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Der erste Schritt

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Pepe Hanschke trinkt bedächtig seinen Kaffee, während Mutter Greta mit dem Rücken am Küchenbuffet lehnt und ihren Sohn beobachtet. Sein helles, leicht gelocktes Haar fällt in die Stirn, sein weicher Mund ist weiblicher als der von Axel oder anderen Männern die sie kennt. Auch ist er gelehriger als Axel je war. Nur sturer ist er, dafür kann er nichts.

Zum Glück ist er nicht ausgeflippt, weil er einen seiner freien Tage für die Nachbarschaft hingeben soll. Für jeden aus der Nachbarschaft würde er den Samstag nicht unwidersprochen opfern, aber für Elli Wahlstedt…

Vielleicht liegt da ein unsichtbarer Zauber?

Greta kennt Elli seit mehr als fünfundzwanzig Jahren. Erst flüchtig, dann besser. Sie haben nicht direkt zusammen gearbeitet, aber sie gehörten zu einem Betrieb. Elli leitete die Öffentlichkeitsarbeit, sie selbst saß am Tresen und verkaufte Tickets oder kleine Souvenirs, die seinerzeit noch spärlich vorhanden, aber umso begehrter waren.

Zuerst hatte sie keine Meinung über Elli Wahlstedt. Im Dienst schrieb man ihr eine hohe Kompetenz zu. Wenn sie Elli begegnete, fühlte sie sich klein und unbedeutend. Später stellte sich heraus: Elli kannte ihre Mutter Rosel sehr gut, aber die ist schon zur Wendezeit verstorben. Einmal erzählte Elli davon, wie sie mit ihren Kolleginnen Rosel und Margitta den Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaft mit den Soli-Marken ausgetrickst hatten. Und dann erzählte sie vom plötzlichen Tod der Margitta und was es mit deren Tochter Elvira auf sich hatte. Es war nicht schwer zu erkennen, warum Elli jetzt ein Problem hatte.

Dieses Gespräch änderte Gretas Meinung über die Frau, die bei einigen Kollegen als erhaben galt. Dennoch kam Ellis Problem so schlagartig auf sie zu, dass sie kaum zum Nachdenken gekommen ist. Elli hatte zuerst mit ihr nur über eine schwere Entscheidung geredet. Ganz allgemein, aber unter Verschwiegenheit. Ob zufällig oder beabsichtigt, das war bald nicht mehr zu ergründen. Für den Moment wunderte sie sich nur. Es war nicht vorstellbar, was Ellis Sorgen bedeuteten, aber es war einleuchtend, dass sie, Greta, niemandem davon erzählen sollte, bis die «Sache» abgeschlossen sei. Verstehen konnte sie Ellis ernstklingende Entscheidung nicht.

Wie sich nach Monaten herausstellte, war Elli nicht mehr jung genug für das, was sie vorhatte. Folglich gab es einen Rückschlag, der die Erfolgsverwöhnte schwer getroffen hatte. Was blieb ihr und Axel also? Elli konnte Menschen überzeugen…

Sechs Jahre lang wurden sie heimlich Verschworene, bis Elli in den Ruhestand ging und auf das Dorf zog. Ein paar Monate später erhielt sie, Greta, den Anruf, auch das Nachbargrundstück mit viel Hinterland sei zu haben – ebenfalls von einem, der vom Balaton nicht wiedergekommen sei. Man wusste, was damit gemeint war, aber man scheute sich gerade deshalb vor dem Erwerb. Als sie sich das Grundstück dann anschauten, wussten Axel und auch sie, wie vortrefflich es sich für ein heranwachsendes Kind eignete. Zu dieser Zeit ging Pepe schon in die zweite Klasse. Das Stadtkind hatte Probleme, mit dem dörflichen Leben zurechtzukommen. Das spürten auch Elli und Richard, der immer wusste, was gut war für das Kind. Als pensionierter Lehrer hatte er noch immer ein passendes Wort auf der Zunge, wusste genau, was einen Jungen dieses Alters bewegte. »Predigen macht auf ein Kind keinen Eindruck. Bei der Erziehung muss man sich besinnen, dass nichts, was von Wert ist, mit Worten gelehrt werden kann.«

Irgendwann hatte Elli ihr geflüstert, dass nicht Richard mithalf, den Kleinen zu betreuen, sondern der Kleine den unbeugsamen Richard umzukrempeln verstand. Und sie meinte, ihr sei ein Stein vom Herzen gefallen, als sie sah, wie viel Mühe sich Richard mit Pepe gab. Die Spielkameraden könnten sie beide Pepe nicht ersetzen, aber sie nähmen sich viel Zeit, sie hätten ja mehr davon als Axel und Greta.

Elli konnte sie noch immer nicht recht durchschauen, aber von Richard Wahlstedt wusste sie, er stichelte gern. Darum galt er für alle Welt als ironisch. Er nahm die Sorgen der Menschen mit Vorliebe auf die Schippe und mahnte doppelzüngig, wie viel schlimmer das Leben sein könnte. Nur wenn er mit denselben Worten zu dem Jungen sprach, hatten seine Augen einen anderen Glanz bekommen, einen sanften, fast wehmütigen. Pepe erkannte den Unterschied nicht, aber seine Mutter weiß um die Wandlung des Nachbarn. Kaum jemand im Dorf wusste so genau, ob Richard die Menschen oder die Dinge bespöttelte. Manchmal erkannte sie, dass die beiden Wahlstedts verschiedener gar nicht sein konnten. Die eindeutige Elli, der zweideutige Richard.

Würde sie Elli nicht besser kennen, könnte sie ebenso glauben wie die Leute im Dorf, die Wahlstedts seien erhaben, selbstsicher. Freilich hatte sie Ellis resolute Art einmal unterschätz. Sie hatte geglaubt, alles, was sie damals verband, geschah aus Ellis Eigennutz. Heute weiß sie, dass nicht Ellis, sondern ihr ganzes Glück von Ellis Idee geschmiedet war. Elli war nicht so erhaben wie gedacht. Ihre Friedfertigkeit zerbrach durch nichts, nicht einmal durch dörflichen Klatsch. Für Tränen des Jungen fand sie ebenso tröstende Worte wie für Gretas Sorgen und Freude. Einen von Ellis Sprüchen mochte sie dennoch nicht: Ein Kind ist die sichtbar gewordene Liebe.

Damit hatte Elli womöglich Recht, aber eben nicht in ihrem Falle, was so viel heißt wie: Nicht von Anfang an.

In Metaphern sprach Elli schon gerne, als Greta noch gar nicht wusste, was eine Metapher ist. Ihre Worte schürten eine Sorte Hochachtung, die Elli als Wunsch nach Distanz verstand. Manchmal brauchte es nur ein bisschen Zeit, um sie zu verstehen:

Wer kein Kind hat, der hat kein Licht in seinen Augen…

Für Elli schienen diese Worte nicht gemacht. Sie hatte nie Kinder, aber ihre Augen leuchteten oft. Für Greta und Axel Hanschke waren Ellis Worte zu den treffendsten geworden.

Als falle Greta aus einem Wachtraum, wütet auf einmal eine Frage in ihr: Warum war Elli vor Kurzem so unnachgiebig, so rigoros? Das war sie in all den Jahren nicht. Wenn eine Wahrheit verletzt, verschweige sie! Das sind Ellis Worte über das Leben im Dorf. Warum sollten sie für Pepe nicht gelten?

Etwas liegt in der Luft. Warum kommen ausgerechnet heute so lästige Gedanken? Es ist nicht das erste Mal, dass Pepe eine lange Zeit mit Elli verbringt. Seit Kurzem spürt das Mutterherz eine ungewisse Gefahr. Dass sie ausgerechnet von Elli kommt, ist neu.

»Sie wollte doch anrufen?«, sagt Pepe, ohne sich nach seiner Mutter umzudrehen.

Greta ist erleichtert. Er fragt sie nicht, was Elli vorhat, wohin sie will. Es ist ihr diesmal peinlich, es auch nicht zu wissen. Gute Freundschaft wüsste um die Sorgen des anderen. Bis vor Kurzem haben sie sich nie bedrängt, etwas zu erzählen. Ihre Freundschaft beruhte auf großer Toleranz. Diese Grenze hat Elli unlängst überschritten, das sieht auch Axel so.

Seit diesem Tage hatten sich Greta und Axel Hanschke Abstand von Elli geschworen. Ob sie es ernst meinten, oder nur enttäuscht waren, blieb ungesagt. Immerhin war es der Grund, Elli nicht nach dem Ziel ihrer Reise zu fragen. Sie muss es schließlich Pepe verraten, bevor sie losfahren, und irgendwie erfährt sie es dann auch — früher oder später, was macht das schon. Die Stille in letzter Zeit zwischen Elli und ihr beunruhigt Greta allemal. Wenn Elli früher einen Urlaub plante, dann war sie innerlich aufgeregt und plauderte mal über das eine und mal über das andere.

Vielleicht hat sie einen neuen Mann gefunden?

Greta schlägt eine Hand an die Stirn. Ein neuer Mann! Dass sie daran nicht gedacht hat. Elli ist noch immer schön. Und sie hatte schließlich ein paar komische Worte gesagt? Die Liebe ist so vergänglich wie die Angst vor dem Sterben.

Vorsichtshalber hatte sie Pepe vorgewarnt: Es wird bestimmt keine kurze Fahrt. Schönefeld oder Tegel, vielleicht auch Dresden oder Leipzig. Irgendetwas von «aufsteigen» hatte Elli gemurmelt.

»Elli wird genau wissen, wann ihr losfahren müsst. Sie ist in diesen Dingen eigen.«

Pepe nickt. Er ist Elli diesen Dienst schuldig, wenn sie es auch niemals selbstlos erwarten würde. Hätte er damals das Auto nicht von Elli »übernommen«, er hätte nicht viel von der Welt gesehen. Und er wäre vermutlich niemals Cassy begegnet, oder Cassy hätte ihn schlicht übersehen.

Seine Gedanken sind sofort bei diesem verrückten Mädchen. Cassy macht ihn an, wie bisher kein anderes Mädchen. Und sie macht es ihm leicht. Dennoch fehlt irgendetwas an ihrer Liebe, was Pepe nicht in Worte kleiden kann. Einmal, als sie sich im Auto geliebt haben, hatte er danach zwangsläufig von Elli gesprochen. Wer weiß, wo sie sich hätten lieben müssen ohne Ellis Auto? In einem Hinterhof? An einem Flussufer?

Warum hatte Cassy nach so viel Glück sofort ein Klischee auf der Zunge? Sie kennt Elli nicht, hat sie noch nie gesehen. Sie weiß nur, dass sie die Nachbarin ist und schon ziemlich alt.

Cassys Art, über Alte zu urteilen, ist nicht selten unter seinen Freunden. Zugegeben, mit renitenten Alten hält es Pepe ebenso, sofern er sie einschätzen kann. Aber Elli ist weder renitent, noch einfältig oder gebrechlich, weder vergesslich noch schulmeisterlich. Elli ist irgendwie anders… Nicht bewundernswürdig. Das könnte Pepe nicht begründen. Seine Haltung zu Elli liegt vermutlich am Vergleich mit seiner Großmutter väterlicherseits, Hermine. Es gab keinen Zweifel, sie mochte ihren Enkel nicht. Sogar Mutter Greta nahm Oma Hermine in Schutz. Das war ungewöhnlich. Gewöhnlich galt die Regel vom gleichen Blut bei seinen Eltern, wenn sie über Zank und Streit im Dorfe lamentierten. Nicht alle Familien waren verschworen. Es gab Missgunst und Neid und manchmal hatte Pepe das Gefühl, er habe davon ein Quäntchen auch in seinem Blut.

Wenn Elli — schon höher betagt als seine Großmutter Hermine — mit dem Auto wegfuhr, hielt Pepe es für ungerecht. Er hatte nur das Fahrrad für die zehn Kilometer bis zur Stadt. Als er schließlich das Geld für ein Motorrad zusammen hatte, kam Elli zu ihnen herüber und fragte erst die Eltern, bevor sie ihm das unglaubliche Angebot machte. Unverhofft.

»Lass das mit dem Motorrad. Mein Auto gibt dir mehr Schutz…«, hatte sie gesagt.

Seit dem Tag sieht er Elli Wahlstedt mit dankbaren Augen, auch wenn ihm der Grund seiner Dankbarkeit hin und wieder peinlich ist, gerade vor Cassy. Sie hatte zu seinen Bedenken einen Spruch auf den Lippen, den sie irgendwo gelesen haben musste: Die Dankbarkeit ist in den Himmel gestiegen und hat die Leiter mitgenommen. Er hatte dazu geschwiegen, aber diese Worte passten zu Cassy, die immer den einfachsten Weg suchte, nie den klügsten.

Was Richard zu einem solchen Mädchen gesagt hätte, kann er sich leicht vorstellen: Es ist kein Wunder, dass die Weltherrschaft von so viel Dummheit begründet ist, wenn man glaubt, der Klügere gibt besser nach.

Wie mögen die beiden miteinander ausgekommen sein? Die wenigen Bilder in Ellis Haus sprechen eine deutliche Sprache. Er kennt sie aus seinen Kinderzeiten nicht, aber als Kind hätte er kein Bild richtig gedeutet. Elli muss die Bilder erst nach Richards Tod aufgehängt haben, um ihn immer bei sich zu spüren. Was für eine Liebe!

Elli war einmal schön. Die Kerben in ihr Gesicht hatten weder eine unglückliche Ehe noch elterlicher Frust gezeichnet. Etwas anderes hatte sie in kurzer Zeit bewirkt und zugleich das Leuchten aus ihren Augen geraubt, das Pepe als Junge sehr oft zu sehen bekam. Für dieses Leuchten hat er Ellis Kinder beneidet, ohne ungerecht gegen seine Mutter sein zu wollen. Die Frage, ob Elli und Richard überhaupt Kinder haben, stellte er nie.

»Wann wirst du uns deine Cassy vorstellen?«, fragt Greta in sein Grübeln hinein. Das spricht für die Mutter. Sie ahnt, worauf er an diesem Tag verzichtet, Elli zuliebe.

Pepe braucht ein paar Sekunden; mit dieser Frage hat er an diesem Morgen nicht gerechnet.

»Wenn ich weiß, dass sie die Richtige ist, Mama.«

Greta nickt. Ihren Stolz kann Pepe nicht sehen. Am liebsten würde sie ihm raten, heute mit Elli über das Mädchen zu reden. Elli ist eine Menschenkennerin, und es würde sie freuen, gefragt zu werden — gerade von Pepe. Vermutlich würde sie meinen, es gebe nichts, was spurlos an ihr vorbeigehen dürfe. Aber der Junge ist inzwischen erwachsen und Elli hat ihre Pflicht und Schuldigkeit längst getan.

Das Telefon läutet. Greta springt sofort zum Flur, wo auf dem Bänkchen die Festnetzstation blinkt.

Das «Hallo» klingt denkbar kurz, und ehe sich Pepe auch nur umdrehen kann, liegt der Hörer wieder auf der Station.

»Es geht los«, sagt die Mutter etwas widerwillig. Offenbar hätte sie gerne mehr Worte von Elli gehört.

Pepe erhebt sich und geht auf seine Mutter zu. Wie stets verabschiedet er sich mit einem Kuss auf die mütterliche Wange.

»Ruf an, wenn ihr angekommen seid!«, ermahnt sie ihn wie immer, wenn er unterwegs ist.

»Klar Mama. Ciao…bis dann…«

Als Pepe mit seinem Auto rückwärts aus der Garage stößt, die bis vor Kurzem zu Ellis Grundstück gehörte, und gleich daneben wieder die Einfahrt zu Ellis Haus nimmt, hört er drinnen das Telefon klingeln. Er kennt Ellis Telefon und er kennt den Ton genau, den sie als Klingelton eingestellt hat: Wachet auf, wachet auf, es kräht schon der Hahn!

Ohne Elli würde er das Lied nicht kennen. Auch das hatte sie ihm vor einigen Jahren einmal vorgesungen, so, wie sie ihn Gedichte lehrte oder mit Büchern versorgt hat, die er ohne Elli nie gelesen hätte, was immerhin zu bedauern wäre.

Noch hört er die Melodie, aber Elli erscheint winkend an der Haustür. Pepe springt hinzu, um der alten Dame, die er seit Cassys Entsetzen nicht mehr Tante Elli nennen kann, beizustehen. Sie lächelt und zeigt zum Vorraum, wo der Koffer steht. Um das läutende Telefon schert sie sich nicht. Mit der Rechten schiebt sie ihr hellbraun-meliertes Haar hinter das Ohr, mit der Linken fährt sie ungeduldig durch die Luft, weil sein fragender Blick sie streift.

»Wer sich bis jetzt nicht um mich geschert hat, muss es nun auch nicht mehr…«

Solange Pepe den Koffer in den Wagen hievt, schließt Elli die Haustür ab. Das Schlüsselbund nimmt sie nicht an sich. Sie drückt es wortlos in Pepes Hand und zieht ihren Kopf hinüber zum Haus seiner Eltern. Das ist Anweisung genug, zumindest nach Ellis Art. Also haben die Frauen für Ellis Abwesenheit alles ausführlich besprochen, nur seine Mutter spielt mal wieder die Verschwiegene wie so oft im Leben? Manchmal glaubt er, heimliche Blicke zwischen den Frauen hin und her huschen zu sehen, merkwürdige Blicke, heimliche, verschworene.

Elli Wahlstedt wirkt in ihrem seidenen schimmernden Kostüm und dem exakten Blusenkragen wie stets erhaben. Das kann ihn nicht täuschen. Pepe sieht genau, wie Elli vom Nebensitz aus bekümmerte Blicke über die Hausfassade streichen lässt, über den Hof mit den blühenden Rhododendren, mit der Linde, unter der die grün-lackierte Gartenbank steht, deren Farbe langsam zu bröckeln beginnt. Auch die dunklen Koniferen und die bunt bepflanzten rostroten Töpfe aus Terrakotta— alles friedlich beschienen von der Morgensonne — streift ihr trüber Blick. Zumeist, wenn er sie einmal fuhr, strich sie liebevoll über die Armatur «ihres» Autos, als liebkoste sie ihren Richard oder die alten Zeiten oder weiß der Fuchs, woran ein alter Mensch dabei denkt. Ihm war es dann peinlich, ein solches Geschenk angenommen zu haben. Sie hätte das Auto schließlich auch verkaufen oder in der Familie weitergeben können. Das ist auch Mutters Meinung, aber Vater wiegelt mit selbstverständlicher Miene ab: Sie wird ihre Gründe haben…

Mit einer zackigen Handbewegung befördert Pepe Ellis Schlüsselbund in das Handschuhfach, untermalt mit den Worten: »Wir werden die Pflanzen nicht verdursten lassen.«

Im nächsten Moment wird ihm eiskalt. Zugleich treten winzige Schweißperlen auf seine Stirn. Elli wischt mit einem Tuch unter den Augen entlang. Das kennt er von Elli Wahlstedt nicht. Sie war immer beherrscht und nie mit sich selbst beschäftigt.

»Wenn Sie wiederkommen, werden die Dahlien vielleicht schon blühen«, sagt er schnell. Dann ist wieder Stille. Nur der Motor gibt langsam Fahrt und das Auto rollt von der Einfahrt auf die Dorfstraße, biegt nach rechts, weil sie nur in dieser Richtung aus dem Vorspreewald zu den größeren Straßen führt.

»Wann kommen Sie zurück…?«

Elli hebt ihre Hand, aber ein Ton löst sich nicht von ihren Lippen. Dafür leckt Pepe mit der Zunge seine Lippen. Sein diskreter Blick huscht nach rechts: In Ellis Augen liegt ein fremdes Flackern.

Sie nähern sich dem Kreisverkehr: »Wohin soll die Reise gehen?«

Elli hat Mühe zu sprechen, das kann er spüren.

»Keine Fragen, Pepe. Ich sage es dir immer rechtzeitig.« Um Fassung ringend fügt Elli an: »Zweite Ausfahrt.«

Also in Richtung Stadt, nicht zur Autobahn?

Wie alt mag Elli sein? An die achtzig Jahre. Bei den Dorfleuten geht sie beinahe noch als sechzigjährig durch. So hat er es seine Mutter zumindest zu Vater sagen hören. Man munkelt in der Nachbarschaft, sie habe etwas getan für ihren ewigen Jungbrunnen, aber Elli hat nur darüber gelächelt und gesagt: »Lasst sie reden. Es muss auch Menschen geben, die uns beweisen, dass der Schöpfer nicht unfehlbar war.« Nicht einmal Vater hat Ellis Worte verstanden.

Elli könnte seine Großmutter sein, denkt er gerade, als Ellis Stimme fest und keinen Widerstand duldend, heraus schmettert: »Und eines sage ich dir, Pepe. Wenn du noch einmal Sie zu mir sagst, steig ich aus. Sag einfach Elli, wie du es als Kind getan hast — ohne Tante, versteht sich. Alle Menschen, die man mag, bekommen Privilegien. Du hattest immer die größten…Das weißt du seit Langem.«

Zum Glück hat sie nicht gesagt: Sonst hätte ich dir das Auto nicht überlassen. Überlassen, sagt Elli, weil sie ihm damit nicht das Gefühl gibt, er müsse ihr dankbar sein. Überlassen heißt nicht, es zu besitzen. Es heißt, etwas zu nutzen, damit es nicht verrottet. Und er nutzt Ellis Großzügigkeit nur allzu gerne, aber daran in seiner heutigen Mission erinnert zu werden, würde ihm nicht gefallen.

»Entschuldige, aber das Du fällt mir immer schwerer. Sie … Du könntest immerhin…«

»Wer hat dir das eingeredet?«, sagt sie kratzig, als wüsste sie von seinem Gespräch mit Cassy.

»Stell dir mal vor, ich war auch einmal jung und hatte Flausen im Kopf wie du…«

»Genau das kann ich eben nicht … mir das vorstellen.«

Eine Zeitlang gleitet ihr Blick ungezielt über die grünen Flächen eines brachliegenden Feldes, auf dem sich in der Ferne ein Rudel Rehe tummelt. In deren Mitte ein Albino, das offenbar wegen seiner Auffälligkeit vom Rest der Familie beschützt wird.

Ganz anders als in einem Dorf, wo die Auffälligen ausgestoßen werden.

»Da. Siehst du? Da, wo die Rehe mit dem weißen Kitz stehen, da entlang führte früher unser Radweg.« Elli atmet schwer. »Als wir noch in der Stadt wohnten, zog es uns jeden Tag hinaus in die Natur. Drei Stunden am Nachmittag. Noch als wir schon siebzig waren…«

»Als Sie siebzig waren …«

»Als du siebzig warst — das haben wir doch abgemacht. Hast du beschlossen, mich zu ärgern oder lernt man in jungen Jahren wirklich so schlecht?«

»Ja gut. Ich weiß doch aber, vor zehn Jahren waren wir immerhin schon ein paar Jahre lang Nachbarn.«

»Vor zehn Jahren hattest du noch keinen Blick für diese Dinge. Wir sind bis kurz vor Richards Tod noch mit dem Rad gefahren. Täglich. Und wir hatten unseren Spaß dabei. Weißt du, er hatte Marotten wie alle Männer sie vermutlich haben. Richard war ein Waldrandpinkler.«

Zum ersten Mal seit einiger Zeit lacht Elli, dass man es auch hören kann. Das macht Pepe wieder locker und er findet, es ist doch gar nicht so schwer, Elli, die er als Kind immer Tante Elli genannt hat, auch jetzt einfach Elli zu nennen. Das Wörtchen Tante kann er leicht ignorieren, er ist ja kein Kind mehr.

»Wohin fahren wir nun?«

»Du hältst dich nicht an die Abmachung, mein Junge. Warte einfach, bis ich dir die Richtung sage. Ich tu es schon rechtzeitig. Das habe ich bei Richard auch immer gemacht. Ich war sein zweites, aber zuverlässigstes Navi. Wenn ich aussteige, wirst du das Ziel erkennen.«

Pepe duckt sich innerlich vor Ellis schroffen Worten. Er sagt nichts mehr. Nur sein Gefühl bekommt eine neue Richtung: Ellis Ton ist gerade genau so energisch wie der von Cassy. Vielleicht hat sie Recht, wenn sie sagt: Die Alten sind alle kauzig?

Wahrscheinlich hätte er Cassy heute getroffen, aber manchmal will er sie gar nicht treffen. Sie ist so anders als er. Sie ist ein Großstadtmensch. Er ist zwar in der Stadt geboren, aber auf dem Dorf groß geworden. Zwischen Stadt und Land liegen noch immer Gräben, wenn auch keine unüberwindlichen. Dagegen helfen kein Smartphone und kein Messenger-Dienst.

»Siehst du diese Schneise da? Dort hinein führte damals der schattigste Radweg, den wir hatten. Es war auch der sicherste Platz für meinen Waldrandpinkler.«

Wieder lacht Elli in einer Art, wie junge Mädchen lachen, nur weniger albern. Ellis Erinnerungen scheinen ihr gut zu tun.

»Erzähl ruhig«, sagt Pepe zögerlich. Von der Seite her kann er nicht erkennen, ob das so umgangene und doch vertraute Du auf Elli wieder versöhnlich wirkt. Sie nimmt keine Notiz davon, erzählt, als muss sie sich stark konzentrieren:

»Vermutlich wirft die Geschichte kein gutes Licht auf eine Frau, die ihrem Mann die ewige Treue geschworen hat. Du kennst den Treueschwur: Bis dass der Tod euch scheidet?«

Pepe nickt rasch.

»Ich sage dir, das ist das Eine. Das Leben ist das Andere. Wenn man gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen ist, wenn man Freud und Leid, das letzte Stück Brot geteilt und um den Bettzipfel gestritten hat, das sagt genug über die Treue fürs Leben. Nur wer Liebe gelebt und Großzügigkeit genossen hat, ist in der Lage, die kleinen Macken am anderen zu tolerieren. Ich habe mich eben ein bisschen aufs Korn nehmen zu lassen. Das hat mein Richard mit Vorliebe getan.«

»Und was hat das mit dem …«

»Ach ja, der Waldrandpinkler.« Ellis Körper hat merkwürdig an Spannkraft verloren. Sie richtet ihn wieder gerade auf und dreht sich etwas nach links, um Pepe ins Gesicht schauen zu können.

»Gelegentlich, wenn wir eine unserer täglichen Fahrradtouren unternahmen, meinte Richard: Wenn es keine Hunde gäbe, würde man keinen Menschen auf der Piste sehen. Und Recht hatte er. Zumindest bei weniger gutem Wetter. Was Richard stoisch übersehen hat, war die Antwort auf die Frage: Warum gehen die Leute mit den Hunden auch bei trüber Aussicht ins Freie? Ich sag es dir, mein Lieber. Weil dort ihre Lieblinge an jedem Baum das Bein heben dürfen. Die Rüden wohlgemerkt.«

Elli lacht und Pepe lacht mit ihr. Sie hebt die Hand wie ein Dorfschulmeister und vollendet ihre Rede. »Bei euch Männern ist das nicht anders. Bei Richard war es schon in jüngeren Jahren so. Mein Mann und der Waldrand mussten eine Abmachung fürs Leben getroffen haben. Der Wald gab ihm Sichtschutz, und Richard versorgte den Waldrand mit dem, was er abgeben musste. Wenn ich darüber lästerte, sagte mein kluger Mann, es sei wissenschaftlich gesehen eine funktionierende Symbiose zweier ganz unterschiedlicher Lebensformen zu beidseitigem Vorteil.« Sie unterbricht ihren Redeschwall, beugt sich nach vorn, um sein Gesicht zu sehen, dann fährt sie fort: »Biologie! Ist auch bei dir noch nicht zu lange her…?«

Pepe hebt die Schultern, Elli scheint froh darüber zu sein. Er tut einfach so, als habe er es genau verstanden. Elli schweigt wieder, und Pepe kommt die Ruhe plötzlich gelegen. Nach fast einem Kilometer hört er die nächsten Worte, unvermittelt, als hätte Elli nie aufgehört zu reden.

»Eigentlich war Richards Waldrandpinkelei sogar reiner Parasitismus. Er profitierte, der Baum wurde geschädigt. Man kann ja keinen Baum befragen, ob er vom Waldrandpinkler profitiert hat.« Elli dreht ihren Körper zurück in Fahrtrichtung. Die Worte verschwimmen: »Aber das sind die üblichen Geschichten des Lebens.«

Als Pepe sicher ist, dass sich Ellis Geschichte erschöpft hat, will er etwas sagen, findet aber nicht gleich die richtigen Worte. Nie und nimmer hätte er eine solche Episode von Elli erwartet. Die beiden Wahlstedts galten im Dorf als feine Leute. Für manch einen auch als Vorzeige-Ehe, wofür Elli von ein paar Frauen aus dem Dorf gehasst und Richard von ein paar Männern belächelt wurde.

Sie fahren auf der schmalen Landstraße. Rechts und links huschen die sehr gerade gewachsenen Kiefern durch ihren Blick. Im Unterholz blüht noch der gelbe Ginster, als würde die Sonne den Waldboden erhellen. Früher gab es in dieser Gegend keinen Ginster. Das erste Mal in ihrem Leben hatte Elli die üppig blühenden Büsche gesehen, als sie mit Richard in den siebziger Jahren an der Mecklenburgischen Seenplatte im Urlaub war. Damals wusste nicht einmal Richard, welche Pflanzen dort so üppig am Wege wucherten. Heute macht sich der Ginster auch hier überall breit, und man nimmt ihn an. Keiner sagt, du gehörst hier nicht her. Niemand skandiert: Geh΄ zurück wo du herkommst…

Am großen Wegweiser gibt Elli die nächste Anweisung: »Im Kreisel die erste Ausfahrt.«

Pepe folgt wortlos. Elli kann nicht erkennen, warum er schweigt. Also fragt sie ihn, ob ihm die Fahrt unangenehm ist.

»Nein. Es ist nur so … Ich hätte die Sache mit dem Waldrandpinkler nicht grad aus deinem Munde erwartet. Ich dachte immer …«

»Du dachtest also …«

Nie weiß man, wann Elli wirklich grantig ist und wann sie nur mit ihrer Moralkeule droht. Bisher ist Pepe immer gut gefahren, wenn er versucht hat, sich ihrer Stimmung anzupassen, obwohl er Anpassen hasst, wie der Teufel das Kruzifix.

»Viele Menschen denken, sie dächten. Dabei ordnen sie nur ihre Vorurteile.« Elli kramt bei diesen Worten in ihrer Tasche und steckt sich umständlich ein Bonbon in den Mund.

»Der Spruch war nicht auf meinem Mist gewachsen«, sagt sie, aber sie fügt sofort lückenlos an: »Möchtest du auch eins…?«

Pepe ahnt, dass sie ein Bonbon meint und nickt. Er öffnet seine rechte Hand, Elli drückt vorsichtig das Bonbon aus dem Papier. So hat sie es für Richard immer ausgepackt, wenn er am Steuer saß.

»Mein Junge, ich habe ein große Bitte an dich.«

Ellis veränderter Ton lässt nichts Gutes erahnen, aber Pepe traut ihr einfach keine Hinterlist zu.

»Würdest du mich noch auf einen Café-Besuch begleiten?«

»Wenn noch so viel Zeit ist. Willst du mir nicht endlich sagen…«

»Aber…?«

»Nichts aber. Begleitest du mich, oder gibst du mir einen Korb?«

»Na ja«, zögert Pepe. »Kaffee hatte ich gerade.«

Für einen Moment überlegt Elli, dann gibt sie die nächste Anweisung: »Dann fahre bitte ins Parkhaus. Wir laufen die drei Schritte zu Fuß.«

Am Ende bleibt ein Zauber

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