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4) Die »Einfühlung« bei Lipps und die »Anschauung« bei Croce S. 105. – »Evidenz« und »Geltung« S. 115. – Heuristisches »Gefühl« und »suggestive« Darstellung des Historikers S. 118. – Die »rationale« Deutung S. 126. – Die doppelte Wendung der Kausalitätskategorie und das Verhältnis zwischen Irrationalität und Indeterminismus S. 132. – Der Begriff des Individuums bei Knies. Anthropologischer Emanatismus S. 138.


Für die Erörterung der logischen Stellung des »Deutens« (in dem hier festgehaltenen Sinne) ist zunächst ein Blick auf gewisse moderne Theorien über seinen psychologischen Hergang unvermeidlich.


Nach Lipps158, welcher, wennschon wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Begründung der ästhetischen Werte, eine eigenartige Theorie der »Deutung« entwickelt hat, ist das »Verstehen« der »Ausdrucksbewegung« eines anderen, z.B. eines Affektlautes, »mehr« als bloßes »intellektuelles Verständnis« (S. 106). Es enthält »Einfühlung«, und diese für Lipps grundlegende Kategorie ist ihrerseits (nach ihm) ein Seitentrieb der »Nachahmung«, nämlich die ausschließlich »innere« Nachahmung eines Vorganges (S. 120), z.B. des Seiltanzens eines Akrobaten – als eines »eigenen«. Und zwar ist es nicht reflektierende Betrachtung des fremden Tuns, sondern eigenes, aber rein innerlich bleibendes »Erlebnis«, neben welchem das »Urteil«, daß – im Beispiel – nicht ich, sondern eben der Akrobat auf dem Seile steht, »unbewußt« bleibt (S. 122)159. Aus dieser »vollkommenen« Einfühlung, welche also ein gänzliches inneres Hineingehen des »Ich« in dasjenige Objekt, in welches man sich »einfühlt«: – ein wirkliches phantastisches, eigenes (inneres) Tun also, nicht etwa ein bloß phantasiertes, d.h. zum Objekt einer »Vorstellung« gemachtes Tun160, – bedeutet, und welches Lipps als ästhetische »Einfühlung« zur konstitutiven Kategorie des ästhetischen Genusses erhebt, entwickelt (nach ihm) sich das »intellektuelle Verständnis« dadurch, daß, um im Beispiel zu bleiben, zunächst jenes »unbewußte« Urteil: – »nicht ich, sondern der Akrobat steht (oder: stand) auf dem Seil« – ins Bewußtsein erhoben, und damit das »Ich« in ein »vorgestelltes« (auf dem Seil) und ein »reales« (jenes andre sich vorstellendes) sich zerspaltet (S. 125), so daß alsdann die – wie Münsterberg sagen würde: – »Objektivierung« des Vorganges, insbesondere also seine kausale Interpretation, beginnen kann. Ohne vorangegangene kausale »Erfahrung« ist andererseits aber »Einfühlung« nicht möglich: ein Kind »erlebt« den Akrobaten nicht. Aber – dürfen wir in Lipps' Sinne einschalten – diese »Erfahrung« ist nicht das objektivierte Produkt nomologischer Wissenschaft, sondern die anschaulich »erlebte« und erlebbare, mit dem Begriff des »Wirkens«, der »wirkenden Kraft«, des »Strebens« verknüpfte Subjektkausalität des Alltags. Dies äußert sich insbesondere bei der »Einfühlung« in reine »Naturvorgänge«. Denn die Kategorie der »Einfühlung« ist nach Lipps keineswegs auf »psychische« Vorgänge beschränkt. Wir »fühlen« uns vielmehr auch in die physische Außenwelt ein, indem wir Bestandteile ihrer als Ausdruck einer »Kraft«, eines »Strebens«, eines bestimmten »Gesetzes« usw. gefühlsmäßig »erleben« (S. 188), und diese phantastisch »erlebbare«, anthropomorphe individuelle Kausalität in der Natur ist nach Lipps die Quelle der »Naturschönheiten«. Die »erlebte« Natur besteht im Gegensatz zur objektivierten, d.h. in Relationsbegriffe aufgelösten oder aufzulösenden, aus »Dingen« ganz ebenso, wie das erlebte eigene »Ich« ein Ding ist, – und der Unterschied zwischen »Natur« und »Ich« liegt eben darin, daß das »erlebte Ich« das einzige reale »Ding« ist, von dem alle »Natur«individuen ihre anschaulich »erlebbare« Dinghaftigkeit und »Einheit« zu Lehen tragen (S. 196).


Wie man nun auch über den Wert dieser Aufstellungen für die Begründung der Aesthetik denken mag: für logische Erörterungen ist vor allem daran festzuhalten, daß das »individuelle Verstehen« – wie das ja auch bei Lipps wenigstens angedeutet ist – nicht ein »eingefühltes Erlebnis« ist. Aber jenes entwickelt sich auch nicht in der Art aus diesem, wie Lipps es darstellt. Wer sich in den Lippsschen Akrobaten »einfühlt«, »erlebt« ja weder, was dieser auf dem Seil »erlebt«, noch was er »erleben« würde, wenn er selbst auf dem Seil stände, sondern etwas dazu nur in durchaus nicht eindeutigen, phantastischen Beziehungen Stehendes, und deshalb vor allem: etwas, was nicht nur keinerlei »Erkenntnis« in irgendeinem Sinne enthält, sondern auch garnicht das »historisch« zu erkennende Objekt enthält. Denn dies wäre eben doch im gegebenen Falle das Erlebnis des Akrobaten und nicht dasjenige des Einfühlenden. Nicht eine »Spaltung« des einfühlenden Ich tritt also ein, sondern die Verdrängung des eigenen Erlebnisses durch die Besinnung auf ein fremdes als »Objekt«, wenn die Reflexion beginnt. Richtig ist nur, daß auch das »intellektuelle Verständnis« in der Tat ein »inneres Mitmachen«, also »Einfühlung«, in sich schließt, – aber, sofern es »Erkenntnis« beabsichtigt und erzielt, ein »Mitmachen« zweckvoll gewählter Bestandteile. Die Ansicht, daß die Einfühlung »mehr« sei als bloßes »intellektuelles Verständnis«, kann also nicht ein Plus an »Erkenntniswert« im Sinne des »Geltens« behaupten, sondern besagt nur, daß kein objektiviertes »Erkennen«, sondern reines »Erleben« vorliegt. Im übrigen ist entscheidend, ob die von Lipps dem »Ich« und nur ihm zugeschriebene reale »Dinghaftigkeit« Konsequenzen für die Art der wissenschaftlichen Analyse »innerlich nacherlebbarer« Vorgänge haben soll. Die letztgenannte Frage aber bildet einen Bestandteil des universelleren Problems nach der logischen Natur der »Dingbegriffe«, dessen allgemeinste Formulierung wiederum sich dahin zuspitzen läßt: gibt es denn überhaupt Dingbegriffe? Man hat es immer wieder geleugnet, und welche Konsequenzen dieser Standpunkt für die logische Beurteilung speziell der Geschichte haben muß, zeigt neuestens wieder in typischer Weise der geistvolle italienische Widerpart der Ansichten von Lipps und des Psychologismus überhaupt in der Philologie und Aesthetik: Benedetto Croce161. »Dinge sind Anschauungen«, meint Croce, »Begriffe dagegen beziehen sich auf Beziehungen zwischen Dingen«. Der Begriff, welcher seinem Wesen nach nur genereller und also abstrakter Natur sein kann, ist daher »nicht mehr« Anschauung, aber er ist es anderseits »doch noch«, da er ja eben schließlich seinem Inhalt nach nur verarbeitete Anschauung ist. Die Folge seines notwendig abstrakten Charakters ist jedoch, daß »Dinge«, da sie stets individuell sind, nicht in Begriffe eingehen, sondern nur »angeschaut« werden können: ihre Erkenntnis ist also nur »künstlerisch« möglich. Ein »Begriff« von etwas Individuellem ist contradictio in adjecto, und die Geschichte, welche das Individuelle erkennen will, ist eben deshalb »Kunst«, d.h. eine Aneinanderreihung von »Intuitionen«. Denn ob eine Tatsache unsres Lebens »wirklich war« – worauf es ja der Geschichte allein ankommt –, lehrt keine begriffliche Analyse, sondern allein die »Reproduktion der Anschauungen«: – »Geschichte ist Gedächtnis«, und die Urteile, welche ihren Inhalt ausmachen, enthalten, als bloße »Einkleidung des Eindrucks einer Erfahrung«, keinerlei »Setzung von Begriffen«, sondern sind nur »Ausdrücke« von Anschauungen. Es kann daher die Geschichte Gegenstand »logischer« Bewertung gar nicht werden, denn die »Logik« befaßt sich nur mit (Allgemein-)Begriffen und ihrer Definition162.


Solche Aufstellungen sind die Konsequenz folgender naturalistischer Irrtümer: 1. Daß nur Relationsbegriffe, und – da die Relationsbegriffe der unmittelbaren Alltagserfahrung selbstverständlich genau so viel »Anschauung« enthalten wie irgendein Dingbegriff163 – nur Relationsbegriffe von absoluter Bestimmtheit, d.h. aber: in Kausalgleichungen ausdrückbare Relationsbegriffe überhaupt »Begriffe« seien. Ausschließlich mit solchen Begriffen aber arbeitet nicht einmal die Physik. – 2. Die damit zusammenhängende Behauptung, daß »Dingbegriffe« keine »Begriffe« seien, sondern »Anschauungen«, ist die Folge des Ineinanderschiebens verschiedener Bedeutungen der Kategorie der »Anschaulichkeit«. Wie die anschauliche Evidenz des mathematischen Lehrsatzes etwas anderes ist als die für die »Erfahrung« unmittelbar gegebene, »in« und »außer« uns erlebte und erlebbare »Anschaulichkeit« des Mannigfaltigen – »kategoriale« Anschauung im Gegensatz zur »sinnlichen« nach Husserls Terminologie164 –, so ist das Crocesche Ding und insbesondere auch das Lippssche Ding kat? ??????: das »Ich«, so, wie es die empirische Wissenschaft anwendet, etwas gänzlich anderes als der »erlebte«, zu einer rein sinnlich oder gefühlsmäßig anschaulichen »Einheit« zusammengeflossene und als solche durch »Gedächtnis« oder »Ichgefühl« psychologisch zusammengehaltene Komplex von Bewußtseinsinhalten. Wo die empirische Wissenschaft eine gegebene Mannigfaltigkeit als »Ding« und damit als »Einheit« behandelt, z.B. die »Persönlichkeit« eines konkreten historischen Menschen, da ist dieses Objekt zwar stets ein nur »relativ bestimmtes«, d.h. ein stets und ausnahmslos empirisch »Anschauliches« in sich enthaltendes gedankliches Gebilde, – aber es ist gleichwohl eben ein durchaus künstliches Gebilde165, dessen »Einheit« durch Auswahl des mit Bezug auf bestimmte Forschungszwecke »Wesentlichen« bestimmt ist, ein Denkprodukt also von nur »funktioneller« Beziehung zum »Gegebenen« und mithin: ein »Begriff«, wenn anders dieser Ausdruck nicht künstlich auf nur einen Teil der durch denkende Umformung des empirisch Gegebenen entstehenden und durch Worte bezeichenbaren Gedankengebilde beschränkt wird. – Schon deshalb ist natürlich auch: 3. die weitverbreitete und von Croce akzeptierte Laienansicht durchaus irrig, als ob die Geschichte eine »Reproduktion von (empirischen) Anschauungen« oder ein Abbild von früheren »Erlebungen« (des Abbildenden selbst oder anderer) sei. Schon das eigene Erlebnis kann, sobald es denkend erfaßt werden soll, nicht einfach »abgebildet« oder »nachgebildet« werden: das wäre eben kein Denken über das Erlebnis, sondern ein nochmaliges »Erleben«166 des früheren oder vielmehr, da dies unmöglich ist, ein neues »Erlebnis«, in welches das – für eine denkende Betrachtung sich stets als nur relativ begründet herausstellende – »Gefühl« mit »eingeht«, »dies« (d.h. einen unbestimmt bleibenden Bestandteil des als präsentes »Erlebnis« Gegebenen) schon einmal »erlebt« zu haben. Ich habe an anderer Stelle – ohne übrigens selbstredend damit irgend etwas »Neues« zu sagen – dargelegt, wie auch das einfachste »Existenzialurteil« (»Peter geht spazieren«, um mit Croce zu exemplifizieren), sobald es eben »Urteil« sein und sich als solches »Geltung« sichern will – denn das ist die einzige in Betracht kommende Frage –, logische Operationen voraussetzt, welche allerdings nicht die »Setzung«, wohl aber die konstante Verwendung von Allgemeinbegriffen, daher Isolation und Vergleichung, in sich enthalten. Es ist eben – und damit kommen wir zu Gottls Ausführungen zurück – der entscheidende Fehler aller jener, leider auch von Fachhistorikern so sehr oft akzeptierten Theorien, welche das spezifisch »Künstlerische« und »Intuitive« der historischen Erkenntnis, z.B. der »Deutung« von »Persönlichkeiten«, als das Privileg der Geschichte ansehen, daß die Frage nach dem psychologischen Hergang bei der Entstehung einer Erkenntnis mit der gänzlich andern nach ihrem logischen »Sinn« und ihrer empirischen »Geltung« verwechselt wird. Was den psychologischen Hergang des Erkennens anbetrifft, so ist die Rolle, welche der »Intuition« zufällt, dem Wesennach – wie schon oben ausgeführt – auf allen Wissensgebieten dieselbe, und nur der Grad, in welchem wir uns alsdann bei der denkenden Formung der allseitigen begrifflichen Bestimmtheit nähern können und wollen, ein je nach dem Erkenntnisziel verschiedener. Die logische Struktur einer Erkenntnis aber zeigt sich erst dann, wenn ihre empirische Geltung im konkreten Fall, weil problematisch, demonstriert werden muß. Erst die Demonstration erfordert unbedingt die (relative) Bestimmtheit der verwendeten Begriffe und setzt ausnahmslos und immer generalisierende Erkenntnis voraus, – was beides eine gedankliche Bearbeitung des nur »eingefühlten« Mit- oder Nacherlebens, d.h. seine Verwandlung in »Erfahrung«, bedingt167. Und die Verwendung von »Erfahrungsregeln« zum Zweck der Kontrolle der »Deutung« des menschlichen Handelns ist dabei nur dem alleroberflächlichsten Anschein nach von der gleichen Prozedur bei konkreten »Naturvorgängen« geschieden. Dieser Anschein entsteht dadurch, daß wir, infolge unserer an der eignen Alltagserkenntnis geschulten Phantasie, bei der »Deutung« menschlichen Handelns die ausdrückliche Formulierung jenes Erfahrungsgehaltes in »Regeln« in weiterem Umfang als »unökonomisch« unterlassen und also die Generalisierungen »implicite« verwenden. Denn die Frage, wann es für »deutend« arbeitende Disziplinen irgendwelchen wissenschaftlichen Sinn hat, aus ihrem Material, also dem unmittelbar verständlichen menschlichen Sich-Verhalten, im Wege der Abstraktion für ihre Zwecke besondere Regeln und sog. »Gesetze« zu bilden, ist freilich durchaus davon abhängig, ob dadurch für die deutende Kausalerkenntnis des Historikers bzw. Nationalökonomen bezüglich eines konkreten Problems brauchbare neue Einsichten zu erwarten sind. Daß dies der Fall sein müsse, ist schon wegen der geringen Schärfe, außerdem aber wegen der Trivialität der überwältigenden Mehrzahl der so zu gewinnenden Erfahrungssätze nicht im allergeringsten generell selbstverständlich. Wer sich veranschaulichen will, welche Früchte die bedingungslose Durchführung des Grundsatzes der Aufstellung von »Regeln« zeitigen würde, der lese etwa die Werke von Wilhelm Busch. Seine drolligsten Effekte erzielt dieser große Humorist gerade dadurch, daß er die zahllosen trivialen Alltagserfahrungen, die wir überall in unzählbaren Verschlingungen »deutend« verwenden, in das Gewand wissenschaftlicher Sentenzen kleidet. Der schöne Vers aus »Plisch und Plum«: »Wer sich freut, wenn wer betrübt, macht sich meistens unbeliebt« ist, zumal er das Gattungsartige des Vorgangs sehr korrekt nicht als Notwendigkeitsurteil, sondern als Regel »adäquater Verursachung« faßt, ein ganz tadellos formuliertes »historisches Gesetz«. – Sein Gehalt an Erfahrungswahrheit ist als geeignetes Hilfsmittel der »Deutung« z.B. der politischen Spannung zwischen Deutschland und England nach dem Burenkriege (natürlich neben sehr vielen andern, vielleicht wesentlich wichtigeren Momenten) gänzlich unbezweifelbar. Eine »sozialpsychologische« Analyse derartiger politischer »Stimmungs«-Entwickelungen könnte nun ja selbstverständlich unter den verschiedensten Gesichtspunkten höchst interessante Ergebnisse zutage fördern, die auch für die historische Deutung solcher Vorgänge, wie des erwähnten, den erheblichsten Wert gewinnen können, – aber was eben ganz und gar nicht feststeht, ist, daß sie ihn gewinnen müssen, und daß nicht im konkreten Fall die »vulgärpsychologische« Erfahrung vollkommen genügt und also das auf einer Art naturalistischer Eitelkeit beruhende Bedürfnis, die historische (oder ökonomische) Darstellung möglichst überall mit der Bezugnahme auf psychologische »Gesetze« schmücken zu können, im konkreten Fall ein Verstoß gegen die Oekonomie der wissenschaftlichen Arbeit wäre. Für eine grundsätzlich das Ziel der »verständlichen Deutung« festhaltende »psychologische« Behandlung von »Kulturerscheinungen« lassen sich Aufgaben der Begriffsbildung von logisch ziemlich heterogenem Charakter denken: darunter ohne allen Zweifel notwendigerweise auch die Bildung von Gattungsbegriffen und von »Gesetzen« in dem weiteren Sinn von »Regeln adäquater Verursachung«. Diese letzteren werden nur da, aber auch überall da, von Wert sein, wo die »Alltagserfahrung« nicht ausreicht, denjenigen Grad »relativer Bestimmtheit« der kausalen Zurechnung zu gewährleisten, welcher für die Deutung der Kulturerscheinungen im Interesse ihrer »Eindeutigkeit« erforderlich ist. Der Erkenntniswert ihrer Ergebnisse wird aber eben deshalb regelmäßig um so größer sein, je weniger sie dem Streben nach einer den quantifizierenden Naturwissenschaften verwandten Formulierung und Systematik auf Kosten des Anschlusses an die unmittelbar verständliche »Deutung« konkreter historischer Gebilde nachgeben, und je weniger sie infolgedessen von den allgemeinen Voraussetzungen in sich aufnehmen, welche naturwissenschaftliche Disziplinen für ihre Zwecke verwerten. Begriffe wie etwa der des »psychophysischen Parallelismus« z.B. haben als jenseits des »Erlebbaren« liegend für derartige Untersuchungen natürlich unmittelbar nicht die allergeringste Bedeutung, und die besten Leistungen »sozialpsychologischer« Deutung, die wir besitzen, sind in ihrem Erkenntniswert ebenso unabhängig von der Geltung aller derartigen Prämissen, wie ihre Einordnung in ein lückenloses »System« von »psychologischen« Erkenntnissen eine Sinnlosigkeit wäre. Der entscheidende logische Grund ist eben der: daß die Geschichte zwar nicht in dem Sinn »Wirklichkeitswissenschaft« ist, daß sie den gesamten Gehalt irgendeiner Wirklichkeit »abbildete«, – das ist prinzipiell unmöglich, – wohl aber in dem anderen, daß sie Bestandteile der gegebenen Wirklichkeit, die, als solche, begrifflich nur relativ bestimmt sein können, als »reale« Bestandteile einem konkreten kausalen Zusammenhang einfügt. Jedes einzelne derartige Urteil über die Existenz eines konkreten Kausalzusammenhangs ist an sich der Zerspaltung schlechthin ins Unendliche hinein fähig168, und nur eine solche würde – bei absolut idealer Vollendung des nomologischen Wissens – zur vollständigen Zurechnung mittels exakter »Gesetze« führen. Die historische Erkenntnis führt die Zerlegung nur so weit, als der konkrete Erkenntniszweck es verlangt, und diese notwendig nur relative Vollständigkeit der Zurechnung manifestiert sich in der notwendig nur relativen Bestimmtheit der für ihre Vollziehung verwendeten »Erfahrungsregeln«: darin also, daß die auf Grund methodischer Arbeit gewonnenen und weiter zu gewinnenden »Regeln« stets nur eine Enklave innerhalb der Flut »vulgär-psychologischer« Alltagserfahrung darstellen, welche der historischen Zurechnung dient. Aber »Erfahrung« ist eben, im logischen Sinn, auch diese.


»Erleben« und »Erfahren«, die Gottl einander so schroff gegenüberstellt169, sind in der Tat Gegensätze, aber auf dem Gebiet der »innern« in keinem andern Sinn wie auf dem der »äußern« Hergänge, beim »Handeln« nicht anders als in der »Natur«. »Verstehen« – im Sinne des evidenten »Deutens« – und »Erfahren« sind auf der einen Seite keine Gegensätze, denn jedes »Verstehen« setzt (psychologisch) »Erfahrung« voraus und ist (logisch) nur durch Bezugnahme auf »Erfahrung« als geltend demonstrierbar. Beide Kategorien sind anderseits insofern nicht identisch, als die Qualität der »Evidenz«170 das »Verstandene« und »Verständliche« dem bloß (aus Erfahrungsregeln) »Begriffenen« gegenüber auszeichnet. Das Spiel menschlicher »Leidenschaften« ist sicherlich in einem qualitativ andern Sinn »nacherlebbar« und »anschaulich« als »Natur«-Vorgänge es sind. Aber diese »Evidenz« des »verständlich« Gedeuteten ist sorgsam von jeder Beziehung zur »Geltung« zu trennen. Denn sie enthält nach der logischen Seite lediglich die Denkmöglichkeit und nach der sachlichen lediglich die objektive Möglichkeit171 der »deutend« erfaßbaren Zusammenhänge als Voraussetzung in sich. Für die Analyse der Wirklichkeit aber kommt ihr, lediglich um jener ihrer Evidenz-Qualität willen, nur die Bedeutung entweder, – wenn es sich um die Erklärung eines konkreten Vorganges handelt, – einer Hypothese, oder, – wenn es sich um die Bildung genereller Begriffe handelt, sei es zum Zweck der Heuristik oder zum Zweck einer eindeutigen Terminologie, – diejenige eines »idealtypischen« Gedankengebildes zu. Der gleiche Dualismus von »Evidenz« und empirischer »Geltung« ist aber auf dem Gebiet der an der Mathemathik orientierten Disziplinen, ja gerade auf dem Gebiet des mathematischen Erkennens selbst172, ganz ebenso vorhanden, wie auf demjenigen der Deutung menschlichen Handelns. Während aber die »Evidenz« mathematischer Erkenntnisse und der mathematisch formulierten Erkenntnis quantitativer Beziehungen der Körperwelt »kategorialen« Charakter hat, gehört die »psychologische« Evidenz in dem hier behandelten Sinn in das Gebiet des nur Phänomenologischen. Sie ist – denn hier erweist sich die Lippssche Terminologie als recht brauchbar – phänomenologisch bedingt durch die spezielle Färbung, welche die »Einfühlung« in solche qualitativen Hergänge besitzt, deren wir uns als objektiv möglicher Inhalte der eignen inneren Aktualität bewußt werden können. Ihre indirekte logische Bedeutung für die Geschichte ist gegeben durch den Umstand, daß zum »einfühlbaren« Inhalt fremder Aktualität auch jene »Wertungen« gehören, an denen der Sinn des »historischen Interesses« verankert ist, und daß daher seitens einer Wissenschaft, deren Objekt, geschichtsphilosophisch formuliert, »die Verwirklichung von Werten« darstellt173, die selbst »wertenden« Individuen stets als die »Träger« jenes Prozesses behandelt werden174.


Zwischen jenen beiden Polen –: der kategorialen mathematischen Evidenz räumlicher Beziehungen und der phänomenologisch bedingten Evidenz »einfühlbarer« Vorgänge des bewußten Seelenlebens, – liegt eine Welt von weder der einen noch der andern Art von »Evidenz« zugänglichen Erkenntnissen, die aber um dieses phänomenologischen »Mangels« willen natürlich nicht das Allermindeste an Dignität oder empirischer Geltung einbüßen. Denn, um es zu wiederholen, der Grundirrtum der von Gottl akzeptierten Erkenntnistheorie liegt darin, daß sie das Maximum »anschaulicher«175 Evidenz mit dem Maximum von (empirischer) Gewißheit verwechselt. Wie das wechselvolle Schicksal der sogenannten »physikalischen Axiome« immer wieder den Prozeß zeigt176,


daß eine in der Erfahrung sich bewährende Konstruktion die Dignität einer Denknotwendigkeit prätendiert, so hat die Identifikation von »Evidenz« mit »Gewißheit« oder gar – wie manche Epigonen K. Mengers wollten – mit »Denknotwendigkeit« bei »idealtypischen« Konstruktionen auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften ganz entsprechende Irrtümer gezeitigt, und auch Gottl z.B. in manchen Aufstellungen in seiner »Herrschaft des Worts« den gleichen Weg betreten177. Allem Gesagten zum Trotz wird man nun aber doch daran festhalten wollen, daß jedenfalls auf einem Gebiet die an sich nur erkenntnispsychologische Bedeutung der »nacherlebenden Deutung« de facto den Sinn des »Geltens« annehme: da nämlich, wo eben bloße nicht artikulierte »Gefühle« historisches Erkenntnisobjekt und eben daher die Suggestion von entsprechenden »Gefühlen« bei uns das einzige mögliche Erkenntnisideal sei. Das »Einleben« eines Historikers, Archäologen, Philologen in »Persönlichkeiten«, »Kunstepochen«, »Sprachen« erfolge in Gestalt bestimmter »Gemeingefühle«, »Sprachgefühle« usw., und man hat178 diese Gefühle geradezu als den sichersten »Canon« für die historische Bestimmung z.B. der Provenienz einer Urkunde, eines Kunstwerks, oder für die Deutung der Gründe und des Sinnes einer historischen Handlung hingestellt. Da nun der Historiker anderseits bezwecke und bezwecken müsse, uns die »Kulturerscheinungen« (wozu natürlich z.B. auch einzelne historisch, speziell auch rein politisch bedeutsame »Stimmungen« gehören) »nacherleben« zu lassen, sie uns zu »suggerieren«, so sei wenigstens in diesen Fällen diese suggerierende »Deutung« ein Vorgang, welcher gegenüber der begrifflichen Artikulation auch erkenntnistheoretisch autonom sei.


Versuchen wir, in diesen Ausführungen Zutreffendes von Falschem zu sondern. Was zunächst jene behauptete Bedeutung der »Gemeingefühle« oder »Totalitätsgefühle« als »Canon« der kulturhistorischen Einordnung oder der Deutung von »Persönlichkeiten« anlangt, so ist die Bedeutung des – wohlgemerkt: durch konstante denkende Beschäftigung mit dem »Stoff«, d.h. aber: durch Uebung, also »Erfahrung« erworbenen179 – »Gefühls« für die psychologische Genesis einer Hypothese im Geist des Historikers sicherlich von eminenter Bedeutung, ja geradezu unentbehrlich: durch bloßes Hantieren mit »Wahrnehmungen« und »Begriffen« ist noch keinerlei wertvolle historische, aber auch keinerlei Erkenntnis irgendwelcher andern Art, »geschaffen« worden. Was dagegen die angebliche »Sicherheit« im Sinn des wissenschaftlichen »Geltens« anlangt, so wird jeder gewissenhafte Forscher die Ansicht auf das bestimmteste ablehnen müssen, daß der Berufung auf »Totalitätsgefühle«, z.B. auf den »allgemeinen Charakter« einer Epoche, eines Künstlers usw. irgendwelcher Wert zukomme, sofern sie sich nicht in bestimmt artikulierte und demonstrierbare Urteile, d.h. aber in »begrifflich« geformte »Erfahrung« durchaus im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes umsetzen und so kontrollieren läßt. – Damit ist im Grunde auch schon gesagt, was es mit der historischen »Reproduktion« von gefühlsmäßigen seelischen Inhalten, wo sie historisch (kausal) relevant sind, für eine Bewandtnis hat. Daß »Gefühle« sich nicht in dem Sinne begrifflich »definieren« lassen wie etwa ein rechtwinkliges Dreieck oder wie Abstraktionsprodukte der quantifizierenden Wissenschaften, teilen sie durchaus mit allem Qualitativen. Alle Qualia, mögen wir sie als Qualitäten der »Dinge« in die Welt außer uns »projizieren« oder als psychische Erlebungen in uns »introjizieren«, besitzen als solche diesen Charakter des notwendig relativ »Unbestimmten«. Für Lichtfarben, Klangfarben, Geruchsnuancen usw. gilt natürlich genau im gleichen Sinn wie für religiöse, ästhetische, ethische »Wertgefühle«, daß bei ihrer schildernden Darstellung letztlich »ein jeder sieht, was er im Herzen trägt«. Die Deutung psychischer Vorgänge arbeitet also, soweit nur dieser Umstand in Frage kommt, in durchaus keinem andern Sinn mit prinzipiell nicht absolut eindeutig bestimmbaren Begriffen, wie jede Wissenschaft, welche vom Qualitativen nicht durchweg abstrahiert, überhaupt es tun muß180.


Soweit der Historiker in seiner Darstellung sich mit suggestiv wirkenden Mitteln an unser »Gefühl« wendet, also m. a. W. ein begrifflich nicht artikulierbares »Erlebnis« in uns zu provozieren trachtet, handelt es sich entweder um eine Stenographie für die Darstellung von Teilerscheinungen seines Objekts, deren begriffliche Bestimmtheit für den konkreten Erkenntniszweck ohne Schaden unterlassen werden kann: – dies ist eine Folge des Umstandes, daß die prinzipielle Unausschöpfbarkeit des empirisch gegebenen Mannigfaltigen jede Darstellung nur als einen »relativen« Abschluß des historischen Erkenntnisprozesses »Geltung« erlangen läßt. Oder aber: die Provokation eines reinen Gefühlserlebnisses in uns beansprucht, als spezifisches Erkenntnismittel zu dienen: als »Veranschaulichung« z.B. des »Charakters« einer Kulturepoche oder eines Kunstwerkes. Alsdann kann sie zwiefachen logischen Charakter haben. Sie kann mit dem Anspruch auftreten, ein »Nacherleben« des – je nach der Ausdrucksweise – »geistigen« oder »psychischen« »Gehaltes« des »Lebens« der betreffenden Epoche oder Persönlichkeit oder des konkreten Kunstwerkes darzustellen. In diesem Fall enthält sie beim Darsteller und erzeugt sie beim Leser, der sich mit ihrer Hilfe »einfühlt«, solange sie im Stadium des »Gefühlten« beharrt, stets und unvermeidlich unartikulierte eigene Wertgefühle, bezüglich deren an sich nicht die mindeste Gewähr besteht, daß sie den Gefühlen jener historischen Menschen irgendwie entsprechen, in welche er sich einfühlt181. Es fehlt ihr deshalb auch jeder kontrollierbare Maßstab für eine Unterscheidung von kausal »Wesentlichem« und »Unwesentlichem«. Wie das »Totalitätsgefühl«, welches in uns z.B. durch eine fremde Stadt erzeugt wird, im Stadium des rein Gefühlsmäßigen durch Dinge, wie die Lage der Schornsteine, die Form der Dachgesimse und dergleichen absolut zufällige, d.h. hier: für den eignen »Lebensstil« ihrer Bewohner in keinem Sinn kausal wesentliche Elemente bestimmt zu werden pflegt, so steht es auch, nach aller Erfahrung, mit allen unartikulierten historischen »Intuitionen« ohne alle Ausnahme: ihr wissenschaftlicher Erkenntniswert sinkt zumeist parallel mit ihrem ästhetischen Reiz; sie können unter Umständen bedeutenden »heuristischen« Wert gewinnen, unter Umständen aber auch der sachlichen Erkenntnis geradezu im Wege stehen, weil sie das Bewußtsein davon, daß es sich um Gefühlsinhalte des Beschauers, nicht der geschilderten »Epoche« resp. des schaffenden Künstlers usw. handelt, verdunkeln. Der subjektive Charakter derartiger »Erkenntnis« ist in diesem Falle identisch mit dem Mangel der »Geltung«, eben weil eine begriffliche Artikulation unterlassen ist, und die »Anempfindung« dadurch sich der Demonstration und Kontrolle entzieht. Und sie trägt überdies die eminente Gefahr in sich, die kausale Analyse der Zusammenhänge zugunsten des Suchens nach einem dem »Totalgefühl« entsprechenden »Gesamtcharakter« zurückzudrängen, welcher nun, – da das Bedürfnis nach einer die »Gefühlssynthese« wiedergebenden Formel an die Stelle desjenigen nach empirischer Analyse getreten ist, – der »Epoche« als Etikette aufgeklebt wird. Die subjektive gefühlsmäßige »Deutung« in dieser Form stellt weder empirische historische Erkenntnis realer Zusammenhänge (kausale Deutung) dar, noch dasjenige andere, was sie außerdem noch sein könnte: wertbeziehende Interpretation. Denn dies ist derjenige andere Sinn des »Erlebens« eines historischen Objektes, welcher neben der kausalen Zurechnung in der »Kategorie« [der Deutung], mit welcher wir uns hier befassen, liegen kann. Ich habe über ihr logisches Verhältnis zum Geschichtlichen an anderer Stelle gehandelt182, und es genügt hier festzustellen, daß in dieser Funktion die »Deutung« eines ästhetisch, ethisch, intellektuell oder unter Kulturwertgesichtspunkten aller denkbaren Art bewertbaren Objektes nicht Bestandteil einer (im logischen Sinn) rein empirisch-historischen – d.h. konkrete, »historische Individuen« zu konkreten Ursachen zurechnenden – Darstellung, sondern vielmehr – vom Standpunkt der Geschichte aus betrachtet – Formung des »historischen Individuums« ist. Die »Deutung« des »Faust«, oder etwa des »Puritanismus« oder etwa bestimmter Inhalte der »griechischen Kultur« in diesem Sinn ist Ermittlung der »Werte«, welche »wir« in jenen Objekten »verwirklicht« finden können und derjenigen, stets und ausnahmslos individuellen »Form«, in welcher »wir« sie darin »verwirklicht« finden und um derentwillen jene »Individuen« Objekte der historischen »Erklärung« werden: – mithin eine geschichtsphilosophische Leistung. Sie ist in der Tat »subjektivierend«, wenn nämlich darunter verstanden wird, daß die »Geltung« jener Werte selbstverständlich von uns niemals im Sinn einer Geltung als empirischer »Tatsache« gemeint sein kann. Denn in dem hier jetzt in Rede stehenden Sinn verstanden, interpretiert sie nicht, was die historisch an der Schaffung des »bewerteten« Objekts Beteiligten ihrerseits subjektiv »empfanden« – das ist ihr, soweit sie Selbstzweck ist, nur eventuell Hilfsmittel für unser eigenes, besseres »Verständnis« des Wertes183 –, sondern was »wir« in dem Objekt an Werten finden »können« – oder etwa auch: »sollen«. Im letzteren Fall setzt sie sich die Ziele einer normativen Disziplin – etwa der Aesthetik – und »wertet« selbst, im ersteren ruht sie, logisch betrachtet, auf der Grundlage »dialektischer« Wertanalyse und ermittelt ausschließlich »mögliche« Wertbeziehungen des Objekts. Diese »Beziehung« auf »Werte« ist es nun aber, – und das ist ihre in unserm Zusammenhang entscheidend wichtige Funktion, – welche zugleich den einzigen Weg darstellt, aus der völligen Unbestimmtheit des »Eingefühlten« herauszukommen zu derjenigen Art von Bestimmtheit, deren die Erkenntnis individueller geistiger Bewußtseinsinhalte fähig ist. Denn im Gegensatz zum bloßen »Gefühlsinhalt« bezeichnen wir als »Wert« ja eben gerade das und nur das, was fähig ist, Inhalt einer Stellungnahme: eines artikuliert-bewußten positiven und negativen »Urteils« zu werden, etwas, was »Geltung heischend« an uns herantritt, und dessen »Geltung« als »Wert« »für« uns demgemäß nun »von« uns anerkannt, abgelehnt oder in den mannigfachsten Verschlingungen »wertend beurteilt« wird. Die »Zumutung« eines ethischen oder ästhetischen »Wertes« enthält ausnahmslos die Fällung eines »Werturteils«. Ohne nun auf das Wesen der »Werturteile« hier noch näher eingehen zu können184, so ist für unsere Betrachtungen das eine jedenfalls festzustellen: daß die Bestimmtheit des [Urteils-]Inhaltes es ist, welche das Objekt, auf welches sie sich beziehen, aus der Sphäre des nur »Gefühlten« heraushebt. Ob irgend jemand das »Rot« einer bestimmten Tapete »ebenso« sieht wie ich, ob es für ihn dieselben »Gefühlstöne« besitzt, ist durch kein Mittel eindeutig festzustellen, die betreffende »Anschauung« bleibt in ihrer Kommunikabilität notwendig unbestimmt. Die Zumutung, ein ethisches oder ästhetisches Urteil über einen Tatbestand zu teilen, hätte dagegen gar keinen Sinn, wenn – bei allem Mitspielen inkommunikabler »Gefühls« bestandteile – nicht dennoch der »zugemutete« Inhalt des Urteils in den Punkten, »auf die es ankommt«, identisch »verstanden« würde. Beziehung des Individuellen auf mögliche »Werte« bedeutet stets ein – immer nur relatives – Maß von Beseitigung des lediglich anschaulich »Gefühlten«. Eben darum – und damit kommen wir noch einmal abschließend auf einige schon früher gemachte Andeutungen zurück – tritt diese geschichtsphilosophische »Deutung«, und zwar in ihren beiden möglichen Formen: der direkt wertenden (also: metaphysischen) und der lediglich wertanalytischen, offensichtlich fortwährend in den Dienst des »einfühlenden Verständnisses« des Historikers. Es kann in dieser Hinsicht durchaus auf die, nur in der Formulierung hier und da nicht abschließenden, gelegentlich auch sachlich nicht ganz unbedenklichen Bemerkungen Simmels185 verwiesen und mag nur folgendes ergänzend hinzugefügt werden: Weil das »historische Individuum« auch in der speziellen Bedeutung der »Persönlichkeit« im logischen Sinn nur eine durch Wertbeziehung künstlich hergestellte »Einheit« sein kann, ist »Wertung« die normale psychologische Durchgangsstufe für das »intellektuelle Verständnis«. Die volle Verdeutlichung der historisch relevanten Bestandteile der »inneren Entwickelung« einer »historischen Persönlichkeit« (etwa Goethes oder Bismarcks) oder auch nur ihres konkreten Handelns in einem konkreten historisch relevanten Zusammenhang pflegt in der Tat nur durch Konfrontation möglicher »Wertungen« ihres Verhaltens gewonnen zu werden, so unbedingt die Ueberwindung dieser psychologischen Durchgangsstufe in der Genesis seines Erkennens vom Historiker beansprucht werden muß. Wie in dem früher benutzten Beispiel des Patrouillenführers die kausale Deutung in den Dienst des praktischen »Stellungnehmens« trat, indem sie das noëtische »Verstehen« der aus sich selbst nicht eindeutigen Order ermöglichte, so tritt in diesen Fällen umgekehrt die eigene »Wertung« als Mittel in den Dienst des »Verstehens«, und das heißt hier: der kausalen Deutung fremden Handelns186. In diesem Sinn und aus diesem Grund ist es richtig, daß gerade eine ausgeprägte »Individualität« des Historikers, d.h. aber: scharf präzisierte »Wertungen«, die ihm eigen sind, eminent leistungsfähige Geburtshelfer kausaler Erkenntnis sein können, so sehr sie auf der andern Seite durch die Wucht ihres Wirkens die »Geltung« der Einzelergebnisse als Erfahrungswahrheit auch wieder zu gefährden geeignet sind187.


Um hiermit diese notgedrungen etwas eintönige Auseinandersetzung mit den mannigfachen, in allerhand Farben und Formen schillernden Theorien, von der angeblichen Eigenart der »subjektivierenden« Disziplinen und der Bedeutung dieser Eigenart für die Geschichte abzuschließen, so ist das Ergebnis lediglich die eigentlich recht triviale, aber trotz allem immer wieder in Frage gestellte Einsicht, daß weder die »sachlichen« Qualitäten des »Stoffes« noch »ontologische« Unterschiede seines »Seins«, noch endlich die Art des »psychologischen« Herganges der Erlangung einer bestimmten Erkenntnis über ihren logischen Sinn und über die Voraussetzungen ihrer »Geltung« entscheiden. Empirische Erkenntis auf dem Gebiet des »Geistigen« und auf demjenigen der »äußern« »Natur«, der Vorgänge »in« uns und derjenigen »außer« uns ist stets an die Mittel der »Begriffsbildung« gebunden, und das Wesen eines »Begriffs« ist auf beiden sachlichen »Gebieten« logisch das gleiche. Die logische Eigenart »historischer« Erkenntnis im Gegensatz zu der im logischen Sinn »naturwissenschaftlichen« hat mit der Scheidung des »Psychischen« vom »Physischen«, der »Persönlichkeit« und des »Handelns« vom toten »Naturobjekt« und »mechanischen Naturvorgang« durchaus nichts zu schaffen188. Und noch weniger darf die »Evidenz« der »Einfühlung« in tatsächliche oder potentielle »bewußte« innere »Erlebungen« – eine lediglich phänomenologische Qualität der »Deutung« – mit einer spezifischen empirischen »Gewißheit« »deutbarer« Vorgänge identifiziert werden. – Weil und soweit es uns etwas »bedeuten« kann, wird eine, physische oder psychische oder beides umfassende, »Wirklichkeit« von uns als »historisches Individuum« geformt; – weil es durch »Wertungen« und »Bedeutungen« bestimmbar ist, wird »sinnvoll« deutbares menschliches Sich-Verhalten (»Handeln«) in spezifischer Art von unserm kausalen Interesse bei der »geschichtlichen« Erklärung eines solchen »Individuums« erfaßt; – endlich: soweit es an sinnvollen »Wertungen« orientiert oder mit ihnen konfrontierbar ist, kann menschliches Tun in spezifischer Art »evident« »verstanden« werden. Es handelt sich also bei der besonderen Rolle des »deutbar« Verständlichen in der »Geschichte« um Unterschiede 1. unseres kausalen Interesses und 2. der Qualität der erstrebten »Evidenz« individueller Kausalzusammenhänge, nicht aber um Unterschiede der Kausalität oder der Bedeutung und Art der Begriffsbildung. –


Es erübrigt jetzt nur noch, einer bestimmten Art der »deutenden« Erkenntnis einige Betrachtungen zu widmen: der »rationalen« Deutung mittels der Kategorien »Zweck« und »Mittel«. Wo immer wir menschliches Handeln als durch klar bewußte und gewollte »Zwecke« bei klarer Erkenntnis der »Mittel« bedingt »verstehen«, da erreicht dieses Verständnis unzweifelhaft ein spezifisch hohes Maß von »Evidenz«. Fragen wir nun aber, worauf dies beruhe, so zeigt sich als Grund alsbald der Umstand, daß die Beziehung der »Mittel« zum »Zweck« eine rationale, der generalisierenden Kausalbetrachtung im Sinn der »Gesetzlichkeit« in spezifischem Maße zugängliche ist. Es gibt kein rationales Handeln ohne kausale Rationalisierung des als Objekt und Mittel der Beeinflussung in Betracht gezogenen Ausschnittes aus der Wirklichkeit, d.h. ohne dessen Einordnung in einen Komplex von Erfahrungsregeln, welche aussagen, welcher Erfolg eines bestimmten Sich-Verhaltens zu erwarten steht. Zwar ist es in jedem Sinn grundverkehrt, wenn behauptet wird, die »teleologische«189 »Auffassung« eines Vorganges sei aus diesem Grunde als eine »Umkehrung« der kausalen zu begreifen190. Richtig aber ist, daß es ohne den Glauben an die Verläßlichkeit der Erfahrungsregeln kein auf Erwägung der Mittel für einen beabsichtigten Erfolg ruhendes Handeln geben könnte, und daß, im Zusammenhang damit, ferner bei eindeutigem gegebenen Zweck die Wahl der Mittel zwar nicht notwendig ebenfalls eindeutig, aber doch wenigstens nicht in gänzlich unbestimmter Vieldeutigkeit, sondern in einer Disjunktion von je nach den Umständen verschieden vielen Gliedern »determiniert« ist. Die rationale Deutung kann so die Form eines bedingten Notwendigkeitsurteils annehmen (Schema: bei gegebener Absicht x »mußte« nach bekannten Regeln des Geschehens der Handelnde zu ihrer Erreichung das Mittel y bzw. eines der Mittel y, y', y'' wählen) und daher zugleich mit einer teleologischen »Wertung« des empirisch konstatierbaren Handelns in Eins zusammenfließen (Schema: die Wahl des Mittels y gewährte nach bekannten Regelns des Geschehens gegenüber y' oder y'' die größere Chance der Erreichung des Zweckes x oder erreichte diesen Zweck mit den geringsten Opfern usw., die eine war daher »zweckmäßiger« als die andere oder auch allein »zweckmäßig«). Da diese Wertung rein »technischen« Charakters ist, d.h. lediglich an der Hand der Erfahrung die Adäquatheit der »Mittel« für den vom Handelnden faktisch gewollten Zweck konstatiert, so verläßt sie trotz ihres Charakters als »Wertung« den Boden der Analyse des empirisch Gegebenen in keiner Weise. Und auf dem Boden der Erkenntnis des wirklich Geschehenden tritt diese rationale »Wertung« auch lediglich als Hypothese oder idealtypische Begriffsbildung auf: Wir konfrontieren das faktische Handeln mit dem, »teleologisch« angesehen, nach allgemeinen kausalen Erfahrungsregeln rationalen, um so entweder ein rationales Motiv, welches den Handelnden geleitet haben kann, und welches wir zu ermitteln beabsichtigen, dadurch festzustellen, daß wir seine faktischen Handlungen als geeignete Mittel zu einem Zweck, den er verfolgt haben »könnte«, aufzeigen, – oder um verständlich zu machen, warum ein uns bekanntes Motiv des Handelnden infolge der Wahl der Mittel einen anderen Erfolg hatte, als der Handelnde subjektiv erwartete. In beiden Fällen aber nehmen wir nicht eine »psychologische« Analyse der »Persönlichkeit« mit Hilfe irgendwelcher eigenartiger Erkenntnismittel vor, sondern vielmehr eine Analyse der »objektiv« gegebenen Situation mit Hilfe unseres nomologischen Wissens. Die »Deutung« verblaßt also hier zu dem allgemeinen Wissen davon, daß wir »zweckvoll« handeln können, d.h. aber: handeln können auf Grund der Erwägung der verschiedenen »Möglichkeiten« eines künftigen Hergangs im Fall der Vollziehung jeder von verschiedenen als möglich gedachten Handlungen (oder Unterlassungen). Infolge der eminenten faktischen Bedeutung des in diesem Sinn »zweckbewußten« Handelns in der empirischen Wirklichkeit läßt sich die »teleologische« Rationalisierung als konstruktives Mittel zur Schaffung von Gedankengebilden verwenden, welche den außerordentlichsten heuristischen Wert für die kausale Analyse historischer Zusammenhänge haben. Und zwar können diese konstruktiven Gedankengebilde zunächst [1.] rein individuellen Charakters: Deutungs-Hypothesen für konkrete Einzelzusammenhänge sein, – so etwa in einem schon erwähnten Beispiel die Konstruktion einer, durch supponierte Zwecke einerseits, durch die Konstellation der »großen Mächte« anderseits, bedingten Politik Friedrich Wilhelms IV. Sie dient dann als gedankliches Mittel zu dem Zweck, seine reale Politik daran in bezug auf den Grad ihres rationalen Gehaltes zu messen und so einerseits die rationalen Bestandteile, andererseits die (mit bezug auf jenen Zweck) nicht rationalen Elemente seines wirklichen politischen Handelns zu erkennen, wodurch dann die historisch gültige Deutung jenes Handelns, die Abschätzung der kausalen Tragweite beider und so die gültige Einordnung der »Persönlichkeit« Friedrich Wilhelms IV. als kausalen Faktors in den historischen Zusammenhang ermöglicht wird. Oder aber – und das interessiert uns hier – sie können [2.] idealtypische Konstruktionen generellen Charakters sein, wie die »Gesetze« der abstrakten Nationalökonomie, welche unter der Voraussetzung streng rationalen Handelns die Konsequenzen bestimmter ökonomischer Situationen gedanklich konstruieren. In allen Fällen aber ist das Verhältnis solcher rationalen teleologischen Konstruktionen zu derjenigen Wirklichkeit, welche die Erfahrungswissenschaften bearbeiten, natürlich nicht etwa das von »Naturgesetz« und »Konstellation«, sondern lediglich das eines idealtypischen Begriffs, der dazu dient, die empirisch gültige Deutung dadurch zu erleichtern, daß die gegebenen Tatsachen mit einer Deutungsmöglichkeit – einem Deutungsschema – verglichen werden, – sie ist insofern also verwandt der Rolle, welche die teleologische Deutung in der Biologie spielt. Wir »erschließen« auch durch die rationale Deutung nicht – wie Gottl meint – »wirkliches Handeln«, sondern »objektiv mögliche« Zusammenhänge. Die teleologische Evidenz bedeutet auch bei diesen Konstruktionen nicht ein spezifisches Maß von empirischer Gültigkeit, sondern die »evidente« rationale Konstruktion vermag, »richtig« gebildet, gerade die teleologisch nicht rationalen Elemente des faktischen ökonomischen Handelns erkennbar und damit das letztere in seinem tatsächlichen Verlaufe verständlich zu machen. Jene Deutungsschemata sind daher auch nicht nur – wie man gesagt hat – »Hypothesen« nach Analogien naturwissenschaftlicher hypothetischer »Gesetze«. Sie können als Hypothesen bei der heuristischen Verwendung der Deutung konkreter Vorgänge fungieren. Aber im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Hypothesen tangiert die Feststellung, daß sie im konkreten Fall eine gültige Deutung nicht enthalten, ihren Erkenntniswert nicht, ebensowenig wie z.B. die empirische Nichtgeltung des pseudosphärischen Raumes die »Richtigkeit« seiner Konstruktion. Die Deutung mit Hilfe des rationalen Schemas war dann eben in diesem Fall nicht möglich – weil die im Schema angenommenen »Zwecke« im konkreten Fall als Motive nicht existent waren –, was aber die Möglichkeit ihrer Verwertung für keinen anderen Fall ausschließt. Ein hypothetisches »Naturgesetz«, welches in einem Fall definitiv versagt, fällt als Hypothese ein- für allemal in sich zusammen. Die idealtypischen Konstruktionen der Nationalökonomie dagegen prätendieren – richtig verstanden – keineswegs, generell zu gelten, während ein »Naturgesetz« diesen Anspruch erheben muß, will es nicht seine Bedeutung verlieren. – Ein sogenanntes »empirisches« Gesetz endlich ist eine empirisch geltende Regel mit problematischer kausaler Deutung, ein teleologisches Schema rationalen Handelns dagegen eine Deutung mit problematischer empirischer Geltung: beide sind also logisch polare Gegensätze. – Jene Schemata sind aber »idealtypische Begriffsbildungen«191. Weil die Kategorien »Zweck« und »Mittel« bei ihrer Anwendung auf die empirische Wirklichkeit deren Rationalisierung bedingen, deshalb und nur deshalb ist die Konstruktion solcher Schemata möglich192. Von hier aus fällt noch einmal, und endgültig, Licht auf die Behauptung von der spezifischen empirischen Irrationalität der »Persönlichkeit« und des »freien« Handelns.


Je »freier«, d.h. je mehr auf Grund »eigener«, durch »äußeren« Zwang oder unwiderstehliche »Affekte« nicht getrübter »Erwägungen«, der »Entschluß« des Handelnden einsetzt, desto restloser ordnet sich die Motivation ceteris paribus den Kategorien »Zweck« und »Mittel« ein, desto vollkommener vermag also ihre rationale Analyse und gegebenenfalls ihre Einordnung in ein Schema rationalen Handelns zu gelingen, desto größer aber ist infolgedessen auch die Rolle, welche – beim Handelnden einerseits, beim analysierenden Forscher andrerseits – das nomologische Wissen spielt, desto »determinierter« ist ersterer in bezug auf die »Mittel«. Und nicht nur das. Sondern je »freier« in dem hier in Rede stehenden Sinn das »Handeln« ist, d.h. je weniger es den Charakter des »naturhaften Geschehens« an sich trägt, desto mehr tritt damit endlich auch derjenige Begriff der »Persönlichkeit« in Kraft, welcher ihr »Wesen« in der Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten »Werten« und Lebens-»Bedeutungen« findet, die sich in ihrem Tun zu Zwecken ausmünzen und so in teleologisch-rationales Handeln umsetzen, und desto mehr schwindet also jene romantisch-naturalistische Wendung des »Persönlichkeits«gedankens, die umgekehrt in dem dumpfen, ungeschiedenen vegetativen »Untergrund« des persönlichen Lebens, d.h. in derjenigen, auf der Verschlingung einer Unendlichkeit psycho-physischer Bedingungen der Temperaments-und Stimmungsentwickelung beruhenden »Irrationalität«, welche die »Person« ja doch mit dem Tier durchaus teilt, das eigentliche Heiligtum des Persönlichen sucht. Denn diese Romantik ist es, welche hinter dem »Rätsel der Persönlichkeit« in dem Sinn steht, in welchem Treitschke gelegentlich und viele andere sehr häufig davon sprechen, und welche dann womöglich noch die »Willensfreiheit« in jene naturhaften Regionen hineindichtet. Die Sinnwidrigkeit dieses letzteren Beginnens ist schon im unmittelbaren Erleben handgreiflich: wir »fühlen« uns ja gerade durch jene »irrationalen« Elemente unseres Handelns entweder (zuweilen) geradezu »nezessitiert« oder doch in einer unserem »Wollen« nicht »immanenten« Weise mitbestimmt. Für die »Deutung« des Historikers ist die »Persönlichkeit« nicht ein »Rätsel«, sondern umgekehrt das einzig deutbare »Verständliche«, was es überhaupt gibt, und menschliches Handeln und Sich-Verhalten an keiner Stelle, insbesondere auch nicht da, wo die Möglichkeit rationaler Deutung aufhört, in höherem Grade »irrational« – im Sinn von »unberechenbar« oder der kausalen Zurechnung spottend –, als jeder individuelle Vorgang als solcher überhaupt es ist, dagegen hoch hinausgehoben über die Irrationalität des rein »Natürlichen« überall da, wo rationale »Deutung« möglich ist. Der Eindruck von der ganz spezifischen Irrationalität des »Persönlichen« entsteht dadurch, daß der Historiker das Handeln seiner Helden und die daraus sich ergebenden Konstellationen an dem Ideal teleologisch-rationalen Handelns mißt, statt es, wie es – um Vergleichbares zu vergleichen – geschehen müßte, mit dem Ablauf individueller Vorgänge in der »toten Natur« zu konfrontieren. Am allerwenigsten aber sollte irgendein Begriff von »Willensfreiheit« mit jener Irrationalität je in Beziehung gesetzt werden. Gerade der empirisch »frei«, d.h. nach Erwägungen Handelnde, ist teleologisch durch die, nach Maßgabe der objektiven Situation, ungleichen und erkennbaren Mittel zur Erreichung seiner Zwecke gebunden. Dem Fabrikanten im Konkurrenzkampf, dem Makler auf der Börse hilft der Glaube an seine »Willensfreiheit« herzlich wenig. Er hat die Wahl zwischen ökonomischer Ausmerzung oder der Befolgung sehr bestimmter Maximen des ökonomischen Gebarens. Befolgt er sie zu seinem offenkundigen Schaden nicht, so werden wir zur Erklärung – neben anderen möglichen Hypothesen – eventuell gerade auch die in Betracht ziehen, daß ihm die »Willensfreiheit« mangelte. Gerade die »Gesetze« der theoretischen Nationalökonomie setzen, ganz ebenso wie natürlich auch jede rein rationale Deutung eines historischen Einzelvorganges, das Bestehen von »Willensfreiheit« in jedem auf dem Boden des Empirischen überhaupt möglichen Sinn des Wortes notwendig voraus.


In irgendeinem andern als jenem Sinn zweckvoll-rationalen Handelns gefaßt, steht dagegen das »Problem« der »Willensfreiheit« in allen Formen, die es überhaupt annehmen kann, durchaus jenseits des Betriebes der Geschichte und ist für sie ohne alle Bedeutung.


Die »deutende« Motivforschung des Historikers ist in absolut dem gleichen logischen Sinn kausale Zurechnung wie die kausale Interpretation irgendeines individuellen Naturvorganges, denn ihr Ziel ist die Feststellung eines »zureichenden« Grundes (mindestens als Hypothese) genau so, wie dies bei komplexen Naturvorgängen, falls es auf deren individuelle Bestandteile ankommt, allein das Ziel der Forschung sein kann. Sie kann die Erkenntnis eines So-handeln-müssens (im naturgesetzlichen Sinn), wenn sie nicht entweder dem Hegelschen Emanatismus oder irgendeiner Spielart des modernen anthropologischen Okkultismus zum Opfer fallen will, nicht zum Erkenntnisziel machen, weil das menschliche ganz ebenso wie das außermenschliche (»lebende« oder »tote«) Konkretum, als ein irgendwie begrenzter Ausschnitt des kosmischen Gesamtgeschehens angesehen, nirgends im ganzen Umkreise des Geschehens in ein lediglich »nomologisches« Wissen »eingeht«, – da es überall (nicht nur auf dem Gebiete des »Persönlichen«) eine intensive Unendlichkeit des Mannigfaltigen ist, von der für einen historischen Kausalzusammenhang, logisch betrachtet, alle denkbaren einzelnen, für die Wissenschaft lediglich als »gegeben« konstatierbaren Bestandteile als kausal bedeutsam in Betracht kommen können.


Die Form, in welcher die Kategorie der Kausalität von den einzelnen Disziplinen verwendet wird, ist eben eine verschiedene, und in einem bestimmten Sinn – das ist durchaus zugegeben – wechselt damit auch der Gehalt der Kategorie selbst, dergestalt nämlich, daß von ihren Bestandteilen bald der eine, bald der andere grade dann seinen Sinn verliert, wenn mit der Durchführung des Kausalprinzips bis in die letzten Konsequenzen Ernst gemacht wird193. Ihr voller, sozusagen »urwüchsiger« Sinn enthält zweierlei: den Gedanken des »Wirkens« als eines, sozusagen, dynamischen Bandes zwischen unter sich qualitativ verschiedenen Erscheinungen auf der einen, den Gedanken der Gebundenheit an »Regeln« auf der anderen Seite. Das »Wirken« als sachlicher Gehalt der Kausalkategorie und damit der Begriff der »Ursache« verliert seinen Sinn und verschwindet überall da, wo im Wege der quantifizierenden Abstraktion die mathematische Gleichung als Ausdruck der rein räumlichen Kausalbeziehungen gewonnen ist. Soll ein Sinn der Kausalitätskategorie hier noch festgehalten werden, so kann es nur der einer Regel zeitlichen Aufeinanderfolgens von Bewegungen sein, und auch dieses nur in dem Sinn, daß sie als Ausdruck der Metamorphose eines seinem Wesen nach ewig Gleichen gilt. – Umgekehrt verschwindet der Gedanke der »Regel« aus der Kausalkategorie, sobald auf die schlechthinnige qualitative Einmaligkeit des durch die Zeit ablaufenden Weltprozesses und die qualitative Einzigartigkeit auch jedes räumlich-zeitlichen Ausschnittes daraus reflektiert wird. Für eine schlechthin einmalige gesamtkosmische oder partialkosmische Entwickelung verliert dann der Begriff der Kausalregel ganz ebenso seinen Sinn, wie für die Kausalgleichung der Begriff des kausalen Wirkens, und will man für jene von keiner Erkenntnis je zu umspannende Unendlichkeit des konkreten Geschehens einen Sinn der Kausalkategorie festhalten, so bleibt nur der Gedanke des »Bewirktwerdens« in dem Sinn, daß das in jedem Zeitdifferential schlechthin »Neue« eben gerade so und nicht anders aus dem »Vergangenen« entstehen »mußte«, was aber im Grunde nichts anderes bedeutet als die Angabe der Tatsache, daß es eben schlechthin so und nicht anders in seinem »Jetzt«, in absoluter Einzigartigkeit und doch in einem Kontinuum des Geschehens, »entstand«.


Diejenigen empirischen, mit der Kategorie der Kausalität arbeitenden Disziplinen, welche die Qualitäten der Wirklichkeit bearbeiten, und zu ihnen gehört die Geschichte und gehören alle »Kulturwissenschaften« gleichviel welcher Art, verwenden diese Kategorie durchweg in ihrer vollen Entfaltung: sie betrachten Zustände und Veränderungen der Wirklichkeit als »bewirkt« und »wirkend« und suchen teils aus den konkreten Zusammenhängen durch Abstraktion »Regeln« der »Verursachung« zu ermitteln, teils konkrete »ursächliche« Zusammenhänge durch Bezugnahme auf »Regeln« zu »erklären«. Welche Rolle aber die Formulierung der »Regeln« dabei spielt, und welche logische Form diese annehmen, ob überhaupt eine Formulierung von Regeln stattfindet, ist Frage des spezifischen Erkenntnisziels. Ihre Formulierung in Gestalt von kausalen Notwendigkeitsurteilen aber ist nicht das ausnahmslose Ziel, die Unmöglichkeit der apodiktischen Form keineswegs auf die »Geisteswissenschaften« beschränkt. Für die Geschichte speziell folgt die Form der kausalen Erklärung überdies aus ihrem Postulat verständlicher »Deutung«. Gewiß will und soll auch sie mit Begriffen von hinlänglicher Bestimmtheit arbeiten, und erstrebt sie das nach Lage des Quellenmaterials mögliche Maximum von Eindeutigkeit der kausalen Zurechnung. Die Deutung des Historikers wendet sich aber nicht an unsere Fähigkeit, »Tatsachen« als Exemplare in allgemeine Gattungsbegriffe und Formeln einzuordnen, sondern an unsere Vertrautheit mit der täglich an uns herantretenden Aufgabe, individuelles menschliches Handeln in seinen Motiven zu »verstehen«. Die hypothetischen »Deutungen«, welche unser einfühlendes »Verstehen« uns bietet, werden von uns dann allerdings an der Hand der »Erfahrung« verifiziert. Wir sahen aber an dem Beispiel mit dem Felsabsturz, daß die Gewinnung von Notwendigkeitsurteilen als ausschließliches Ziel für jede kausale Zurechnung einer individuellen Mannigfaltigkeit des Gegebenen nur an abstrahierten Teilbeständen vollziehbar ist. So auch in der Geschichte: sie kann nur feststellen, daß ein »ursächlicher« Zusammenhang bestimmter Art bestanden hat und dies durch die Bezugnahme auf Regeln des Geschehens »verständlich« machen. Bleibt so die strikte »Notwendigkeit« des konkreten historischen Geschehens für die Geschichte nicht nur ein ideales, sondern ein in der Unendlichkeit liegendes Postulat, so ist anderseits aus der Irrationalität auch jedes partialkosmischen individuellen Geschehens natürlich keinerlei für die historische Forschung spezifischer und relevanter Begriff einer indeterministischen »Freiheit« abzuleiten. Speziell die »Willensfreiheit« ist für sie etwas durchaus Transzendentes, und als Grundlage ihrer Arbeit gedacht geradezu Sinnloses. Negativ gewendet, ist die Sachlage die, daß für sie beide Gedanken jenseits jeder durch sie zu verifizierenden »Erfahrung« liegen, und beide ihre praktische Arbeit faktisch nicht beeinflussen dürfen.


Wenn sich also in methodologischen Erörterungen nicht selten der Satz findet, daß »auch« der Mensch in seinem Handeln (objektiv) einem »immer gleichen« (also: gesetzlichen) »Kausalnexus« unterworfen »sei«194, so ist dies eine das Gebiet der wissenschaftlichen Praxis nicht berührende und nicht unbedenklich formulierte protestatio fidei zugunsten des metaphysischen Determinismus, aus welcher der Historiker keinerlei Konsequenzen für seinen praktischen Betrieb ziehen kann. Vielmehr ist aus dem gleichen Grunde die Ablehnung des metaphysischen Glaubens an den »Determinismus« – in welchem Sinne immer sie gemeint sein mag – seitens eines Historikers, etwa aus religiösen oder anderen jenseits der Erfahrung liegenden Gründen, prinzipiell und auch erfahrungsgemäß, so lange gänzlich irrelevant, als der Historiker in seiner Praxis an dem Prinzip der Deutung menschlichen Handelns aus verständlichen, prinzipiell und ausnahmslos der Nachprüfung an [Hand] der Erfahrung unterworfenen »Motiven« festhält. Aber: der Glaube, deterministische Postulate schlössen für irgendein Wissensgebiet das methodische Postulat der Aufstellung von Gattungsbegriffen und »Gesetzen« als ausschließlichen Ziels ein, ist kein größerer Irrtum195, als die ihm im umgekehrten Sinne entsprechende Annahme: irgendein metaphysischer Glaube an die »Willensfreiheit« schlösse die Anwendung von Gattungsbegriffen und »Regeln« auf menschliches Sich-Verhalten aus, oder die menschliche »Willensfreiheit« sei mit einer spezifischen »Unberechenbarkeit« oder überhaupt irgendeiner spezifischen Art von »objektiver« Irrationalität des menschlichen Handelns verknüpft. Wir sahen, daß das Gegenteil der Fall ist. – Wir haben nunmehr, nach dieser langen Abschweifung auf das Gebiet moderner Problemstellungen, zu Knies zurückzukehren und uns zunächst klarzumachen, auf welcher prinzipiellen philosophischen Basis sein »Freiheits«begriff ruht, und welche Konsequenzen dies für seine Tragweite in der Logik und Methodik der Wirtschaftswissenschaft hat. – Da zeigt sich nun alsbald, daß – und in welchem Sinne – auch Knies durchaus im Banne jener historisch gewendeten »organischen« Naturrechtslehre steht, welche, in Deutschland vorwiegend unter dem Einfluß der historischen Juristenschule, alle Gebiete der Erforschung menschlicher Kulturarbeit durchdrang. – Am zweckmäßigsten beginnen wir mit der Frage, welcher »Persönlichkeitsbegriff« denn bei Knies mit seinem »Freiheits«gedanken kombiniert ist. Es zeigt sich dabei, daß jene »Freiheit« nicht als »Ursachlosigkeit«, sondern als Ausfluß des Handelns aus der notwendig schlechthin individuellen Substanz der Persönlichkeit gedacht ist, und daß die Irrationalität des Handelns infolge dieses der Persönlichkeit zugeschriebenen Substanzcharakters alsbald wieder ins Rationale umgebogen wird.


Das Wesen der »Persönlichkeit« ist für Knies zunächst: eine »Einheit« zu sein. Diese »Einheit« aber verwandelt sich in den Händen von Knies alsbald in den Gedanken einer naturalistisch-organisch gedachten »Einheitlichkeit«, und diese wiederum wird als (»objektive«) innere »Widerspruchslosigkeit«, also im letzten Grunde rational, gedeutet196. Der Mensch ist ein organisches Wesen und teilt daher mit allen Organismen den »Grundtrieb« der »Selbsterhaltung« und »Vervollkommnung«, einen Trieb, welcher – nach Knies – als »Selbstliebe« durchaus »normal« und deshalb »sittlich« ist, insbesondere keinen Gegensatz gegen »Nächstenliebe« und »Gemeinsinn« enthält, sondern nur in seiner »Ausartung« zur »Selbstsucht« sowohl eine »Abnormität« ist als, eben deshalb, im Widerspruch mit jenen sozialen »Trieben« steht (S. 161). Beim normalen Menschen sind hingegen jene beiden Kategorien von »Trieben« nur verschiedene »Seiten« eines und desselben einheitlichen Vervollkommnungsstrebens (S. 165), und liegen mit dem von Knies gelegentlich (ebendort) als »dritter wirtschaftlicher« – soll heißen: »wirtschaftlich relevanter« – »Haupttrieb« bezeichneten »Billigkeits-und Rechtssinn« ungeschieden in der Einheit der Persönlichkeit. An die Stelle der konstruktiven Allgemeinheit bestimmter konkreter »Triebe«, insbesondere des »Eigennutzes«, in der älteren Nationalökonomie, und an Stelle des auf dieser Grundlage aufgebauten religiös bedingten ethischen Dualismus der Triebe bei Roscher, tritt bei Knies die konstruktive Einheitlichkeit des konkreten Individuums an sich, welche daher mit »fortschreitender Kulturentwickelung« die »einseitige Ausbildung« des »Eigennutzes« nicht etwa häufiger, sondern – so nach Knies' Meinung im 19., im Gegensatz gegen das 18. Jahrhundert – immer seltener werden läßt. Nach einer Erörterung der starken Entwicklung karitativer Arbeit in der Neuzeit fährt er fort: »Und wenn solche Werktätigkeit nur Spenden des Erworbenen erkennen läßt, also dem Eigennutz im Verbrauch widersagt, wäre es nicht schon an sich ein unlösbarer psychologischer Widerspruch, wenn man sich die Massen dagegen im Erwerb, auf den Bahnen der Produktion, nur von Selbstsucht und Eigennutz erfüllt denken sollte, unbekümmert um das Wohl des Nächsten und um das Gemeinwohl, solange sie Güter zu gewinnen streben?« (S. 164/5197). Und doch steht die Erfahrung aller derjenigen, welche jenen Unternehmertypus, den das heroische Zeitalter des Kapitalismus gezeitigt hat, entweder aus der Geschichte oder aus eigener Anschauung in den Nachzüglern, die er auch heute noch besitzt, kennen, dem schnurstracks entgegen, und ganze Kulturmächte, wie der Puritanismus, tragen jenes nach Knies »psychologisch« widerspruchsvolle Gepräge. Allein wie die Anm. I zitierte Berufung auf den »Begriff« der »Selbstliebe« zeigt: das Individuum darf eben kein »Mensch mit seinem Widerspruch« sein, – es ist ein »ausgeklügelt Buch«, weil es eben sonst nicht dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit genugtun würde.


Aus diesem Begriff der psychologischen »Einheitlichkeit« des Individuums folgert nun Knies für die Methodik seine wissenschaftliche Unzerlegbarkeit. Der Versuch der »Zerlegung« des Menschen in einzelne »Triebe« ist nach ihm der Grundfehler der bisherigen (klassischen) Methode198). – Man könnte glauben, Knies habe mit dieser letzteren Aeußerung jener Auffassung den Krieg erklärt, welche – Mandeville und Helvetius wie ihre Gegner – die Lehrsätze der theoretischen Nationalökonomie aus einem konstruierten Triebleben des Menschen ableiten zu müssen glaubte und deshalb, da der für sie entscheidende »Trieb«, der »Eigennutz«, nun einmal ein bestimmtes ethisches Vorzeichen trägt, Theorie und Theodizee, Darstellung und Beurteilung hoffnungslos in eine noch heute nachwirkende Verquickung miteinander brachte. In der Tat nähert sich Knies wenigstens an einer Stelle der richtigen Auffassung der Grundlagen der ökonomischen »Gesetze« in hohem Maß: »Von Anfang an«, heißt es in einem gegen Roschers Konstruktion der 'Triebe' gerichteten, freilich wenig klar formulierten Satz (2. Aufl. S. 246), »wird (scil. bei Rau und Roscher) in dem Hinweis auf die 'Aeußerungen des Eigennutzes' nicht zwischen dem 'Prinzip der Wirtschaftlichkeit' in einer – objektiviertenHaushaltungsführung und dem seelischen Trieb des Eigennutzes und der Selbstsucht in dem menschlichen Subjekte unterschieden.« Man sieht, es liegt hier die Erkenntnis ungemein nahe, daß die ökonomischen »Gesetze« Schemata rationalen Handelns sind, die nicht durch psychologische Analyse der Individuen, sondern durch idealtypische Wiedergabe des Preiskampf-Mechanismus aus der so in der Theorie hergestellten objektiven Situation deduziert werden, welche da, wo sie »rein« zum Ausdruck kommt, dem in den Markt verflochtenen Individuum nur die Wahl läßt zwischen der Alternative: »teleologische« Anpassung an den »Markt« oder ökonomischer Untergang. Indessen hat Knies aus dieser vereinzelt auftauchenden Erkenntnis keine methodologischen Konsequenzen gezogen: wie schon die früher zitierten Stellen zeigen, und wir immer wieder sehen werden, bleibt bei ihm in letzter Instanz der Glaube unerschüttert, man bedürfe, um zu begreifen, daß Fabrikanten generell ihre Rohstoffe billig zu kaufen und ihre Produkte teuer zu verkaufen beabsichtigen, eigentlich nicht viel weniger als einer Analyse des gesamten empirischen menschlichen Handelns und seiner psychologischen Triebfedern überhaupt. – Vielmehr hat die Ablehnung der »Zerlegung« des »Individuums« bei ihm einen andern Sinn: »Weil ... die Eigentümlichkeit des einzelnen Menschen wie die eines ganzen Volkes sich aus einem einheitlichen Springquell erschließt, alle Erscheinungskreise der menschlichen Tätigkeit sich auf eine Totalität zurückbeziehen und eben deshalb untereinander in Wechselwirkung stehen, so können weder die Triebfedern der wirtschaftlichen Tätigkeit, noch auch die ökonomischen Tatsachen und Erscheinungen ihren eigentlichen Charakter, ihr ganzes Wesen offenbaren, wenn sie nur isoliert ins Auge gefaßt werden« (S. 244). Der Satz zeigt zunächst, daß Knies – in diesem Punkt durchaus wie Roscher denkend – seine »organische« Theorie vom Wesen des Individuums im Prinzip auch auf das »Volk« anwendet. Was unter einem »Volk« im Sinn seiner Theorie zu verstehen ist, hält er dabei nicht nötig zu bestimmen: er hält es augenscheinlich für ein in der gemeinen Erfahrung eindeutig gegebenes Objekt199) und identifiziert es gelegentlich ausdrücklich (2. Aufl. S. 490) mit der staatlich organisierten Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft nun ist ihm nicht nur, selbstverständlich, etwas anderes als die »Summe der Individuen«, sondern dieser letztere Umstand ist ihm nur eine Folge des viel allgemeineren Prinzips, daß überall und notwendig – wie er (S. 109) es ausdrückt – »ein ähnlicher Zusammenklang« (nämlich wie zwischen den Lebensäußerungen einer »Persönlichkeit«) »auch aus den Lebensäußerungen eines ganzen Volkes heraustönt«. Denn: »Wie von einem einheitlichen Kern aus umfaßt das geschichtliche Dasein eines Volkes die verschiedenen Lebenskreise.« Daß unter dieser »Einheitlichkeit« mehr als die nur rechtliche oder die durch gemeinsame historische Schicksale, Traditionen und Kulturgüter bedingte, historisch erwachsene gegenseitige Beeinflussung aller Lebensgebiete zu verstehen ist, daß vielmehr für Knies umgekehrt die »Einheitlichkeit« das prius ist, aus welchem die Kultur des Volkes emaniert, ergibt sich nicht nur aus der oben zitierten, mehrfach wiederkehrenden Parallele zwischen der »Totalität« beim Individuum und beim Volk, sondern auch aus zahlreichen anderen Aeußerungen. Jene »Totalität« bedeutet insbesondere auch beim Volk eine einheitliche psychologische Bedingtheit aller seiner Kulturäußerungen: die »Völker« sind auch für Knies Träger einheitlicher »Triebkräfte«. Nicht die einzelnen geschichtlich werdenden und empirisch konstatierbaren Kulturerscheinungen sind Komponenten des »Gesamtcharakters«, sondern der »Gesamtcharakter« ist Realgrund der einzelnen Kulturerscheinungen: er ist nicht etwas Zusammengesetztes, sondern das Einheitliche, welches sich in allem einzelnen auswirkt, – zusammengesetzt ist – im Gegensatz zu den natürlichen Organismen – nur der »Körper« des Volksorganismus200). Die einzelnen »Seiten« der Kultur eines Volkes sind daher in keiner Weise gesondert und für sich, sondern lediglich aus dem einheitlichen Gesamtcharakter des Volkes heraus wissenschaftlich zu begreifen. Denn ihr Zusammenschluß zu einer »Einheit« ist nicht etwa bedingt durch gegenseitige »Angleichungs«- und »Anpassungs«-Prozesse, oder wie immer sonst man die durch den Allzusammenhang des Geschehens bedingten gegenseitigen Beeinflussungen alles »Einzelnen« unter sich bezeichnen will, sondern umgekehrt: der notwendig in sich einheitliche und widerspruchslose »Volkscharakter« »strebt« seinerseits stets und unvermeidlich dahin, unter allen Umständen einen Zustand der Homogenität auf und zwischen allen Gebieten des Volkslebens herzustellen201). Die Natur dieser dunklen, der vitalistischen »Lebenskraft« gleichartig gedachten Macht wird nicht zu analysieren versucht: sie ist, wie der Roschersche »Hintergrund«, eben das schlechthin letzte Agens, auf welches man bei der Analyse historischer Erscheinungen stößt. Denn wie in den Individuen das, was ihre »Persönlichkeit«, ihren »Charakter« ausmacht, den Charakter einer »Substanz« hat – dies ist ja doch der Sinn der Kniesschen Persönlichkeitstheorie –, so ist eben hier dieser Substanzcharakter ganz im Geist der Romantik auch auf die »Volksseele« übertragen, – eine metaphysische Abblassung von Roschers frommem Glauben daran, daß die »Seelen« der Einzelnen wie der Völker direkt aus Gottes Hand stammen.


Und über den »Organismen« der einzelnen Völker steht endlich der höchste organische Zusammenhang: derjenige der Menschheit. Die Menschheitsentwicklung kann aber, da sie eben ein »organischer« Zusammenhang ist, nicht ein Nach- und Miteinander von Völkern darstellen, deren Entwickelung in den historisch relevanten Beziehungen je einen Kreislauf bildete, – das wäre ja ein »unorganisches« Hinter- und Nebeneinander von Gattungswesen, – sondern sie ist als eine Gesamtentwickelung aufzufassen, in der jedes Volk seine geschichtlich ihm zugewiesene, daher individuelle, Rolle spielt. In dieser, dem Kniesschen Buch überall stillschweigend zugrunde liegenden geschichts-philosophischen Auffassung liegt der entscheidende Bruch mit Roschers Gedankenwelt. Denn aus ihr folgt, daß für die Wissenschaft die Einzelnen ebenso wie die Völker nicht in letzter Instanz als »Gattungswesen« in ihren generell gleichen Qualitäten, sondern eben als »Individuen« in ihrer – vom Standpunkt der »organischen« Auffassung aus gesprochen: – »funktionellen« Bedeutung in Betracht kommen müssen, und wir werden sehen, daß diese Auffassung in der Tat in der Kniesschen Methodologie äußerst kräftig zum Ausdruck gelangt.


Allein der metaphysische oder, logisch ausgedrückt: der emanatistische Charakter der Kniesschen Voraussetzungen: die Auffassung der »Einheit« des Individuums als einer real, sozusagen biologisch wirkenden »Kraft«, führte auf der andern Seite, sobald sie nicht gänzlich in anthropologisch verkleidete Mystik umschlagen wollte, mit Notwendigkeit doch auch jene rationalistischen Konsequenzen wieder in die Erörterung hinein, welche dem Epigonentum des Hegelschen Panlogismus als Erbe von dessen großartigen Konstruktionen anhaften blieben. Dahin gehört vor allem die der emanatistischen Logik in ihrem Dekadenz-Stadium so charakteristische Ineinanderschiebung von realem Kollektivum und Gattungsbegriff. Es ist, sagt Knies (S. 345) »festzuhalten, daß in allem menschlichen Leben und Wirken etwas. Ewiges und Gleiches ist, weil kein einzelner Mensch zur Gattung gehören könnte, wenn er nicht gerade so mit allen Individuen zum gemeinsamen Ganzen verbunden wäre, und daß dieses Ewige und Gleiche auch in den Gemeinwesen zur Erscheinung gelangt, weil diese die Eigentümlichkeit der Einzelnen doch immer zur Basis haben.« Man sieht: »allgemeiner« Zusammenhang und »allgemeiner« Begriff, reale Zugehörigkeit zur Gattung und Subsumtion unter den Gattungsbegriff gehen hier ineinander über. Wie von Knies die »Einheitlichkeit« der realen Totalität als begriffliche »Widerspruchslosigkeit« gefaßt wurde, so wird hier der reale Zusammenhang der Menschheit und ihrer Entwickelung doch wieder zu einer begrifflichen »Gleichheit« der in sie eingefügten Individuen. Dazu tritt nun ein weiteres: die Identifikation von »Kausalität« und »Gesetzlichkeit«, welche gleichfalls ein legitimes Kind der panlogistischen Entwickelungsdialektik und nur auf ihrem Boden konsequent durchführbar ist: »Wer die Volkswirtschaftslehre als eine Wissenschaft ansieht, der wird es keinem Zweifel unterwerfen, daß es sich in derselben um Gesetze der Erscheinung handelt. Die Wissenschaft unterscheidet sich eben so von dem bloßen Wissen, daß dieses in der Kenntnis von Tatsachen und Erscheinungen besteht, die Wissenschaft aber die Erkenntnis des Kausalitätszusammenhanges zwischen diesen Erscheinungen und den sie hervorbringenden Ursachen vermittelt und die Feststellung der auf dem Gebiete ihrer Untersuchungen hervortretenden Gesetze der Erscheinung erstrebt« – sagt Knies (S. 235). Schon nach allem, was wir im Eingang dieses Abschnittes über die »Freiheit« des Handelns, den Zusammenhang zwischen »Persönlichkeit« und Irrationalität bei Knies hörten, muß diese Bemerkung auf das äußerste erstaunen, – und wir werden alsbald bei Betrachtung seiner Geschichtstheorie sehen, daß mit jener Irrationalität strenger Ernst gemacht wird. Zur Erklärung dient eben der Umstand, daß hier unter »Gesetzlichkeit« nur das durchgängige Beherrschtsein der realen Entwickelung der Menschheitsgeschichte durch jene einheitliche, hinter ihr stehende »Triebkraft« zu verstehen ist, aus welcher alles einzelne als ihre Aeußerungsform emaniert. Der Bruch in der erkenntnistheoretischen Grundlage ist bei Knies wie bei Roscher durch jene verkümmerten und nach der anthropologisch-biologischen Seite abgebogenen Reste der großen Hegelschen Gedanken zu erklären, welche für die Geschichts-, Sprach- und Kulturphilosophie verschiedener noch in den mittleren Jahrzehnten des abgelaufenen Jahrhunderts einflußreicher Richtungen so charakteristisch war. Bei Knies ist zwar der Begriff des »Individuums«, wie nach der vorstehenden Darstellung sich vermuten läßt und wie sich bald näher zeigen wird, wieder zu seinem Rechte gelangt an Stelle des Naturalismus der Roscherschen Kreislauftheorie. Aber die in ihren Grundlagen emanatistischen Vorstellungen über seinen realen substantiellen Charakter sind mit daran schuld, daß die Kniessche Theorie den Versuch, das Verhältnis zwischen Begriff und Realität zu ermitteln, gar nicht unternahm und daher, wie wir ebenfalls sehen werden, nur wesentlich negative und geradezu destruktive Resultate zeitigen konnte202.


Fußnoten


1 Freilich werden wir es dabei nur mit elementaren Formen dieser Probleme zu tun haben. Dieser Umstand allein erlaubt es mir, dem die fachmäßige Beherrschung der gewaltig anschwellenden logischen Literatur naturgemäß nicht zu Gebote steht, mich mit ihnen hier zu beschäftigen. Ignorieren darf auch der Fachmann der Einzelwissenschaften jene Probleme nicht, und vor allem: so elementar sie sind, so wenig ist, wie sich auch im Rahmen dieser Studie zeigen wird, auch nur ihre Existenz allseitig erkannt.


2 Sachlich erhebliche Aenderungen finden sich übrigens in den für uns wesentlichen Hauptpunkten bis in die spätesten Bände und Auflagen des großen Roscherschen Werkes kaum. Es ist eine gewisse Erstarrung eingetreten. Autoren wie Comte und Spencer hat er zwar noch kennengelernt, ihre Grundgedanken in ihrer Tragweite aber nicht erkannt und nicht verarbeitet. Ueber Erwarten dürftig für unsere Zwecke erweist sich insbesondere seine »Geschichte der Nationalökonomik« (1874), da für R. durchweg das Interesse daran, was der behandelte Schriftsteller praktisch gewollt hat, im Vordergrunde steht.


3 Die nachfolgende Analyse bietet, ihrem Zweck entsprechend, selbstverständlich das Gegenteil eines Gesamt bildes von der Bedeutung Roschers. Für deren Würdigung ist auf den Aufsatz Schmollers (zuletzt gedruckt in: Zur Literaturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften) und auf die Gedächtnisrede Büchers (abgedruckt Preuß. Jahrbücher, Band 77, 1894, S. 104 ff.) zu verweisen. Daß beide in diesen bei Roschers Lebzeiten bzw. gleich nach seinem Tode erschienenen Aufsätzen einen für Roschers wissenschaftliche Persönlichkeit wichtigen Punkt: seine religiöse Grundanschauung, beiseite ließen, war bei der subjektivistischen Empfindungsweise unserer Generation in diesen Dingen durchaus natürlich. Eine genauere Analyse von Roschers Methode würde – wie wir sehen werden – diesen Faktor nicht vernachlässigen dürfen, und Roscher selbst war – wie die posthume Publikation seiner »Geistlichen Gedanken« zeigt – auch insofern durchaus »unmodern«, als er gar nicht daran dachte, bei dem öffentlichen Bekenntnis zu seinem streng traditionellen Glauben irgendeine Verlegenheit zu empfinden. Daß in der nachfolgenden Analyse Roschers mannigfache Wiederholungen und eine oft scheinbar unnötige Ausführlichkeit sich finden, hat seinen Grund in dem unabgeschlossenen und vielfach in sich wiederspruchsvollen Charakter seiner Ansichten, deren einzelne Verzweigungen immer wieder an den gleichen logischen Gedanken gemessern werden müssen. Für logische Untersuchungen gibt es schlechthin nichts »Selbstverständliches«. Wir analysieren hier in eingehender Weise längst überwundene Anschauungen Roschers auf ihren logischen Charakter hin, über deren sachlichen Gehalt heute in unserer Wissenschaft wohl niemand mehr ein Wort verlieren würde. Irrtümlich aber wäre es, aus diesem Grunde anzunehmen, die logischen Schwächen, die darin stecken, wären uns heute im allgemeinen klarer, als sie es ihm waren.


4 Dieser im weiteren Verlauf unserer Erörterung noch oft zu berührende Gegensatz ist in einem gewissen Maße, obgleich mit teilweise unzutreffenden Folgerungen, schon von Menger – wie noch zu erwähnen sein wird – in seiner Tragweite für die Methodenlehre der Nationalökonomie erkannt worden.


Die exakte logische Formulierung ist, nach den Ansätzen, die sich bei Dilthey (Einleitung in die Geisteswissenschaften) und Simmel (Probleme der Geschichtsphilosophie) fanden, in wichtigen Punkten zuerst in Windelbands Rektoratsrede 1894 (Geschichte und Naturwissenschaft) kurz skizziert, dann aber in dem grundlegenden Werk von H. Rickert (Die Grenzen der naturwissensch. Begriffsbildung) umfassend entwickelt worden. Auf ganz anderen Wegen nähert sich, beeinflußt von Wundt, Dilthey, Münsterberg und Mach, gelegentlich auch von Rickert (Band I), im wesentlichen aber durchaus selbständig, den Problemen der Begriffsbildung in der Nationalökonomie die Arbeit von Gottl (»Die Herrschaft des Wortes«, 1901), welche jetzt freilich, soweit sie Methodenlehre treibt, in manchen – jedoch keineswegs in den ihr wesentlichsten – Punkten durch die inzwischen erschienene zweite Hälfte des Rickertschen Werkes überholt ist. Rickert ist die Arbeit offenbar unbekannt geblieben, ebenso Eduard Meyer, dessen Ausführungen (»Zur Theorie und Methodik der Geschichte«, 1902) sich mit denjenigen Gottls vielfach berühren. Der Grund liegt wohl in der fast bis zur Unverständlichkeit sublimierten Sprache Gottls, der – eine Konsequenz seines psychologistischen erkenntnistheoretischen Standpunkts – die hergebrachte begrifflich gebundene und dadurch für ihn »denaturierte« Terminologie geradezu ängstlich meidet und gewissermaßen in Ideogrammen den Inhalt des unmittelbaren »Erlebens« zu reproduzieren strebt. So sehr manche Ausführungen, darunter auch prinzipielle Thesen der Arbeit, Widerspruch erregen müssen, und so wenig ein wirklicher Abschluß erreicht wird, so sehr ist die in ihrer Eigenart feine und geistvolle Beleuchtung des Problems zu beachten, auf welche auch hier mehrfach zurückzukommen sein wird.


5 Wohlgemerkt: nicht ihr ausschließlich oder auch nur überwiegend verwendetes Mittel, sondern dasjenige, welches sie von den exakten Naturwissenschaften unterscheidet.


6 Begriffen, welche die konkrete historische Erscheinung einem konkreten und individuellen, aber möglichst universellen Zusammenhang einordnen.


7 Indem mit fortschreitender Erkenntnis der Zusammenhang, dem die Erscheinungen eingeordnet werden, in stets zunehmendem Maße in seinen charakteristischen Zügen erkannt wird.


8 Indem mit zunehmender Erkenntnis des Charakteristischen der Erscheinung ihr individueller Charakter notwendig zunimmt.


9 Wie Anmerkung 1.


10 In dem – für den gewöhnlichen Sprachgebrauch ungewöhnlichen – Sinn des Wortes, welcher den Gegensatz gegen naturalistische Relationsbegriffe bezeichnet und z.B. das »Charakter«-Bild einer konkreten »Persönlichkeit« einschließt. – Der Terminus »Begriff«, heute so umstritten wie je, ist hier wie weiterhin für jedes durch logische Bearbeitung einer anschaulichen Mannigfaltigkeit zum Zweck der Erkenntnis des Wesentlichen entstehende, wenn auch noch so individuelle Gedankengebilde gebraucht. Der historische »Begriff« Bismarck z.B. enthält von der anschaulich gegebenen Persönlichkeit, die diesen Namen trug, die für unsere Erkenntnis wesentlichen Züge, hineingestellt als einerseits bewirkt, andererseits wirkend in den gesellschaftlich-historischen Zusammenhang. Ob auf die prinzipielle Frage, welches jene Züge sind, die Methodik eine Antwort bereit halten kann, ob es also ein allgemeines methodisches Prinzip gibt, nach welchem sie aus der Fülle der wissenschaftlich gleichgültigen herausgelesen werden, bleibt vorerst dahingestellt. (S. dagegen z.B. Ed. Meyer a.a.O.)


11 Ich glaube, vorstehend mich ziemlich sinngetreu an die wesentlichen Gesichtspunkte der früher zitierten Arbeit Rickerts angeschlossen zu haben, soweit sie für uns von Belang sind. Es ist einer der Zwecke dieser Studie, die Brauchbarkeit der Gedanken dieses Autors für die Methodenlehre unserer Disziplin zu erproben. Ich zitiere ihn daher nicht bei jeder einzelnen Gelegenheit erneut, wo dies an sich zu geschehen hätte.


12 Die praktische Wirkung einer derartigen Identifikation, wenn mit ihr einmal Ernst gemacht wird, auf die Art der historischen Darstellung kann man sich wohl am leichtesten an Lamprechts Deutscher Geschichte, I. Ergänzungsband, verdeutlichen, wo gewisse Eintagsfliegen der deutschen Literatur als »entwickelungsgeschichtlich wichtig« bezeichnet werden, weil ohne ihre – aus diesem Grunde theoretisch wertvolle – Existenz der angeblich gesetzlich gleichmäßige Ablauf der verschiedenen »Impressionismen« usw. in der Sozialpsyche nicht so konstruiert werden könnte, wie es der Theorie entspricht, und wo andererseits Persönlichkeiten, die wie Klinger, Böcklin u.a. der Theorie lästig sind, gewissermaßen als Mörtel in die Fugen zwischen die Konstruktionsteile geschoben werden: sie sind dem Gattungsbegriff »Uebergangsidealisten« eingeordnet, – und wo auch die Bedeutung von R. Wagners Lebenswerk »steht und fällt«: nicht etwa mit dem, was es uns bedeutet, sondern mit der Frage, ob es in einer bestimmten theoretisch postulierten »Entwicklungs«-Linie liegt.


13 Jene oben erwähnte Bemerkung dagegen hat Roscher wenigstens in die prinzipiellen Erörterungen seines »Systems« nicht aufgenommen, woraus allein schon hervorgeht, daß es sich dabei und bei gelegentlichen ähnlichen Aeußerungen nicht um Aufstellung eines klaren methodischen Prinzips handelte.


14 Ganz in Uebereinstimmung mit Rau fordert er, daß »unsere Lehren, Naturgesetze usw. immer so gehalten sein müssen, daß sie von den neueintretenden Veränderungen der Kameraldisziplin nicht gesprengt werden«. (S. Rau in seinem Archiv 1835, S. 37. Roscher daselbst 1845, S. 158).


15 Die gleiche Anschauung – wennschon mit einigen Vorbehalten bezüglich der psychologischen Motivation – z.B. bei Schmoller in der Rezension des Kniesschen Werkes (in seinem Jahrbuch 1883, abgedruckt in »Zur Literatur der Staats- und Sozialwissenschaften«, S. 203 ff., vgl. insbes. S. 209) und bei Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft, Vorrede zur ersten Auflage: »Sämtliche Vorträge beherrscht eine einheitliche Auffassung vom gesetzmäßigen Verlaufe der wirtschaftsgeschichtlichen Entwickelung«. Da die Anwendung des Terminus »Gesetz« auf eine einmalige Entwickelung auffällig wäre, so kann nur entweder gemeint sein: daß der gesetzlich bestimmte Ablauf der Entwickelung sich – wie Roscher dies annimmt – überall da in den wissenschaftlich wesentlichen, von B. behandelten Punkten wiederhole, wo eine Entwickelung überhaupt stattfinde, – oder (wahrscheinlicher) es ist, wie so oft, »gesetzliche« und »kausale« Bedingtheit identifiziert, weil wir von »Kausalgesetz« zu sprechen pflegen.


16 Keineswegs überall und bei allen Vertretern der historischen Juristenschule, wohl aber bei ihren Nachfolgern auf dem Gebiete der Nationalökonomie.


17 Siehe die Ausführungen über das Verhältnis von Volkscharakter und geographischen Verhältnissen § 37 des Systems, welche in fast naiver Art die Stellung des »Volksgeistes« als eines primären »Urelements« gegen die Möglichkeit »materialistischer« Deutung zu halten suchen.


18 Dabei haben zweifellos die Gedankengänge der Herbartschen Psychologie über das Verhältnis zwischen Individuum und Gesamtheit mitgewirkt; wieweit im einzelnen, ist schwer zu sagen und hier nicht interessant. Roscher zitiert Herbart gelegentlich (§§ 16, 22). Die Lazarus-Steinthalsche »Völkerpsychologie« ist dagegen bekanntlich jüngeren Datums.


19 § 14 des Systems, Band I.


20 S. die Ausführungen über den Begriff »Dänemark« auf S. 19 seines »Thukydides«.


21 Roscher zitiert, wie schon gesagt, speziell Adam Müller als denjenigen, der sich um die Auffassung von Staat und Volkswirtschaft als neben und »über den einzelnen und selbst Generationen« stehendem Ganzen verdient gemacht hat (System, Bd. I § 12, Anm. 2 [2. Aufl. S. 20]). S. aber andererseits die Vorbehalte System, Bd. I § 28, Anm. 1.


22 So schon im »Thukydides« S. 21 trotz aller Vorbehalte auf S. XI und XII in der Vorrede und S. 20 und 188.


23 Auch Knies war, wie wir sehen werden, der Ansicht, daß das, was man unter einem »Volk« verstehe, unmittelbar anschaulich-evident sei und der begrifflichen Analyse nicht bedürfe.


24 Die erstere Einteilung der Wissenschaften wird bekanntlich von Dilthey, die letztere von Windelband und Rickert in den Dienst der Aufhellung der logischen Eigenart der Geschichte gestellt. Daß die Art, wie uns psychische Objekte »gegeben« sind, keinen spezifischen, für die Art der Begriffsbildung wesentlichen Unterschied gegenüber den Naturwissenschaften begründen könne, ist eine Grundthese Rickerts; – daß der Gegensatz der inneren »Erlebungen« zu den »äußeren« Erscheinungen kein bloß »logischer«, sondern ein »ontologischer« sei, ist (nach Dilthey) der Ausgangspunkt Gottls a.a.O. Der in dieser Studie weiterhin zugrunde gelegte Standpunkt nähert sich dem Rickertschen insofern, als dieser meines Erachtens ganz mit Recht davon ausgeht, daß die »psychischen« bzw. »geistigen« Tatbestände – wie immer man diese vieldeutigen Termini abgrenzen möge – prinzipiell der Erfassung in Gattungsbegriffen und Gesetzen durchaus ebenso zugänglich sind wie die »tote« Natur. Denn der geringe erreichbare Grad der Strenge und der Mangel der Quantifizierbarkeit ist nichts den auf »psychische« oder »geistige« Objekte bezüglichen Begriffen und Gesetzen Spezifisches. Die Frage ist vielmehr nur, ob die eventuell aufzufindenden generell geltenden Formeln für das Verständnis derjenigen Bestandteile der Kulturwirklichkeit, auf die es uns ankommt, irgendwelchen erheblichen Erkenntniswert haben. – Weiter ist daran festzuhalten, daß der »urwüchsige Allzusammenhang«, wie er in der inneren Erfahrung erlebt wird und (nach Gottls Ansicht) die Anwendung der naturalistischen Kausalbetrachtung und des naturalistischen Abstraktionsverfahrens ausschließt – in Wahrheit nur: für die Erkenntnis des uns Wesentlichen häufig unfruchtbar macht –, sich auch auf dem Boden der toten Natur (nicht nur bei biologischen Objekten, denen Gottl eine Ausnahmestellung einräumt) dann sofort einstellen würde, wenn wir einen Naturvorgang in voller konkreter Realität zu erfassen suchen würden. Daß wir dies in den exakten Naturwissenschaften nicht tun, folgt nicht aus der sachlichen Natur des ihnen Gegebenen, sondern aus der logischen Eigenart ihres Erkenntnisziels.


Andererseits bleibt auch bei grundsätzlicher Annahme des Rickertschen Standpunktes zweifellos und von Rickert selbst natürlich nicht bestritten, daß der methodische Gegensatz, auf den er seine Betrachtungen zuspitzt, nicht der einzige und für manche Wissenschaften nicht einmal der wesentliche ist. Mag man insbesondere seine These, daß die Objekte der »äußeren« und »inneren« Erfahrung uns grundsätzlich in gleicher Art »gegeben« seien, annehmen, so bleibt doch, gegenüber der von Rickert stark betonten »prinzipiellen Unzugänglichkeit fremden Seelenlebens«, bestehen, daß der Ablauf menschlichen Handelns und menschlicher Aeußerungen jeder Art einer sinnvollen Deutung zugänglich ist, welche für andere Objekte nur auf dem Boden der Metaphysik ein Analogon finden würde, und durch welche u.a. jene eigentümliche, oft – auch von Roscher – hervorgehobene Verwandtschaft des logischen Charakters gewisser ökonomischer Erkenntnisse mit der Mathematik begründet wird, die ihre gewichtigen, wennschon oft (z.B. von Gottl) überschätzten Konsequenzen hat. Die Möglichkeit dieses Schrittes über das »Gegebene« hinaus, den jene Deutung darstellt, ist dasjenige Spezifikum, welches trotz Rickerts Bedenken es rechtfertigt, diejenigen Wissenschaften, die solche Deutungen methodisch verwenden, als eine Sondergruppe (Geisteswissenschaften) zusammenzufassen. In den Irrtum, für sie eine der Rolle der Mathematik entsprechende Grundlage in einer erst noch zu schaffenden systematischen Wissenschaft der Sozialpsychologie für nötig zu halten, braucht man, wie später zu erörtern sein wird, deshalb noch nicht zu verfallen.


25 Das wäre nicht nur faktisch, sondern nach dem logischen Wesen »gesetzlicher« Erkenntnis prinzipiell unmöglich, da die Bildung von »Gesetzen« – Relationsbegriffen von genereller Geltung – mit Entleerung des Begriffsinhalts durch Abstraktion identisch ist. Das Postulat der »Deduktion« des Inhalts der Wirklichkeit aus Allgemeinbegriffen wäre, wie später noch an einem Beispiel zu erörtern sein wird, selbst als in der Unendlichkeit liegendes Ideal gedacht sinnlos. Hier hat meines Erachtens auch Schmoller in seiner Entgegnung gegen Menger (Jahrbuch 1883, S. 979) in dem Satze: »Alle vollendete Wissenschaft ist deduktiv, weil, sobald man die Elemente vollständig beherrscht, auch das komplizierteste nur Kombination der Elemente sein kann«, Konzessionen gemacht, die nicht einmal auf dem eigensten Anwendungsgebiete der exakten Gesetzesbegriffe gelten. Wir kommen darauf später zurück.


26 Wenn wir diesen Ausdruck hier vorerst ohne nähere Deutung akzeptieren.


27 Ueber die so einfachen und doch so oft verkannten Unterschiede der Bedeutungen von »allgemein« voneinander, mit denen wir immer wieder zu tun haben, ist grundlegend der Aufsatz von Rickert, Les quatre modes de l'universel en histoire, in der Revue de synthèse historique 1901.


28 Vgl. darüber und überhaupt über diese Probleme die vorzügliche Arbeit eines sehr begabten Schülers von Rickert: E. Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte, S. 39 ff., 51 f., 64.


29 Wir lassen hier die für die Nationalökonomie zentralen logischen Probleme, zu welchen die besondere Art von anschaulicher Evidenz führt, der die Deutung menschlicher Motivation zugänglich ist, und mit denen neuestens Gottl a.a.O. sich befaßt, zunächst noch absichtlich beiseite. Wir können dies, da Roscher diesen Gesichtspunkt in keiner Weise verwertet hat. Nach ihm nähern wir uns der Erkenntnis der Zusammenhänge menschlichen Handelns diskursiv und von außen her, ganz ebenso wie der Erkenntnis des Naturzusammenhangs. Ueber die »Selbstbeobachtung« als Erkenntnisquelle vgl. die kurze Bemerkung: Gesch. d. Nationalökonomik, S. 1036. Daselbst die oft zitierte Stelle über die relativ geringe Tragweite des Unterschiedes von »Induktion« und »Deduktion«, welch letztere mit der Selbstbeobachtung identifiziert wird, ohne daß Roscher den sich daraus ergebenden logischen Problemen hier oder sonst weiter nachginge.


30 Roschers ausführliche Stellungnahme zu Hegel in der Geschichte der Nationalökonomik (S. 925 ff.) ist für uns belanglos, da er fast nur die Beurteilung konkreter praktischer Fragen durch Hegel kritisiert. Bemerkenswert ist nur der Respekt, mit welchem er die »dreistufige Entwickelung vom abstrakt Allgemeinen durch das Besondere zum konkret Allgemeinen« behandelt, welche »eines der tiefsten historischen Entwickelungsgesetze berühre«, – ohne nähere Erläuterung.


31 Auch B. G. Niebuhr, dem er in der Gesch. d. Nationalökonomik (S. 916 f.) ein schönes Denkmal setzt, rechnet er selbst dazu.


32 Thukydides S. 19. Er nennt Hegel, den er weiterhin gelegentlich zitiert (S. 24, 31, 34, 69), an dieser Stelle nicht.


33 Thuk. S. 28.


34 Das. S. 24 f., bes. S. 27.


35 Das. S. 29.


36 Das. S. 22. Der Unterschied zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Wahrheit findet sich S. 27 und S. 35 entwickelt.


37 Das. S. 35.


38 Vorrede S. XII.


39 Eine eingehendere Auseinandersetzung mit derjenigen Form der Hegelschen Dialektik, welche das »Kapital« von Marx repräsentiert, hat Roscher nie unternommen. Seine Ausführungen gegen Marx in der Gesch. d. Nationalökonomik, S. 1221 und 1222 (eine Seite!) sind von erschreckender Dürftigkeit und zeigen, daß ihm damals (1874) jede Reminiszenz an die Bedeutung Hegels abhanden gekommen war.


40 So Thuk. S. 10.


41 Thuk. S. 35.


42 Thuk. S. 58.


43 Thuk. S. 188.


44 Selbst für die künstlerische Produktion ist ihm das allein interessierende »Hauptsächlichste« (das was der Künstler von der Erscheinung erfassen will und soll) dasjenige, welches »zu allen Zeiten, unter allen Völkern und in allen Herzen wiederkehrt« (Thukydides S. 21 mit Exemplifikation auf Hermann und Dorothea und die Reden im Thukydides).


45 § 22 des Systems, Band I.


46 Vgl. dazu unter anderen die Ausführungen von Rickert, Grenzen S. 245 f.


47 »Jedes historische Urteil beruht auf unzähligen Analogien«, meint er Thukydides S. 20, – ein Satz, der in dieser Form jenem Irrtum verwandt ist, der das Studium einer – erst zu schaffenden! – Psychologie als Voraussetzung exakter historischer Forschung ansieht und bei den sehr energischen Worten gegen den Mißbrauch von historischen Analogien S. XI der Vorrede besonders auffällt.


48 Vgl. Thukydides S. 195.


49 § 13 Note 4 des »Systems«, Band I.


50 Roschers Stellung zum Wunder ist reserviert und vermittelnd (vgl. Geistliche Gedanken S. 10, 15 u. öfter). Wie Ranke, so hat auch er das konkrete Geschehen lediglich aus natürlichen Motiven zu erklären gesucht. Wo Gott in die Geschichte hineinragen würde, hätte auch für ihn unser Erkennen ein Ende.


51 Im ganzen verläßt also Roscher nicht den Boden der von ihm allerdings nicht korrekt gehandhabten und ihm wohl auch nicht gründlich bekannten Kantischen analytischen Logik. Er zitiert von Kant wesentlich nur: Die Anthropologie (§ 11 Anm. 6 des Systems, Bd. I) und die metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre und der Tugendlehre. Der Abschnitt über Kant in der Geschichte der Nationalökonomik (S. 635 f.), der ihn lediglich als Vertreter des »Subjektivismus« recht oberflächlich erledigt, zeigt die tiefe Antipathie Roschers – des Historikers sowohl wie des religiösen Menschen – gegen alle nur formale Wahrheit.


52 Roscher zitiert Humboldts auch neuerdings viel erörterte Studie (in den Abhandlungen der Berliner Akademie von 1820): Thukydides, S. 44, ebenda und oft die Gervinussche Historik. (Ueber das allmähliche Verschwinden des metaphysischen Charakters der »Idee« bei Gervinus vgl. u.a. die Jenenser Dissertation von Dippe 1892.)


53 Siehe die Bekämpfung des Droysenschen Standpunktes zur »Unparteilichkeits«-Frage, Thukydides S. 230/1, aus der wohl sein Lehrer Ranke mitspricht. – Auch der formale Charakter der gleich zu besprechenden Roscherschen Geschichtsepochen erklärt sich zum Teil wohl mit aus seinem »Objektivitäts«-Streben. Er fand keine andere (nach seiner Meinung) unanfechtbare Basis als die einfache Tatsache des »Alt«-Werdens der Völker. –


54 Roscher war aus diesem Grunde bekanntlich der Ansicht, daß das Studium der Kulturentwicklung der Völker des klassischen Altertums, deren Lebenslauf ja abgeschlossen vor uns liegt, uns in besonders weitgehendem Maße Aufschluß über den Gang unserer eigenen Entwickelung zu geben vermöge. – Ein gewisses Maß von Beeinflussung durch derartige Gedankengänge Roschers verraten noch einige frühere Aeußerungen Eduard Meyers, der dagegen jetzt, wohl namentlich unter dem Eindruck der Wege, auf die Lamprecht geraten ist, sich im wesentlichen auf den schon von Knies, wie wir sehen werden, vertretenen Standpunkt stellt.


55 In einem u. S. 29 noch zu zitierenden Aufsatz in Schmoll. Jahrb., 1897.


56 Wenn moderne Historiker (v. Below, Histor. Zeitschr. 81 [1898] S. 245) von den »lähmenden Gedanken der gesetzlichen Entwickelung« sprechen und der Geschichte die Aufgabe zuweisen, uns von dem »niederdrückenden und abstumpfenden Gefühle, das die von der Naturforschung vorgetragene Lehre unserer Abhängigkeit von allgemeinen Gesetzen bei uns hervorbringen will«, zu befreien, – so lag ein solches Bedürfnis für Roscher nicht vor. Die Entwickelung der Menschheit gilt ihm als zeitlich endlich im Sinn der religiösen Vorstellung vom jüngsten Tage, und daß den Völkern von Gott ihr Lebensweg in bestimmten Bahnen und Altersstufen vorgezeichnet ist, kann die Arbeitspflicht und Arbeitsfreudigkeit des Staatsmanns ebensowenig beeinträchtigen, wie das Bewußtsein, altern und sterben zu müssen, den Einzelnen lähmt.


Uebrigens spricht die Erfahrung gegen die Bemerkung v. Belows, der – sonst ein scharfer und überaus erfolgreicher Kritiker aprioristischer Konstruktionen – hier wohl einmal seinerseits zu »konstruktiv« verfährt. Die radikalsten Neuerer standen unter dem Eindruck und Einfluß der Kalvinistischen Prädestinationslehre, des »l'homme machine« und des marxistischen Katastrophenglaubens. Wir kommen auf diesen Punkt noch mehrfach zurück.


57 »Naturwissenschaftlich« soll hier wie im folgenden stets im Sinn von »gesetzeswissenschaftlich« verstanden sein, also die exakte Methode der Naturwissenschaften bezeichnen.


58 Siehe die charakteristische Stelle § 37 des »Systems«, Band I und die weiterhin zitierten Stellen im Thukydides.


59 Thuk. S. 58, 59, 62, 63.


60 Thuk. S. 43.


61 So der Schluß des ganzen Werkes (S. 502): »So haben von jeher die Lieblingspläne sinkender Zeiten, statt der Freiheit und Glückseligkeit, die sie verhießen, nur gesteigerte Knechtschaft und Drangsal zur Folge gehabt.«


62 In der Gegenwart arbeitet unter den Historikern vornehmlich Lamprecht mit derartigen biologischen Analogien und Begriffen. Auch hier wird die Nation als eine »sozialpsychische« Einheit hypostasiert, welche an sich eine Entwickelung von – wie Lamprecht (Jahrb. f. Nationalökonomie 69, 119) ausdrücklich sagt – »biologischem Charakter«, das soll heißen eine in »typischen«, »regulären« Entwickelungsstufen, nach bestimmten Gesetzen verlaufende Entwickelung, erlebt. Diese Entwickelung stellt sich dar als »beständiges Wachstum der psychischen Energie« der Nation (Deutsche Zeitschrift f. Geschichtswiss. N. F. I, 109 f.): Aufgabe der Wissenschaft ist es, an Völkern mit »abgeschlossener Entwickelung« – wiederum eine Roschersche Vorstellung – diese bei jedem »normal entwickelten« Volke wiederkehrenden typischen Kulturepochen in ihrem notwendigen Hervorgehen auseinander zu beobachten und »kausal (?) zu erklären«. Lamprechts »Diapasons« (!) sind in den im Text wiedergegebenen Ausführungen im 4. Kapitel des Thukydides ganz ebenso vorweggenommen wie dessen stark dilettantische kunsthistorische Konstruktionen, und wenn man von dem »Animismus« und »Symbolismus« auf der einen, dem »Subjektivismus« auf der anderen Seite absieht, selbst die Kategorien, nach denen die Epochen geschieden werden. Das logische Mittel, welches L. anwendet: Hypostasierung der »Nation« als eines kollektiven Trägers derjenigen psychischen Vorgänge, welche nach ihm die »Sozialpsychologie« erörtern soll, ist das gleiche wie bei allen »organischen« Theorien. Auch die Bezugnahme auf das »Gesetz der großen Zahl« zur Erhärtung der »Gesetzlichkeit« in der Bewegung der sozialen Gesamterscheinungen trotz der empirischen »Freiheit« des »Einzelnen« kehrt bei ihm, wenn schon verhüllt, wieder.


Der Unterschied zwischen Roscher und ihm beruht nur auf der nüchternen Gewissenhaftigkeit Roschers, der nie an die Möglichkeit geglaubt hat, das Wesen des einheitlichen Kosmos in einem oder einigen abstrakten Begriffen auch formulieren zu können, und der in seiner Praxis sein Schema zwar innerhalb gewisser Grenzen zur Stoffgliederung und Veranschaulichung benutzte, nie aber dessen Erhärtung zum Ziel seiner wissenschaftlichen Arbeit gemacht und diese dadurch ihrer Unbefangenheit beraubt hätte. Siehe die oben S. 17 wiedergegebenen Ausführungen in Roschers »Thukydides«.


63 Enthalten in Roschers »Ansichten der Volksw. vom gesch. Standpunkt«, Bd. I, in dem Aufsatz über das Verhältnis der Nationalökonomie zum klassichen Altertum. Der Aufsatz ist, wie gesagt, 1849 entstanden.


64 S. die höchst charakteristischen Bemerkungen am Schluß des § 264 und in den Noten dazu. Der logische Charakter der stark religiös gefärbten Argumentation ist ersichtlich emanatistisch, aber wie vorsichtig weicht Roscher in der Formulierung der direkten Berufung auf Gottes Ordnung aus!


65 R. begnügt sich daher auch bei der Schilderung des »Sterbens« der Völker mit ziemlich vagen Bemerkungen (§ 264), wobei die »unvermeidliche Abnutzung aller Ideale« und die »Erschlaffung im Genuß« eine Rolle spielen. In der Geschichte der Nationalökonomik (S. 922) wird in Anlehnung an Aeußerungen Niebuhrs das Schwinden des Mittelstandes auf bestimmten Kulturstufen als »Hauptform des Alterns hochkultivierter Völker« hingestellt. Mit dem modernen geschichtsphilosophischen Kulturpessimismus, wie er wissenschaftlich u.a. von Vierkandt vertreten wird, hat R.s Standpunkt infolge seines religiös bedingten Optimismus innerlich nichts Verwandtes. – Seine Ansicht von der »Notwendigkeit« des »Verfalles« für jeden »Organismus« und deshalb auch das »Volksleben« hielt Roscher auch in den späteren Auflagen (Anm. 7 zu § 16) ausdrücklich als einen Punkt, in dem er von Schmoller abweichen müsse, aufrecht. – Roscher geht soweit, es (Thukydides S. 469) unter Berufung auf Aristoteles Politik V, 7, 16 als eins der »tiefsten Entwickelungsgesetze« zu bezeichnen, daß dieselben »Kräfte«, welche ein Volk auf den Gipfel seiner Kulturentwickelung heben, im weiteren Fortwirken es davon auch wieder herabstürzen, und gelangt so in seinem »System« (§ 264 Anm. 7) zu dem Satz: »Große Herrscher, denen man nachrühmt, daß sie durch ihre Konsequenz die Welt erobert, würden mit derselben Konsequenz, fünfzig Jahre länger fortgesetzt, ganz gewiß (!) die Welt wieder verloren haben.« Es handelt sich hier um halb platonische, halb Hegelsche Formen der Konstruktion, aber in religiöser Wendung: die »Idee« des Endlichen, welche die Notwendigkeit jenes Ablaufs enthält, ist Gottes feste Ordnung.


66 Möglich wäre es bezüglich des »Sterbens« der Völker nur bei Identifikation des Begriffs »Volk« mit der gattungsmäßig erfaßten politischen Organisation der Staaten, also bei rationalistischer Entleerung des Begriffes »Volk«. Aus dem »Altern« würde dabei vollends lediglich die inhaltsleere Vorstellung des Ablaufs eines erheblichen Zeitraums.


67 Roscher hat freilich diesen prinzipiellen logischen Gegensatz gar nicht bemerkt. Er identifiziert § 22 Anm. 3 in charakteristischer Weise begriffliche Abstraktion und Zerlegung eines Zusammenhangs in seine Komponenten. Die Trennung der Muskeln und Knochen durch den Anatomen ist ihm eine Analogie der Abstraktion.


68 Wir erinnern uns hier an das, was er im »Thukydides« über das Prinzip der Kausalität gesagt hatte: das »Wichtigere« muß als Realgrund angesehen werden, aus dem die Einzelerscheinungen emanieren. Siehe oben S. 18.


69 Siehe oben S. 19 f.


70 Bücher (a.a.O.) bedauert, daß Roscher sein Periodisierungsprinzip nicht »dem Begriffsinhalt der eigenen Wissenschaft entnommen« habe. Es stand eben für Roscher (und ebenso für Knies, wie unten zu zeigen sein wird) keineswegs fest und versteht sich ja auch an sich durchaus nicht von selbst, daß dies überhaupt möglich bzw. in welchem Maße es methodisch fruchtbar ist.


71 Zusammengefaßt als »Politik. Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie«.


72 S. die zutreffenden Bemerkungen von Hintze über »Roschers politische Entwicklungstheorie« in Schmollers Jahrbuch, 21. Jg. (1897), S. 767 ff.


73 Inwieweit diese Ansicht methodisch zutrifft, fragen wir an dieser Stelle nicht.


74 § 11: »Selbst der bloß rechnende Verstand muß erkennen, daß unzählige Anstalten ... für jeden Einzelnen ... notwendig sind, ohne Gemeinsinn aber ganz unmöglich bleiben, weil kein Einzelner die dazu erforderlichen Opfer übernehmen könnte.« – Ganz ähnlich: Gesch. d. Nationalökonomik, S. 1034, wo die für die Pseudo-Ethik, welcher der Historismus zu verfallen droht, recht charakteristische Bemerkung eingeflossen ist: »Der verständige Eigennutz trifft in seinen Forderungen immer näher mit denen des Gewissens zusammen, je größer der Kreis ist, um dessen Nutzen es sich handelt, und je weiter dabei in die Zukunft geblickt wird.«


75 Roscher zitiert hierzu (§ 11 Note 6) die Ausführungen Kants in dessen Anthropologie über die Beschränkung der Neigung zum Wohlleben durch die Tugend. Später ist ihm der »Gemeinsinn« Emanation einer objektiven sozialen Macht geworden, – er betont in den späteren Auflagen, daß er unter Gemeinsinn wesentlich dasselbe verstehe, was Schmoller »Sitte« nenne. Hiergegen wandte sich, wie wir sehen werden, Knies in der zweiten Auflage seines Hauptwerkes.


76 Das Problem bestand für die klassische Theorie deshalb nicht, weil sie von der Annahme ausging, daß auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens nur ein konstantes und einfaches Motiv wissenschaftlich in Betracht zu ziehen sei: der »Eigennutz«, welcher sich auf dem Boden der Verkehrswirtschaft in dem Streben nach dem Maximum privatwirtschaftlichen Gewinns äußere. Für sie bedeutet die ausschließliche Berücksichtigung dieses Triebes keineswegs eine Abstraktion.


77 Bekanntlich ist auch dieses Prinzip selbst von Rau nicht konsequent durchgeführt worden. Rau begnügte sich damit, das vorwaltende Wirken des Eigennutzes als eines »unwiderstehlichen Naturtriebes« als das Normale zugrunde zu legen, dem gegenüber andere »übersinnliche« und »erhabene« Motive jedenfalls nicht als Grundlage für die Aufstellung von »Gesetzen« in Betracht kommen könnten, – weil sie irrational sind. Daß aber die Aufstellung von Gesetzen der einzig mögliche wissenschaftliche Zweck sei, verstand sich von selbst.


78 Für die »prähistorische« nationalökonomische Theorie war eben der Mensch nicht das abstrakte Wirtschaftssubjekt der heutigen Theorie, sondern auch für die Nationalökonomie der abstrakte Staatsbürger der rationalistischen Staatslehre, wie dies charakteristisch bei Rau (Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, § 4) hervortritt: »Der Staat besteht ... aus einer Anzahl von Menschen, welche in gesetzlicher Ordnung beisammen leben. Sie heißen Staatsbürger, sofern sie ... gewisse Rechte genießen; ihre Gesamtheit ist das Volk, die Nation im staatswissenschaftlichen Sinne des Wortes.« Davon verschieden ist nach Rau der Begriff: Volk »im historisch-genealogischen Sinne in bezug auf Abstammung und Absonderung«. (Vgl. dazu Knies, 1. Aufl. S. 28)


79 Eine eingehendere Untersuchung würde ergeben, daß diese Scheidung auf ganz bestimmte puritanische Vorstellungen zurückgeht, die für die »Genesis des kapitalistischen Geistes« von sehr großer Bedeutung gewesen sind.


80 Diese Identifikation bezog sich bei A. Smith – im Gegensatz zu Mandeville und Helvetius – bekanntlich nicht auf die Herrschaft des Eigennutzes im Privatleben.


81 System, Band I § 11 (2. Aufl. S. 17).


82 Eigentümliche Anklänge an diese finden sich vielleicht schon in Mammons Rede an die gefallenen Engel in Miltons Verlorenem Paradiese, wie denn die ganze Ansicht eine Art Umstülpung puritanischer Denkweise ist.


83 Roscher lehnt (Geistl. Gedanken S. 33) die Zumutung, in der Geschichte und den äußeren Vorgängen des Menschenlebens etwas einer Theodizee Aehnliches sehen zu sollen, ebenso wie die Schillersche Formel von der »Weltgeschichte« als dem »Weltgericht«, mit einer einfachen Klarheit ab, die manchem modernen Evolutionisten zu wünschen wäre. Sein religiöser Glaube machte ihm überhaupt das Leitmotiv des »Fortschritts«, dem bekanntlich auch Ranke – ebensosehr als nüchterner Forscher wie als religiöse Natur – innerlich kühl gegenüberstand, entbehrlich: Der »Fortschritts«-Gedanke stellt sich eben erst dann als notwendig ein, wenn das Bedürfnis entsteht, dem religiös entleerten Ablauf des Menschheitsschicksals einen diesseitigen und dennoch objektiven »Sinn« zu verleihen.


84 System, Band I § 13. – Aehnliche Ausführungen hatte Roscher schon im »Thukydides« gemacht (S. 201), wo er die ganz allgemeine Behauptung aufstellt, daß jede gelungene historische Erklärung sich im Kreise herumdrehe, und diese Eigentümlichkeit des diskursiven Erkennens aus der Koordination der realen Objekte, mit denen es die Erfahrungswissenschaften zu tun haben, gegenüber der Subordination der Begriffe in der (Hegelschen) Philosophie entwickelt. – Der Gegensatz zwischen Geschichte und (toter) Natur fehlt jedoch dort noch und ist auch hier von Roscher wenig klar entwickelt. Er beruft sich (§ 13 a.a.O., 2. Aufl. S. 21) darauf, daß z.B. der Wind sich rein als Ursache der Drehung der Mühlenflügel auffassen ließe, ohne daß gleichzeitig eine umgekehrte Kausalbeziehung (Mühlenflügel als Ursache des Windes?) bestehe. Die Unbrauchbarkeit eines so unpräzis formulierten Beispiels liegt auf der Hand. Es liegt in unklarer Weise etwas Aehnliches zugrunde, wie die nach dem Vorgang Diltheys (Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1894, 2, S. 1313 unten u. öfter) und anderer auch von Gottl a.a.O. vertretene Anschauung von dem grundsätzlichen, »nicht nur logischen, sondern ontologischen« Gegensatz des erlebten »Allzusammenhangs« der (menschlich)-psychischen Objekte des Erkennens gegenüber der »zerfällend« erklärbaren toten Natur, – wobei aber von Gottl für die Objekte der Biologie die Notwendigkeit der Uebernahme anthropomorpher Begriffe als durch die Natur des Objektes gegebene Besonderheit eingeräumt wird, während Roscher umgekehrt biologische Begriffe auf das Sozialleben zu übertragen glaubt. Es führte hier zu weit und steht mir nicht zu, jene Anschauung eingehend zu kritisieren, daher sei nur bemerkt, daß »Wechselwirkung« und »Allzusammenhang« in genau dem gleichen Sinn und in ganz genau dem gleichen Grade wie auf dem Gebiet des inneren Erlebens uns auf dem Gebiet der toten Natur (diesen Gegensatz als solchen einmal hingenommen) entgegentreten, sobald wir eine individuelle Erscheinung in ihrer vollen konkreten intensiven Unendlichkeit zu erkennen uns bestreben, und daß eine genauere Besinnung uns den »anthropomorphen« Einschlag in allen Sphären der Naturbetrachtung zeigt.


85 Das ist das charakteristische Merkmal des erkenntnistheoretischen Standpunkts derjenigen »organischen« Gesellschaftsauffassung, welche den Hegelschen Standpunkt ablehnt. – Daß in Wahrheit, da wir auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaften in der glücklichen Lage seien, in das Innere der »kleinsten Teile«, aus denen die Gesellschaft sich zusammensetzt und welche alle Fäden ihrer Beziehungen durchlaufen müssen, hineinzublicken, die Sache umgekehrt liege, hat schon Menger und haben nachher viele andere eingewendet. –


Es ist bezeichnend, daß Gierke, der in seiner Berliner Rektoratsrede über »Das Wesen der menschlichen Verbände« (1902) noch einmal eine Lanze für die »organische Staatslehre« gebrochen hat, erkenntnistheoretisch auf dem gleichen Standpunkt wie Roscher steht. Er hält das Wesen seiner Gesamtpersönlichkeit für ein »Geheimnis«, welches nach seiner Ansicht offenbar wissenschaftlich nicht etwa nur vorläufig, sondern definitiv und notwendig »unentschleiert« bleiben muß (S. 23), d.h. also lediglich einer metaphysischen Deutung (durch »Phantasie« und »Glaube«, wie G. sagt) zugänglich ist. Daß Gierke – dessen Ausführungen sich wohl wesentlich gegen Jellineks m. E. abschließende Kritik richten – an der »überindividuellen Lebenseinheit« der Gemeinschaften festhält, ist verständlich: die Idee hat ihm (und damit der Wissenschaft) heuristisch die allerbedeutendsten Dienste geleistet, – allein wenn G. den Inhalt einer sittlichen Idee oder (S. 22 a.a.O.) sogar den Inhalt patriotischer Empfindungen als Entität (s.v.v.!) vor sich sehen muß, um an die Macht und Bedeutung jener Gefühle glauben zu können, so ist das doch befremdlich, und wenn er umgekehrt aus der sittlichen Bedeutung jener Gefühle auf die reale Existenz seiner Gemeinschaftspersönlichkeit schließt, also Gefühlsinhalte hypostasiert, so würden dagegen die Einwendungen, die Hegel gegen Schleiermacher erhob, mit weit unzweifelhafterem Recht in Kraft treten. Weder 1. der Kosmos der eine Gemeinschaft beherrschenden Normen, noch 2. die (zuständlich betrachtete) Gesamtheit der durch jene Normen beherrschten Beziehungen der zugehörigen Individuen, noch 3. die Beeinflussung des (als Komplex von Vorgängen betrachteten) Handelns der Individuen unter dem Einfluß jener Normen und Beziehungen, stellen ein Gesamtwesen im Gierkeschen Sinne dar oder sind irgendwie metaphysischen Charakters, und doch sind alle drei etwas anderes als eine »bloße Summierung von individuellen Kräften«, – wie übrigens doch schon die rechtlich normierte Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer mit ihren Konsequenzen etwas anderes ist als die einfache Summe der Interessen der beiden Einzelpersonen, und dennoch durchaus nichts Mystisches an sich trägt. – Hinter jenem Kosmos von Normen und Beziehungen steht aber ebenfalls kein geheimnisvolles Lebewesen, sondern eine das Wollen und Fühlen der Menschen beherrschende sittliche Idee, und es ist schwer zu glauben, daß ein Idealist wie Gierke ernstlich das Kämpfen für Ideen als ein Kämpfen für »leere Worte« ansehen könnte.


86 Man wird an die »Dominanten« der modernen Reinkeschen biologischen Theorien erinnert. Reinke hat diese freilich schließlich des metaphysischen Charakters, der ihnen begrifflich anhaften muß, wenn sie als Realgrund der Zweckmäßigkeit der Organismen gelten sollen, wieder entkleidet, und sie aus einer forma formans in eine forma formata zurückgedeutet, – damit aber auch gerade das wieder preisgegeben, was sie für eine spekulative Betrachtung des Kosmos leisten konnten, ohne für die empirische Einzelforschung etwas zu gewinnen. S. die Auseinandersetzung zwischen ihm und Drews im letzten Jahrgang der Preuß. Jahrbücher.


87 Es bedarf kaum des Hinweises, daß von dieser Verwendung des Gesetzes der großen Zahl, so mißbräuchlich sie ist, bis zu Quetelets »homme moyen« ein weiter Weg ist. Immerhin lehnt Roscher (§ 18 Note 2 des Systems, Band I) Quetelets Methode nicht eigentlich prinzipiell ab. Er führt aus, daß die Statistik »nur solche Tatsachen als ihr wahres Eigentum betrachten« dürfe, die sich auf »bekannte Entwicklungsgesetze« zurückführen lassen. Die Sammlung anderer (unverstandener) Zahlenreihen habe die Bedeutung des »unvollendeten Experimentes« (§ 18). Der Glaube an die Herrschaft der »Gesetze« kreuzt sich hier mit dem gesunden Sinn des empirischen Forschers, der die Wirklichkeit verstehen, nicht sie in Formeln verflüchtigen will.


88 Nur die prinzipielle Seite der Frage geht uns an. Ein Versuch, R.s wirtschaftspolitische Ansichten systematisch zu analysieren, liegt hier fern.


89 Roscher gliedert, wie er selbst hervorhebt, in seinem Hauptwerke die Fragen der Wirtschaftspolitik den betreffenden Abschnitten der Theorie ein.


90 Konsequent ist sich freilich Roscher auch in dieser Anschauung nicht geblieben. Rein materiell-wirtschaftliche Werturteile der verschiedensten Art durchziehen auch die rein theoretischen Teile des Roscherschen Systems, angefangen von dem in § 1 aufgestellten, durchaus sozialistisch anmutenden »Ideal«: »daß alle Menschen nur löbliche Bedürfnisse fühlten, aber die löblichen auch vollständig, und alle Befriedigungsmittel derselben klar einsähen und frei besäßen«, bis zu den Erörterungen über den Produktivitätsbegriff (§§ 63 ff.) und zur Aufstellung des »Bevölkerungsideals« in § 253: »Ihren Höhepunkt erreicht die volkswirtschaftliche Entwicklung da, wo die größte Menschenzahl gleichzeitig die vollste Befriedigung ihrer Bedürfnisse findet.«


91 §25: »Das Gängelband des Kindes, die Krücke des Greises würden für den Mann eben nur die ärgsten Fesseln sein.« Es gibt »ebensoviele verschiedene Ideale ... wie Volkseigentümlichkeiten«, außerdem wird »mit jeder Veränderung der Völker selbst und ihrer Bedürfnisse auch das für sie passende Wirtschaftsideal ein anderes« (ebenda).


92 Auch auf dem Boden der Ethik des täglichen Lebens kennt er keine subjektiven Grenzen der ethischen Gebote. Vgl. den Protest gegen die »Zuckerbäckermoral« für den Genius, mit besonderem Bezug auf Goethe, Geistl. Gedanken, S. 82. Ueber Faust eine höchst kleinbürgerlich anmutende Auslassung, das. S. 76.


93 Siehe den Vergleich der notwendig individuellen Wirtschaftsideale der Völker mit dem ebenso notwendig individuellen (aber doch objektiv bestimmbaren) Kleidermaß für Individuen (§ 25), vor allem aber die Erörterungen in § 27, wo Roscher bis zu der völlig utopistischen Ansicht gelangt, daß alle Parteigegensätze nur auf ungenügender Einsicht in den wahren Stand der Entwickelung zurückzuführen seien.


94 Syst., Bd. I §§ 15, 264. – Ganz ebenso faßte Ranke (Sämtl. Werke, Bd. 24, S. 290 f.) die Aufgabe der »Staatsökonomie« auf.


95 Syst., Bd. I § 24. – Roscher ist hierin, wie man sieht, mit den Klassikern völlig einig.

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre

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