich auch in Form einer historischen Darstellung als »stellungnehmendes Subjekt« zur Geltung zu bringen, politische oder Kulturideale oder andere »Werturteile« zu propagieren und zur Illustration der praktischen Bedeutung dieser und anderer, bekämpfter, Ideale das ganze Material der Geschichte zu verwenden, ganz ebenso wie Biologen oder Anthropologen gewisse »Fortschritts«-Ideale sehr subjektiver Art oder philosophische Ueberzeugungen in ihre Untersuchungen hineintragen und damit natürlich nichts anderes tun, als jemand, der das ganze Rüstzeug naturwissenschaftlicher Erkenntnis zur erbaulichen Illustration etwa der »Güte Gottes« verwertet. In jedem Fall redet aber dann nicht der Forscher, sondern der wertende Mensch, und wendet sich die Darlegung an wertende, nicht nur an theoretisch erkennende Subjekte. Die Logik ist durchaus außerstande zu hindern, daß eben aus diesem Grunde der Markt des stürmisch wollenden und ethisch oder ästhetisch wertenden Lebens gerade diese Bestandteile als das eigentliche »Wertvolle« einer »historischen Leistung« ansieht, – was sie allein feststellen kann und, will sie sich treu bleiben, muß, ist: daß in diesem Fall nicht der Erkenntniszweck es ist, an welchem gemessen wird, sondern andere Zwecke und Gefühlswerte der Lebenswirklichkeit. Auch die Geschichte behandelt »objektivierte Selbststellungen«, wie dies Münsterberg140 für die Psychologie in dem Anfangsstadium ihrer Begriffsbildung statuiert. Der Unterschied beider ist, daß die Geschichte zwar generelle Begriffe und »Gesetze« verwendet, wo sie ihrer kausalen Zurechnung des Individuellen dienlich sind, aber nicht selbst auf die Bildung solcher Gesetze ausgeht, daher zur Entfernung von der Wirklichkeit in der Richtung, welche die Psychologie einschlägt, von sich aus keinen Grund hat.


Daß wir bei der »deutenden« Synthese eines individuellen historischen Vorganges oder einer historischen »Persönlichkeit« Wertbegriffe verwenden, deren »Sinn« wir selbst als stellungnehmende Subjekte handelnd und fühlend fortwährend »erleben«, ist ganz richtig. Dies ist jedoch zwar auf dem Gebiet der »Kulturwissenschaften« infolge der Eigenart ihres durch den Erkenntniszweck geformten und begrenzten Objekts am umfassendsten der Fall, aber durchaus nicht nur ihnen eigentümlich. »Deutungen« bilden z.B. den unvermeidlichen Durchgangspunkt auch der »Tierpsychologie«141, und »Deutungen« enthalten ihrem ursprünglichen Gehalt nach auch die »teleologischen« Bestandteile biologischer Begriffe. Aber wie hier an Stelle der metaphysischen Hineindeutung eines »Sinnes« die bloße Faktizität der mit Bezug auf die Daseinserhaltung »zweckmäßigen« Funktionen tritt, so an Stelle der »Wertung« die theoretische Wertbeziehung, an Stelle der »Stellungnahme« des erlebenden Subjekts das kausale »Verstehen« des deutenden Historikers. In all diesen Fällen tritt die Verwendung von Kategorien der »erlebten« und »nacherlebten« Wirklichkeit eben in den Dienst »objektivierender« Erkenntnis. Das hat methodisch wichtige und interessante Folgen, aber nicht die, welche Münsterberg voraussetzt. Welche? – könnte nur eine, soweit ersichtlich, heute kaum angebahnte Theorie der »Deutung« ergeben142. Hier kann nur im Anschluß an das vorstehend Gesagte noch einiges zur Feststellung der Lage und der möglichen Tragweite dieses Problems für uns bemerkt werden. –


Die logisch weitaus entwickeltsten Ansätze einer Theorie des »Verstehens« finden sich in der zweiten Auflage von Simmels »Probleme der Geschichtsphilosophie« (S. 27-62)143. Die umfassendste methodologische Verwertung der Kategorie hat, und zwar teilweise unter dem Einfluß der Ausführungen Münsterbergs, für die Geschichte und die Nationalökonomie Gottl versucht144, während für die Aesthetik bekanntlich Lipps und B. Croce sich eingehender mit ihr beschäftigt haben.


Simmel145 hat zunächst das Verdienst, innerhalb des weitesten Umkreises, den der Begriff des »Verstehens« – wenn man ihn in Gegensatz stellt zu dem »Begreifen«146 der nicht der »inneren« Erfahrung gegebenen Wirklichkeit – umfassen kann, das objektive »Verstehen« des Sinnes einer Aeußerung von der subjektiven »Deutung« der Motive eines (sprechenden oder handelnden) Menschen klar geschieden zu haben147. Im ersteren Fall »verstehen« wir das Gesprochene, im letzteren den Sprechenden (oder Handelnden). Simmel ist der Meinung, daß die erstere Form des »Verstehens« nur vorkomme, wo es sich um theoretische Erkenntnis, um ein Darbieten von sachlichem Inhalt in logischer Form handele, die – weil Erkenntnis – einfach in genau identischem Sinn erkennend nachgebildet werden könne. Das ist so nicht zutreffend. Um ein Verstehen nur des Gesprochenen handelt es sich z.B. auch bei dem Aufnehmen und Befolgen eines Kommandos, eines Appells an das Gewissen, an Wertgefühle und Werturteile des Hörers überhaupt, welches den Zweck hat, nicht ein theoretisches Deuten, sondern ein unmittelbar »praktisch« werdendes Fühlen und Handeln zu erzeugen. Gerade das Münsterbergsche »stellungnehmende«, d.h. wollende und wertende, Subjekt des wirklichen Lebens begnügt sich normalerweise mit dem Verstehen des Gesprochenen (korrekter ausgedrückt: des »Geäußerten«) und ist zu einer »Deutung« in dem Sinn, wie sie die »subjektivierenden« Wissenschaften Münsterbergs betreiben sollen, weder geneigt noch – in den meisten Fällen – fähig: die »Deutung« ist eine durchaus sekundäre, in der künstlichen Welt der Wissenschaft heimische Kategorie. Auf dem Boden des »stellungnehmenden« wirklichen Lebens hält sich dagegen auch das »Verstehen des Gesprochenen« in jenem Sinn, den Simmel im Auge hat. Hier handelt es sich bei dem »Verstehen« um ein Stellungnehmen zu dem »objektiven« Sinn eines Urteils. Die »verstandene« Aeußerung kann jede mögliche logische Form, auch natürlich die einer Frage haben, – stets ist das, worum es sich handelt, ihre Beziehung zur Geltung von Urteilen, eventuell eines einfachen Existenzurteils, zu dem der »Verstehende« bejahend, verneinend, zweifelnd, urteilsfällend »Stellung« nimmt. Simmel drückt das in seiner psychologistischen Formulierungsweise so aus, daß »durch das gesprochene Wort die Seelenvorgänge des Sprechenden ... auch im Hörer erregt werden«, der erstere als dabei »ausgeschaltet« und nur der Inhalt des Gesprochenen in dem Denken des letzteren, parallel zu demjenigen des ersteren, fortbestehen bliebe. Ich zweifle, ob durch diese psychologische Beschreibung der logische Charakter dieser Art des »Verstehens« hinlänglich scharf zutage tritt: irrig wäre m. E. – wie schon gezeigt – jedenfalls, daß der Vorgang dieses »Verstehens« nur bei »objektiver Erkenntnis« stattfände. Das Entscheidende ist, daß es sich in diesen Fällen von »Verstehen«: – eines Kommandos, einer Frage, einer Behauptung, eines Appells an Mitgefühl, Vaterlandsliebe oder dergleichen, – um einen Vorgang innerhalb der Sphäre der »stellungnehmenden Aktualität« handelt, um in der hier durchaus brauchbaren Münsterbergschen Terminologie zu reden. Mit diesem »aktuellen« Verstehen haben wir es bei unserer »Deutung« nicht zu tun. Diese letztere würde in solchen Fällen erst in Funktion treten, wenn z.B. der »Sinn« einer Aeußerung, einerlei welchen Inhalts, nicht unmittelbar »verstanden« ist, und eine aktuelle »Verständigung« darüber mit dem Urheber nicht möglich, ein »Verstehen« aber unbedingt praktisch nötig wäre: ein mehrdeutig abgefaßter schriftlicher Kommandobefehl z.B. – um auf dem Boden der »aktuellen« Lebenswirklichkeit zu bleiben – nötigt den Empfänger, etwa einen patrouillenführenden Offizier, zur »Deutung« desselben die »Zwecke«, d.h. aber die Motive des Befehls zu erwägen, um danach handeln zu können148. Die kausale Frage: wie ist der Befehl »psychologisch« entstanden, wird dabei also zu dem Zweck aufgeworfen, die »noëtische Frage« nach seinem »Sinn« zu lösen. Hier tritt die theoretische »Deutung« des persönlichen Handelns und eventuell der »Persönlichkeit« (des Befehlenden) in den Dienst des aktuell praktischen Zweckes.


Wo sie in den Dienst der empirischen Wissenschaft tritt, da haben wir sie in der Gestalt, in welcher sie uns hier beschäftigt. Sie ist, wie gerade diese Auseinandersetzungen wieder zeigen: durchaus im Gegensatz zu Münsterbergs Aufstellungen, eine Form kausalen Erkennens, und es sind uns bisher noch keinerlei, im Sinne Münsterbergs, grundsätzliche Unterschiede gegenüber den Formen der »objektivierenden« Erkenntnis begegnet, – denn, daß das »Gedeutete« in ein »Subjekt«, d.h. aber hier: in ein psychophysisches Individuum, als dessen Vorstellung, Gefühl, Wollen »introjiziert« wird, bedingt einen solchen Unterschied gerade nach Münsterbergs Ansicht ja nicht149. Für die weitere Erörterung des Wesens der »Deutung« knüpfen wir nun zweckmäßigerweise zunächst an die Ansichten von Gottl an. Denn wir können seine Ausführungen bequem als Anknüpfungspunkt benutzen, um uns klar zu machen, worin die erkenntnistheoretische Bedeutung der »Deutbarkeit« nicht besteht150. Dadurch wird es möglich, auch zu einigen noch unerledigten wichtigen Thesen Münsterbergs, auf dem Gottl (in seiner zweiten Schrift) fußt, Stellung zu nehmen und zugleich Simmels Formulierungen entweder zu verwerten oder unter Angabe der Gründe abzulehnen151. Dabei soll, soweit dies in unseren Zusammenhang gehört, auch eine kurze Auseinandersetzung mit den Ansichten von Lipps und Croce versucht werden.


Nach Gottl ist das »historische« Erkennen seinem Wesen nach im Gegensatz zur »Erfahrung« der Naturwissenschaften:


1. Erschließung des zu Erkennenden. Das heißt: es setzt mit einem Akt – wie wir sagen würden – deutenden Durchschauens des Sinnes menschlicher Handlungen ein, und schreitet fort, indem immer neue deutend erfaßte Bestandteile des Zusammenhanges der historischen Wirklichkeit angegliedert, immer neue einer »Deutung« zugängliche »Quellen« auf den Sinn jenes Handelns hin, dessen Spuren sie sind, erschlossen und so ein stets umfassenderer Zusammenhang sinnvollen Handelns gebildet wird, dessen Einzelbestandteile sich gegenseitig stützen, weil der gesamte Zusammenhang für uns »von innen heraus« durchsichtig bleibt. Dieses »Erschließen« ist nach Gottl dem Erkennen menschlichen Handelns eigentümlich und scheidet es von aller Naturwissenschaft, als welche stets nur im Weg von Analogieschlüssen die Annäherung an ein möglichstes Maximum der Wahrscheinlichkeit – durch immer wiederkehrende Bewährung der hypothetischen »Gesetze« – erstreben könne. Hier ist zunächst der psychologische Hergang des Erkennens mit seinem erkenntnistheoretischen Sinn, das Ziel des Erkennens mit seiner Methode, Formen der Darstellung mit Mitteln der Forschung identifiziert, dann aber auch für den tatsächlichen Verlauf des Erkennens ein Unterschied behauptet, der in dieser Art gar nicht besteht. Es ist schon rein faktisch nicht generell richtig, daß die Gewinnung historischer Erkenntnis mit der »Deutung« einsetzt. Die Rolle ferner, welche unsere »historische« oder allgemeiner: deutende Phantasie in der »Erschließung« geschichtlicher Hergänge spielt, fällt auf dem Gebiet des physikalischen Erkennens z.B. etwa der »mathematischen Phantasie« zu, und die Erprobung der so gewonnenen Hypothesen – denn darum handelt es sich hier und dort – ist ein, logisch betrachtet, keineswegs prinzipiell verschiedener Vorgang. Ranke »erriet« die geschichtlichen Zusammenhänge ganz ebenso wie Bunsens »Experimentierkunst« an ihm als die spezifische Grundlage seiner Erfolge bewundert zu werden pflegt. Besteht hier also ein Unterschied, so ist er jedenfalls mit der Funktion der »Erschließung«, auf die Gottl immer wieder zurückkommt, nicht charakterisiert. – Gottl spezialisiert nun seine Behauptung näher dahin, daß


2. jene »Erschließung« historischen Geschehens eine solche »vom Boden der Denkgesetze« aus sei, worauf es beruhe, daß für die Geschichte als Bestandteil des von ihr zu schildernden Geschehens nur in Betracht komme, was »durch logische Denkgesetze erfaßbar« sei, alles andere aber – so etwa historisch relevante Naturereignisse, wie der Einbruch des Zuyder Sees oder des Dollart usw. – als bloße »Verschiebung« der »Bedingungen« des sie allein interessierenden menschlichen Handelns.


Hier ist die Verwendung des vieldeutigen Gegensatzes von »Ursache« und »Bedingung« – auf dessen Sinn hier nicht im einzelnen einzugehen ist – in diesem Zusammenhang zu beanstanden. Wer eine »Geschichte« der Syphilis schreibt – d.h. die kulturgeschichtlichen Wandlungen verfolgt, welche ihr Auftreten und ihre Verbreitung ursächlich beeinflußt haben, um dann andererseits die durch sie hervorgerufenen oder doch mitbedingten kulturhistorischen Erscheinungen von ihr aus ursächlich zu erklären –, der wird im allgemeinen die Krankheits-Erreger als »Ursache«, die kulturhistorischen Situationen als wandelbare »Bedingungen« einerseits, »Folgen« anderseits, zu behandeln haben. Gleichwohl wird, soweit seine Arbeit ein Beitrag zur Kulturgeschichte, und nicht eine Vorarbeit für eine klinische Theorie zu sein beabsichtigt, dasjenige Moment bestehen bleiben, welches als berechtigter Kern der irrig formulierten Gottlschen Darlegungen übrig bleibt: das wissenschaftliche Interesse ist in letzter Instanz in denjenigen Bestandteilen des historischen Ablaufs verankert, welche verständlich deutbares menschliches Sich-Verhalten in sich schließen, auf die Rolle, welche jenes für uns »sinnvolle« Tun in seiner Verflechtung mit dem Walten »sinnloser« Naturmächte gespielt, und auf die Beeinflussungen, welche es von dorther erfahren hat. Insofern also, als die Geschichte die »Naturvorgänge« stets auf menschliche Kulturwerte bezieht, daher stets ihr Einfluß auf menschliches Handeln die Gesichtspunkte der Untersuchung – wenn sie eben eine historische sein will – bestimmt, aber auch nur insofern, ist Gottls Ansicht begründet. Es ist auch hier wieder nur jene schon früher erörterte spezifische Wendung unseres wertbedingten Interesses, welche in Verbindung mit sinnvoller Deutbarkeit auftritt, was Gottl vorschwebt. – Ein sehr entschiedener Mißgriff aber ist es natürlich, wenn von Erschließbarkeit des historischen Geschehens auf dem Boden der »logischen Denkgesetze« gesprochen wird, wo doch nur dessen Zugänglichkeit für unser nacherlebendes Verstehen – eben seine »Deutbarkeit« – gemeint ist. Ganz irrelevant ist sachlich diese Terminologie keineswegs, denn nicht nur spricht Gottl infolgedessen an anderer Stelle da, wo es heißen sollte: »verständliches Handeln«, von »vernünftigem Geschehen« – was offenbar etwas ganz und gar anderes, durch ein Werturteil Qualifiziertes besagt –, sondern jene Gleichsetzung von dem, was wir »deutend« zu verstehen vermögen, mit logisch erschließbarem Tun, wie sie in Gottls hier stark schillernder Terminologie liegt, spielt auch in der Praxis der Kulturwissenschaften, und zwar auch der Historiographie, noch heute zuweilen ihre Rolle, und kann dann zu einem Prinzip rationaler Konstruktion historischer Vorgänge führen, welches der Wirklichkeit Gewalt antut152. Die »Erschließung« eines Sinnes einer Handlung aus der gegebenen Situation, unter Voraussetzung des rationalen Charakters ihrer Motivierung, ist stets lediglich eine zum Zweck der »Deutung« vorgenommene Hypothese, die prinzipiell immer der empirischen Verifizierung bedarf, mag sie in tausenden von Fällen noch so sicher erscheinen, und die dieser Verifizierung auch zugänglich ist. Denn wir »verstehen« nun einmal das irrationale Walten der maßlosesten »Affekte« genau so gut wie den Ablauf rationaler »Erwägungen«, und das Handeln und Fühlen des Verbrechers und des Genius – obwohl wir uns bewußt sind, es nie selbst haben erleben zu können – vermögen wir im Prinzip wie das Tun des »Normalmenschen« nach zuerleben, wenn es uns adäquat »gedeutet« wird153. Nur dies: die »Deutbarkeit« menschlichen Handelns als Voraussetzung der Entstehung des spezifisch »historischen« Interesses besagt denn auch das von Ranke ebensowohl wie von neueren Methodologen154 stark betonte »Axiom aller historischen Erkenntnis« von der »prinzipiellen Gleichheit« der Menschennatur. Denn der »normale« Mensch und das »normale« Handeln sind natürlich ganz ebenso zu bestimmten Zwecken konstruierte idealtypische Gedankengebilde, wie – im umgekehrten Sinne – das bekannte »kranke Pferd« in Hoffmanns »Eisernem Rittmeister«, und das »Wesen« z, B. des Affekts eines Tiers »verstehen« wir durchaus in gleichem Sinn wie den menschlichen. Schon dies zeigt, daß – im Gegensatz zu Gottls Annahme – die »Deutung« natürlich keineswegs ausschließlich im Wege einer von »Objektivierung« freien Anschaulichkeit und einer einfachen Nachbildung entstanden zu denken ist. Nicht nur ist die deutende »Erschließung« eines konkreten Gedankens gelegentlich gerade auf die Unterstützung durch klinisch-pathologische Kenntnisse angewiesen155, sondern sie bedient sich selbstredend überhaupt, im Gegensatz zu Gottls Annahme, fortwährend der »Kontrolle« durch »Erfahrung« in logisch gleichem Sinn wie die Hypothesen der »Naturwissenschaften«.


Man hat zwar – und so verfährt im wesentlichen auch Gottl – zugunsten einer spezifischen »Gewißheit« der »Deutungen« gegenüber anderen Erkenntnisarten geltend gemacht, daß der sicherste Inhalt unseres Wissens das »eigene Erlebnis« sei156. Das ist – in einem bestimmten, gleich zu erörternden Sinn – richtig, sobald als Gegensatz dazu fremde »Erlebnisse« gemeint sind, sobald ferner der Begriff des »Erlebnisses« auf die in einem bestimmten Moment uns unmittelbar gegebene psychische und physische Welt erstreckt wird und sobald unter dem »Erlebten« nicht die von der wissenschaftlichen Betrachtung zu formende Wirklichkeit gemeint ist, sondern die Gesamtheit der »Wahrnehmungen« in Verbindung mit den gänzlich ungeschieden mit ihnen verbundenen »Empfindungen«, »Wollungen«, – den »Stellungnahmen« also, die wir in jedem Augenblick vollziehen und deren wir uns in dem betreffenden Augenblick in sehr verschiedenem Grade und Sinn »bewußt« werden. So gemeint, ist aber das »Erlebte« etwas, was nicht zum Objekt von Urteilen im Sinn der empirischen Tatsachenerklärung gemacht wird und daher im Zustande der Indifferenz gegenüber jeder empirischen Erkenntnis verharrt. Soll dagegen unter dem »Erlebten« das »psychische« Geschehen »in« uns im Gegensatz zu der Gesamtheit des Geschehens »außer« uns – gleichviel wie die Grenze zwischen beiden gezogen wird – verstanden sein, und soll dies »psychische« Geschehen als Gegenstand einer gültigen Tatsachen-Erkenntnis verstanden werden – dann liegt die Sache selbst nach der von Gottl akzeptierten Auffassung Münsterbergs eben doch wesentlich anders.


Aber auch wenn man – wie dies Gottls Intentionen entspricht – sich jenseits der zur »Introjektion leitenden Scheidung des Erlebten« in »physische« und »psychische« Teile der objektivierten Wirklichkeit hält, die »physische« Welt also nur als Anlaß unsrer Stellungnahme »auffaßt«, setzt jede gültig-sein-wollende Erkenntnis erlebbarer konkreter Zusammenhänge »Erfahrung« von logisch gleicher Struktur wie jede Bearbeitung der »objektivierten« Welt voraus. Zunächst enthält ja das zum Gegenstand der Deutung gemachte Sich-Verhalten von Menschen überall Bestandteile, welche ganz ebenso als letzte »Erfahrungen« einfach hinzunehmen sind wie irgendwelche »Objekte«. Nehmen wir etwas Allereinfachstes: Der Vorgang der »Einübung« geistigen Könnens, wie er überall in der Kulturgeschichte begriffliche Verwendung findet, ist ganz gewiß unmittelbar »verständlich« in seinem Hergang und seinen Konsequenzen. Wie er abläuft, kann für gewisse meßbare Bestandteile Gegenstand von exakter »Psychometrie« werden, im übrigen kennen wir seinen Effekt aus massenhafter eigener Erfahrung, insbesondere etwa aus der eignen Erlernung fremder Sprachen. Daß er stattfindet und möglich ist, aber letztlich eben doch nur einfach »konstatierbar« in durchaus gar keinem andern Sinn als etwa die Tatsache, daß die Körper »schwer« sind. Aber weiter: unsre eignen, das Werten und Handeln mitbestimmenden, »Stimmungen« – im »vulgär-psychologischen« Sinn dieses Wortes, wie ihn die Kulturwissenschaften unzählige Male brauchen – sind uns in ihrem Sinn, ihrem »Mit-, Aus- und Wegen-einander« (um mit Gottl zu reden) ganz und gar nicht unmittelbar »deutbar«. Sondern – wie am klarsten etwa beim ästhetischen Genuß, nicht minder aber auch z.B. bei klassenbedingtem inneren Sichverhalten zutage tritt – es ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, daß sie uns in all diesen Hinsichten durch Interpretation an der Hand der Analogie, d.h. unter Heranziehung fremder »Erlebungen«, die zum Zweck der Vergleichung denkend gewählt sind, also ein bestimmtes Maß von Isolation und Analyse als vollzogen unbedingt voraussetzen, nicht nur »gedeutet« werden können, sondern in dieser Weise geradezu kontrolliert und analysiert werden müssen, wenn anders sie jenen Charakter der Klarheit und Eindeutigkeit annehmen sollen, mit dem Gottl als einem a priori operiert. Die dumpfe Ungeschiedenheit des »Erlebens« muß – zweifellos auch nach Gottls Ansicht – gebrochen sein, damit auch nur der erste Anfang wirklichen »Verstehens« unsrer selbst einsetzen kann. Wenn man sagt, daß jedes »Erlebnis« das Gewisseste des Gewissen sei, so trifft dies natürlich darauf zu, daß wir erleben. Was wir aber eigentlich erleben, dessen kann auch jede »deutende« Interpretation erst habhaft werden, nachdem das Stadium des »Erlebens« selbst verlassen ist und das Erlebte zum »Objekt« von Urteilen gemacht wird, die ihrerseits ihrem Inhalt nach nicht mehr in ungeschiedener Dumpfheit »erlebt«, sondern als »geltend« anerkannt werden. Dies »Anerkennen«, als ein Bestandteil des Stellungnehmens gedacht, kommt aber nicht, wie Münsterberg seltsamerweise annimmt, dem fremden »Subjekt«, sondern der Geltung eigner und fremder Urteile zu. Das Maximum der »Gewißheit« aber im Sinn des Geltens – und nur in diesem Sinn hat irgend eine Wissenschaft damit zu schaffen – haftet an Sätzen wie 2 X 2 = 4, nachdem sie einmal »anerkannt« sind, nicht aber an dem unmittelbaren, aber ungeschiedenen Erlebnis, welches wir jeweils »haben« oder, was dasselbe ist, eben »sind«. Und die Kategorie des »Geltens« tritt alsbald in ihre formende Funktion, sobald die Frage nach dem »Was«? und »Wie«? des Erlebten auch nur vor unserm eignen Forum aufgeworfen wird und gültig beantwortet werden soll157. – Darauf wie dies geschieht, kommt es aber für die Beurteilung des logischen Wesens der »deutend« gewonnenen Erkenntnis allein an, und damit allein werden wir uns hier weiterhin beschäftigen.


Seine Schriften zur Wissenschaftslehre

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