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KAPITEL I - Die Sache mit Elli Wahlstedt

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»Angesichts der Vergänglichkeit macht man keine Scherze«, sagt Erna lächelnd. Sie streicht über ihre bunte Kittelschürze, ohne die sie keiner Arbeit nachgeht. Hier auf dem Friedhof kommen die Frauen heute einer Pflicht nach, die sie dem Dorf und den Verstorbenen schuldig sind.

»Das ist kein Scherz!«, erwidert Vera Kulka. Sie ist die jüngste der drei Frauen, die sich gar nicht so zufällig treffen, wie man meinen mag. Elfriede Strunz ist mit ihrem Mann hier, der die Hecke verschneidet. Aber Vera hatte sie zu sich gewinkt. Vera ist die einzige von den drei Frauen, die noch mit beiden Beinen im Leben steht, wie man sagt, wenn jemand einer geregelten Arbeit nachgeht.

»Ich hab΄s von Bernd Lux.« Nicht nur in diesem Dorf kennt man den agilen Vorsitzenden der Stadtverordneten. Sein Name steht für Wahrheit und Mut.

Bernd Lux kam vom Bündnis΄90 und hat sich in der Stadt einen Namen gemacht. Er kann klar sagen was er meint, ohne Sperenzchen. Zumeist folgen die Abgeordneten seinen Argumenten.

Vielleicht wäre es klüger, den Mund zu halten. Das kann Vera nicht. Es gibt das etwas geradezurücken im Dorf, und das will sie hier besprechen, möglichst auch mit Kurt Strunz.

»Bernd Lux weiß es von Elli selbst. Dann wird es wohl stimmen.«

»Diese Elli Wahlstedt?«, entfährt es Elfriede Strunz. Im Dorf wissen die Leute vom Kriegsbeil, das Elfriede gegen Elli Wahlstedt nicht begraben kann. Und das ist ihr gutes Recht.

Unschlüssig gehen ihre Augen zu Kurt, der seine Arbeit an der Hecke nicht unterbrechen will. Auf Kurt ist Verlass. Elfriede hatte sich am Grab ihrer Eltern zu schaffen gemacht, bis Vera kam, und mit ihr die Erna.

Vera holt tief Luft. Mit so wenigen Worten will sie die Sache noch nicht auf sich beruhen lassen. »Man hätte bei der Elli Wahlstedt an so vieles denken müssen, aber daran? Wer hätte das gedacht.«

Erna zwängt ihre Fäuste in die Taschen der Kittelschürze und richtet ihren Rücken gerade. »Die Elli … irgendwie hätte man es ahnen können. Die Wahlstedts sind anders gestrickt als unsereiner. Oder?« Die Frauen rücken näher zusammen. Die alte Vertrautheit macht Erna zufrieden. Sie mag es, mit den beiden zu reden. Vera und Elfriede sehen in ihr nicht die Alte, deren Kraft nachlässt und die schon abseits steht im Dorf.

»Und…? Was ist mit dem Jungen? Weiß er es?«, lässt Elfriede Strunz nicht locker. Vera zieht den Kopf dichter zu Elfriede und flüstert beinahe, als ob es außer ihnen niemand hören darf.

»Ich weiß es nicht. Noch nicht. Aber dein Kurt könnte doch mal… Ich meine, der ist doch mit der Elli ganz gut…« Vera streckt ihren Kopf wieder gerade. Sie legt großen Wert darauf, nicht als neugierig zu gelten.

Zumeist, wenn Frauen etwas ausbaldowern, bleiben die Männer abseits, bis zu einem bestimmten Punkt. Elfriede ist ratlos. Ob auch Kurt wissen sollte, was sie jetzt weiß? Gerade weil Kurt so oft bei Elli aushilft, ist Elli seit Jahren der Stachel in Elfriedes Fleisch. Wenn Kurt jetzt erfährt, was es mit der Elli auf sich hat, was könnte daraus werden? Bis jetzt glaubt man im Dorf ihren Sorgen. Sie liegen an Ellis Anziehung auf Kurt. Elfriede Strunz hat den Mund nicht nur am rechten Fleck, auch der Zuspruch der Leute zu ihrem Verhalten gefällt ihr.

Wie die drei Frauen so stehen, schwirren Schwalben aufgeregt um sie herum. Sie schimpfen und fordern ihr Recht. In der Nacht hatte es geregnet. Ausgerechnet nahe dem Eingang zum Friedhof, da, wo die Frauen jetzt plaudern, hatte der Regen den Boden aufgeweicht. Ein besonderer Boden. Das wissen alle, deren Höfe und Stallungen den glückbringenden Seglern als Gastgeber dienen. An diesem frühen Tag schimpfen die Vögel auf drei Menschen, die ihre Nöte des Nestbaues ignorieren. Wie Pfeile stürzen sie herab, füllen rasch ihre Schnäbel mit Schlamm und schießen zurück in die Höhe. Unterwegs mischen sie die schlammige Beute mit ihrem Speichel und tragen das Baumaterial zu ihren Nestern in den Nischen der Wände auf den Höfen. Auch bei Elfriede und Kurt Strunz nisten sie seit Jahren. Nicht die Rauchschwalben mit ihren majestätischen Schwänzen. Die kleinen Mehlschwalben finden unter dem Dach ihrer Scheune genügend Platz.

Heute haben die Frauen, die Schwalben aus Prinzip verehren, kein Gespür für deren Not. Heute sind sie mit einer anderen Sache befasst, erfüllt, fast benommen. Das Neueste erfährt man immer durch Zufall. Seit Jahren ersetzt der Friedhof den einstigen KONSUM, den ihnen die Zeit genommen hatte. Früher konnten sie sich dort einander mitteilen oder auch nur zuhören. Es gab immer jemanden, der etwas zu berichten hatte. Ihren geliebten KONSUM der Helga Regel gibt es nicht mehr — schon fünfzehn Jahre. Das Grab der Helga liegt an der Hecke, da, wo der Kurt gerade noch am Werken ist. Deshalb kann Vera in Ruhe berichten. Sie ist Helga Regels Tochter und erfüllt ihre Pflicht seit acht Jahren an Mutters Grab. Es gibt kein Zuviel. Es gibt nur ein Zur-rechten-Zeit. Jeder im Dorf hat ein besonderes Gespür für die rechte Zeit vom Bepflanzen bis zum Abdecken kurz vor dem Schnee.

Kurt Strunz schneidet die Hecke mit Akribie, und das nicht nur hier. So manch einer in der Gemeinde möchte von seinem Geschick etwas abhaben, aber der dörfliche Stolz lässt jeden selbst zur Schere greifen. Nur Elli Wahlstedt greift gerne auf Kurt zurück, seit ihr Richard vor fünf Jahren auf dem Gottesacker seine Ruhe gefunden hat. Elfriede glaubte lange nicht, dass alles harmlos ist, wenn Kurt nach getaner Arbeit noch bei Elli sitzen bleibt und sie ihn zum Dank bewirtet. Einmal hatte das etwas Gutes. Elfriede erfuhr durch Kurt von Ellis Plan: Richards Grab sollte anders werden als alle Gräber hier. Ohne polierten Stein und ohne heuchelnden Spruch.

Über das «heuchelnd» hatte man sich die Mäuler zerrissen. Als ob die Leute im Dorf alles Heuchler oder gar Erbschleicher wären. Der Pfarrer hatte gemeint, ein Grab ohne Spruch sei christlich genug.

Elli hatte von der Tuschelei erfahren und wollte den Platz neben der kleinen Kirche plötzlich nicht mehr. Sie hat ihren Richard in der Stadt zur Ruhe gebettet.

Das alles ist jetzt fünf Jahre her. Was sollte man darüber noch lamentieren.

Elfriede schert als Erste aus dem Plauderkränzchen der Frauen aus. Kurt hatte ein Zeichen gegeben. Er hält vom Dorfklatsch nicht viel.

Das Blut rauscht in Elfriedes Ohren. Das Herz hämmert unangenehm. Wie soll sie bei Kurt nur beginnen? Er wird sie gleich fragen.

In angemessener Distanz bleibt sie stehen, zupft am Blatt einer Petunie und wartet.

Kurt Strunz ist ein besonderer Typ Mensch. Wenig kompliziert. Wenig dickfellig. Die Leute im Dorf haben kein Problem mit einem wie Kurt, sofern er nicht bei Elli schwadroniert.

Die Sonne scheint Elfriede ins Gesicht. Sie schließt für einen Moment die Augen: Vielleicht wäre es besser, Kurt die Sache mit Elli ganz zu verschweigen? Mit offenen Augen weiß sie, das bringt nichts. Nicht bei Kurt. Irgendwann kommt er dahinter, schließlich kennt sie Veras Mitteilsamkeit. Die Sache mit Elli Wahlstedt wird schnell im Dorf die Runde machen, ganz sicher. Das Dorf schläft nie. Dann würde Kurt ihre Heimlichkeit übel nehmen.

Sie kennt ihn zu gut. Seit Jahren leben sie ganz dicht beieinander, sieht man von wenigen Stunden ab, in denen Kurt einmal anderen Leuten im Dorf hilft. Elli zum Beispiel.

Im nächsten Moment legt Kurt die Schere auf die Hecke. Hier auf geweihtem Boden benutzt er stets die große Handschere. Hier ist Stille angebracht, wenn auch nicht in Grabes-Traurigkeit.

Gemeinsam raffen sie den Grünschnitt auf und tragen ihn zum Kompost, danach gehört der Tag allein Kurt und Elfriede.

Nach wenigen Stunden und vielen Worten von seiner Frau Elfriede kommt Kurt Strunz ins Grübeln. Noch nie hatte er auf Elli Wahlstedt etwas kommen lassen. Nach langem Schweigen weiß er, was zu sagen ist. »Wenn das stimmt, dann müssen wir etwas tun.«

Und Kurt Strunz tut etwas.

Am Ende bleibt ein Zauber

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