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TIEFFLIEGER

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Am Rande der kleinen Stadt ist es an diesem Nachmittag still, beinahe öde, als wären für alle Welt große Ferien. Nur das Quietschen der Kräne und das Rollen der vollbeladenen Waggons erzählen ihre Geschichte vom unermüdlichen Schaffen im Hafen von Königswusterhausen.

Es ist ein Tag, der dem Sommer 1972 große Ehre bringen könnte. Zwei Jungen waren bisher auf ihren Lehrstellen, der siebzehnjährige Bert bei der Bahn und sein gleichaltriger Freund Kalle im nahen Hafen. In großer Hitze ist dieser Tag dazu verdammt, eintönig zu werden. An diesem Montag im August haben beide zu nichts wirklich Lust. Erst einmal lungern sie ziellos am Rande des Wäldchens neben den Bahngleisen herum, auf dem das Schüttgut bis zu den Lastkähnen angefahren wird. Es fasziniert Bert seit einiger Zeit, wie der Spezialkran ganze Waggons aufnimmt und deren Fracht in die Kähne entlässt, Waggons, die bei seinem Lehrherrn Deutsche Reichsbahn verschoben werden, was Kalle bisweilen ein Schmunzeln einbringt. Verschoben? Er würde rangieren sagen.

Sie sitzen im Schatten und dösen vor sich hin. Hinter der Brücke über den Nottekanal hört man bei günstigem Wind das Surren der Autos auf der nahen Autobahn. Eine struppige Katze schleicht vorbei, die Kalle mit einer Handvoll Kieselsteinen verjagt, weil er wenigstens irgendetwas zu tun haben möchte.

»Ist das öde. Man, es müsste mal wieder was passieren«, sagt er mehr zu sich. Bert nickt, aber er hat auch keine Idee, was mit dem lahmen Nachmittag noch anzufangen wäre.

»Na ja«, erklärt sich Kalle, und kramt dabei in den Taschen seiner Jacke nach einer Kippe, die irgendwo noch sein muss. »Wie damals, als der Kohlekahn abge-gluckert ist, mein ich…«

Bert zieht die Winkel seiner Lippen nach unten, aber mehr Bewegung in seinem Gesicht kann Kalle nicht ausmachen. Eine Weile dösen sie wieder vor sich hin, bis sie ein Knattern in dieselbe Richtung blicken lässt.

»Kiek ma, da kommt der Tiefflieger Maik mit seiner Angeber-Schwalbe.«

Kalle bleibt phlegmatisch: »Wat will der Idiot hier?«

Sie drehen ihre Köpfe auffällig langsam in die entgegengesetzte Richtung. Maik gehört nicht zu ihrer Clique, aber er versucht, sich immer wieder einzuschmeicheln. Bolzen könnten sie wenigstens zu dritt, aber die Hitze macht ihnen zu schaffen. Maik wäre sogar als Tormann noch zu ungelenk. Sie hatten sich schließlich ausgemacht, über die Felder zu ziehen und Gurken zu klauen. Später, wenn es kühler wird, jetzt ist es dafür noch zu früh ist. Tagsüber wird gerade überall geerntet. Im Herbst schlagen sie sich gewöhnlich mit Wasserrüben die Bäuche voll. Von dem Viehfutter bekommen sie zwar brennende Lippen, weil sie die scharfe weiß-lila Pelle mit dem Mund abschälen, aber das Innenfleisch ist saftig, eben wie es bei Wasserrüben zu erwarten ist.

Maik stellt den Motor ab, postiert sich aber auf seinem Moped frontal vor den beiden.

»Macht ihr ‘n heute noch so?«

»Siehste doch«, sagt Kalle. Am liebsten würde er noch sagen: Verpiss dich, aber Maiks Vater ist der Bürgermeister und man kann nie wissen, was dieser Tiefflieger zu Hause in seiner intellektuellen Familie rumerzählt. Schlecht getroffen hat der es nicht, denkt Bert. Der fliegt bestimmt in diesem Jahr noch mit seinen Eltern nach Sotschi, wohin der Vater «dienstliche» Kontakte pflegt. Davon schwärmt der Angeber dann monatelang, bis man es nicht mehr hören kann.

»Wir träumen uns in der Süden«, blafft Bert. »Am Schwarzen Meer sind jetzt bestimmt auch 30 Grad.«

»Witzbold«, erwidert Maik.

»Tiefflieger«, kontert Kalle und sucht noch immer seine Taschen ab, um mit einer Kippe vor Maik anzugeben. Der darf sich von seinem Alten mit einer Kippe nicht erwischen lassen.

Eine Weile messen sich die Jungen mit komischen Grimassen, bis ein Rums zu hören ist. Maik dreht sich blitzschnell um und ruft — sein Mund bleibt dabei offen —: »Eh! Das ist 'n echter Tiefflieger.«

Noch ehe Bert und Kalle begreifen, was Maik meint, sehen sie es auch. Aus den Wolken taucht etwas Großes, etwas Rot-Weißes auf, das bedrohlich auf sie zurast. Aus den Tragflächen spritzen kleinen Fontänen.

»Das ist Kraftstoff, man. Das ist ein Notfall! Eh, das Geschoss stürzt ab!«

Jetzt sehen es Bert und Kalle ebenso. Eine Rauchwolke zieht hinter dem Flugzeug her, das sich rasend schnell auf die Stadt zubewegt.

»Da geht wohl einem die Puste aus!«, kollert Berts Stimme in die Schwüle des Nachmittags, aber dann hören sie noch dreimal einen dumpfen Knall aus der Ferne. Die Leute der Stadt haben sich an die Flieger vom nahen Flugplatz Schönefeld gewöhnt. Auch wenn sie schon sehr tief über die Häuser der Stadt fliegen, macht es keinem mehr etwas aus, und so laut ist es beim Landen auch nicht. Bei diesem Geschoss hört sich das Heulen aber an, als startete es gerade im Steilflug, dabei kommt es vom Süden herein; also will es landen.

Tatsächlich im Sinkflug begriffen, bricht Sekunden später der hintere Teil der Maschine weg und stürzt zur Erde. Kalle schreit: »Oh verdammt!« Unvermittelt duckt er sich. Auch die anderen beiden Jungen halten ihre Arme schützend über den Kopf.

»Scheiße! Der Bahnhof…!«

Atemlos und mit aufgerissenen Augen verfolgen die Jungen den Rest vom rauchenden Geschoss, der nicht weit von ihnen entfernt verschwindet. Eine gigantische Rauchsäule taucht auf, dann ist die Welt ganz ruhig.

Maik schnappt als Erster nach Luft: »Los! Wer kommt mit«, schreit er und startet in fiebriger Eile seine Schwalbe. Zugleich springen Bert und Kalle hinter Maik auf die kurze Sitzbank vom kleinen Gefährt. Nicht nur der Platz auf dem Sitz ist zu eng, auch die Luft in den Rädern kann dem Gewicht von drei Burschen kaum trotzen. Unter den Radprofilen schleudert Sand vom festgetretenen Schleichweg in Fontänen davon, später holpert das überladene Gefährt über die Kopfsteinpisten bis zur Brückenstraße. An diesem Tag droht ihnen keiner mit dem Finger, wie so oft, wenn sie Verbotenes tun. Niemand der Leute in der bis jetzt trägen Stadt fuchtelt drohend mit den Armen, alle schauen wie gebannt auf die Rauchsäule und abwechselnd in den Himmel, ob der noch etwas hinterherschickt, wovor sie sich schützen müssten.

Nachdem sie den Bahnhof hinter sich gelassen haben, lenkt Maik mühsam das überladene Gefährt bis zur Storkower Straße, aber da sind sie schon zu weit gefahren. Er kehrt um und biegt in das Wohngebiet, wo am Kirchsteig schon die Hölle los ist. Drei eben noch gelan-gweilte Jungen starren auf eine Welt, die sie nicht wiedererkennen. Eine Rauchsäule erhebt sich bedrohlich schwarz aus dem kleinen Waldstück. Durch das Unterholz kann man überall Wrackteile sehen. Das Fahrwerk ragt in die Luft, das Heck steckt gebrochen im Erdboden. Aus der Luft regnet es Silberpapier…

Der Schreck blockiert die Worte, die Bert jetzt zu gerne heraus geprustet hätte: Ham wa denn schon Weihnachten?

Auf den Balkonen der Häuser saßen soeben noch die Bewohner, die sich bei Kaffee und Kuchenresten vom Wochenende den Feierabend gefallen ließen. Jetzt stehen sie stocksteif und haben für die Bilder, die sich ihnen direkt vor den Fenstern bieten, keine Erklärung.

Am Gartenzaun einer kleinen Parzelle steht ein Mann und hält mit angezogenen Schultern etwas in seinen Händen. Kleidungsstücke? Taschen? Die Lichtung ist übersät davon. Die drei Jungen kommen nicht näher heran. Einer von den Leuten, die aus allen Richtungen zusammengeströmt sind, erkennt Maik und schickt ihn zurück in die Stadt zu seinem Vater, der im Schlosssaal tagt, um die genaue Unglücksstelle zu beschreiben.

Das stellt sich als unnütz heraus. Die ganze Stadt weiß längst Bescheid. Bert ist mit Maik weg, und Kalle schleicht durch die Büsche, um die vielen Dinge, die es vom Himmel geregnet hat, zu begutachten. Verdammt! Das hat er nicht gemeint, mit «es müsste mal wieder was passieren«. Das hier, und das sieht er an den vielen verstreuten Dingen, war eine Passagiermaschine, keine Cargo. Er schaut auch einmal gedankenlos und ohne bestimmten Grund an einem Baum empor, als sein Blick auf etwas stößt, das in seine Kategorie »abscheulich« gehört. Und dann sieht er auch am Boden noch mehr davon und immer mehr. Angewidert läuft er davon. Weg hier, bloß weg …!

Im kleinen Städtchen ist längst die Hölle los. So viele Krankenwagen und Feuerwehren hat man hier noch niemals gesehen. Sogar die Kameraden von der BSG und der Zivilverteidigung rücken an, um zu retten. Aber von den 156 Menschen an Bord ist niemandem mehr zu helfen.

Todesflug Schicksal

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