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KRACH MIT JULIE

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Das Wort Ausreise wurde im Hause Fuchs noch nicht ausgesprochen, zumindest, wenn Julie in Hörweite war. Aber wird eine Sache leichter, nur weil man sie nicht ausspricht?

An einem Samstag im Juni saßen sie auf dem Balkon, tranken Kaffee und aßen Julies Lieblingsgebäck, das Lisa am Freitag in der Traditions-Konditorei in der Bahnhofstraße bestellt hatte: Zitronen-Sahne-Torte.

Ein bisschen eng war der Balkon für drei Leute, aber man konnte nach Feierabend oder an den Wochenenden an der frischen Luft sitzen, was ihnen in den Jahren in der Karlstraße nie möglich war.

Ganz vorsichtig nur, als sei es rein hypothetisch, erwähnte Lisa, dass in Tante Ellis Haus in Hamburg eine ganze Wohnetage inklusive geräumiger Hochterrasse für sie bereitstehe und dass sie, sofern Elli stirbt, als Alleinerben anerkannt seien, weil Elli keine weitere Familie mehr hat.

»Dein Optimismus in allen Ehren«, antwortete Norbert, »ich sehe seit Kurzen mehr schwarz als rosig. Und du weißt warum. Vielleicht kostet uns die Sache sogar bald die Arbeitsstelle. Wir müssen mal ganz realistisch bleiben.«

»Nie und nimmer!« Lisa hob die Kaffeekanne an und füllte Norbert ungefragt noch einmal die Tasse mit ihrem gutgehüteten Eduscho voll. »Die brauchen hier jeden Mann und jede Maus. Das wird dir doch auf dem Bau nicht entgangen sein. Unser Werk hat große Pläne. Und was denkst du, wer erfüllt dieses gigantische Wohnungsbauprogramm? Ne, ne, mein Lieber, jetzt erst recht. Und wenn ich selbst mal zu Pfarrer Morawietz fahre. «

Julie spitzte ihre Ohren. Zuletzt blieb ihr der Bissen beinahe im Hals stecken. »Was heißt denn das alles?«, schrie sie, weshalb Norbert sie zur Ordnung rief. Noch konnte es den Anschein haben, es sei allein wegen der Lautstärke. Aber diese Annahme musste für jeden, der sie hörte, im nächsten Moment als Trugschuss gelten.

»Pass auf, dass morgen nicht gleich im ND zu lesen ist, die Fuchses wollen in den Westen.« Wie nur selten flüsterte der Vater diesen Satz, während er sonst die Lautstärke bevorzugt, die Julie benutzt hatte und die man gewöhnlich auch auf dem Bau benötigte.

Julie sprang so heftig vom Stuhl, dass der mit Gepolter auf dem Betonboden aufschlug.

»Das wollt ihr doch nicht wirklich! Jetzt? Oder?«

Lisa rollte mit den Augen und Norbert zog die Schultern an. Einmal musste sie es ja erfahren. Wie hieß das Sprichwort, das die Kumpel auf dem Bau gerne heraus posaunten, wenn es knifflig wurde: Wer Lotto spielt, ist vor dem Gewinn nicht sicher.

Es war für den Moment ungeschickt, aber nach seiner Auffassung dringend nötig. Manchmal war die Staatsgewalt ziemlich fies, was bedeutete, seine speziellen Freunde könnten mit der sofortigen Ausweisung vor der Tür stehen, damit ihnen keine Zeit zur Besinnung blieb.

Auch Norbert und Lisa erhoben sich hilflos. »Kommt rein«, sagte der Vater energisch, aber Julie war nicht auf den Kopf gefallen. »Es stimmt also! Habt ihr sie noch alle? Was wird denn aus mir. Wie soll ich dort mein Abitur machen? Anna-Sofie sagt, die lernen dort ganz andere Dinge … « Sie schnappte nach Luft und beugte sich gefährlich weit über die Brüstung, nur um zu sehen, wie die Eltern auf ihren Leichtsinn reagierten. Als der Vater sie hart bei den Hüften griff und energisch ins Zimmer bugsierte, wurde sie noch lauter: »In Deutsch und Geschichte zum Beispiel. Und die lernen da drüben auch nicht Russisch. Dort muss ich Englisch können, sonst… Ach Scheiße! Was denkt ihr euch dabei.«

Das alles hatten Lisa und Norbert lange erörtert, aber keinen anderen Entschluss fassen können. Jetzt denkt die Mutter: Anna-Sofie weiß das also. Woher denn? Sie schloss rasch die Balkontür. Zu Julie zischte sie dennoch nur verhalten: »Was wir uns dabei denken? Bist du nicht diejenige, die beständig nach den tollen Sachen aus dem Genex-Katalog schielt und unseren Briefen versteckte Hinweise an Elli unterschiebt. Du hast es gut, Tante Elli. Du kannst das tolle …Weißichnicht… kaufen, was ich mir so sehr wünsche. Oder, irre ich da vielleicht?«

»Ja, ich … na ja … aber nicht vor dem Abitur und überhaupt …«

»Überhaupt?« Lisa lief rot an vor Empörung. »Überhaupt!«, schrie auch sie jetzt ihr Kind an. »Was heißt denn: überhaupt?«

Julie schnappte nach Luft, ehe sie wütend mit den Füßen aufstampfte und in gleicher Weise zurückschrie: »Und dort finde ich auch nie mehr eine Freundin wie Anna…«, Im Handumdrehen stand sie im Flur, fischte nach ihren Schuhen und schlug Sekunden später die Wohnungstür hinter sich zu. Zurück blieben zwei verdutzte Eltern, die sich gegenseitig des größten Fehlers bezichtigten, den sie machen konnten. Nicht in der Sache an sich, darin gab es für Lisa kein Zurück. Aber ihre Ungeschicktheit gegenüber der Tochter.

Nach einigem Hin und Her, nach kurzen Schreien und langem Schweigen, nach Wegschauen und nur verstohlen nach dem Anderen schielen, waren sie sich nach Stunden wieder einig. Es war der erste Streit seit Jahren, der ihnen im Nachhinein so unsinnig erschien wie Schnee im Mai.

Inzwischen war es schon dunkel, als sie beide wussten, was zu tun war. Schwerfällig rafften sie sich auf und fuhren in die Stadt. Vermutlich saß Julie bei Anna-Sofie und deren Eltern und heulte sich die Seele aus dem Leib. Und wer weiß, was die Krafts bereits zu unternehmen beschlossen hatten? Diese Art Denunzierung brachte heutzutage Vorteile.

Tatsächlich war bei Familie Kraft noch Licht. Norbert war die Sache mit Julie nur peinlich, noch dazu, dass er sie womöglich den Leuten erklären müsste. Er beabsichtigte, so rasch wie möglich die Angelegenheit zu beenden, Julie zu schnappen und nach Hause zu fahren. Aber Horst Kraft, Annas Vater, bat sie trotz später Stunde lächelnd herein.

Die Wohnung der Krafts lag in einem Altbau unweit ihrer eigenen früheren Wohnung. Sie hatte einen ebenso düsteren Hausflur, wie der in ihrem alten Haus war und den er jeder Tag verflucht hatte. Die gebohnerten Stufen der verwinkelten Treppe ächzten, und Norbert dachte merkwürdig dankbar: Wie gut wir dagegen wohnen. Vom Treppenabsatz aus konnte man durch ein schmales Fenster in den schmutzig-verwinkelten Hinterhof blicken, der mit ein paar Wäschepfählen, den Mülltonnen und dem grauen Beton den besten Platz für einen gruseligen Krimi abgäbe.

Im zweiten Stock, der gefühlt viel höher lag als in einem Neubau, befand sich die Wohnung der Familie Kraft. Wenigstens deren Zimmer waren auf den ersten flüchtigen Blick geräumig; kaum hätte er das in dieser stickigen Enge für möglich gehalten. Nur die Höhe der Zimmer gefiel Norbert Fuchs gar nicht mehr. Damit könnte er sich nicht mehr wohlfühlen, außerdem musste man für wohlige Wärme im Winter auch bedeutend mehr Heizmaterial heranschaffen.

Horst Kraft führte die Eheleute sofort den Flur entlang bis zum Wohnzimmer, das, anders als sein eigenes, fast quadratisch war. Obwohl mit kompaktem Mobiliar ausgestattet, bot es viel Platz für Bewegung. Das Erste, was er sah, stellte alle seine Befürchtungen dieses vermaledeiten Tages infrage.

Offenbar hatte Julie gar kein so großes Problem mit der unverhofften Wahrheit. Jedenfalls saß die Mutter, Petra Kraft, mit den Mädchen Anna und Julie verschwörerisch grinsend am großen Esstisch, wo die Frau gerade ihre Hände erschrocken von den Karten zurückzog, die vor dem freien Platz des Vaters lagen.

Die kleine Schummelei der drei Frauen gegen den Vater interessierte ihn nicht. Auch nicht, wie sich drei Grazien auf Kommando mit schuldlosen Mienen zurücklehnten, als warteten sie nur darauf, dass das Rommee-Spiel weitergehen konnte. Dem Vater fiel die versuchte Schummelei der Frauen überhaupt nicht auf; er spielte beflissen den freundlichen Gastgeber für die unverhofften Besucher.

Julie trug ein fremdes Herrenhemd. Ihre vom Duschen noch feuchten Haare waren zu einer Wulst gerollt und nach oben gebunden, was sie reifer erscheinen ließ als sie war. Auch das erfasste Norbert Fuchs nur beiläufig. Vielmehr sah er, wie seine Tochter erstarrte, bevor sie ihr bitteres Lachen hören ließ und ein Gesicht zog, als könnte sie das Auftauchen ihrer Eltern gar nicht fassen und müsste sich bei den Leuten für sie entschuldigen. So war seine Tochter nun mal, was blieb ihm?

»Hat sie Ihnen Probleme gemacht?« Norbert drehte sich erst zu Horst Kraft um, dann suchten seine Augen Annas Mutter Petra, weil es für Männer offenbar niemals Probleme gibt. Für eine Sekunde dachte er an Einstein und dessen Weisheit: Ein kluger Mann löst sein Problem, ein weiser Mann wird ein Problem vermeiden. Also vermeiden! Aber wie, jetzt noch?

»Nein, wieso denn?«, erwiderte Petra Kraft bereits, dabei war es offensichtlich, wie Julie ihren Kopf schüttelte und mit dieser Geste ihre ganze Verachtung ausdrückte. »Julie kann jederzeit bei uns schlafen, aber es war noch so amüsant…«

Ihr Blick streifte die Uhr über der Tür, als deutete sie auf die Zeit, die für die Mädchen noch akzeptabel war. Allenfalls sollte der Blick nur eine Entschuldigung sein.

»Darum geht es nicht. Wirklich Frau Kraft. Es ist nur…« Beinahe war Lisas Stimme hinter Norbert nur ein Räuspern. Offenbar erkannte Petra Kraft die Not der Mutter sofort. Sie legte die sanfteste Stimme auf, für Norberts Geschmack aber etwas zu überschwänglich:

»Es ist doch schön, dass Sie auf diese Weise einmal zu uns finden. Unsere Beiden sind wirklich wie Latsch und Bommel. Solche Freundschaften findet man nicht oft. Wir halten das auch für sehr wichtig.«

»Wir auch, aber manchmal muss man mit den Mädchen auch Klartext reden«, mischte sich Norbert in die Worte der Frauen ein.

Petra Kraft senkte verständnisvoll ihre Lider. Auch sie hatten, bevor Julie unverhofft aufgekreuzt war, mit Anna ein Gespräch, das ihnen sehr wehgetan hat. Aber das war keine Thema für fremde Leute — oder doch. Eigentlich gerade das. Ein kurzer Blick von Petra Kraft zu ihrem Mann besiegelte sein Einverständnis.

»Wenn Sie noch ein paar Minuten Zeit hätten«, sagte Horst Kraft und man spürte, wie seine Stimme zitterte. »Ja«, unterstützte ihn Petra: »Wir wollen … ich wollte sowieso mit Ihnen reden.«

Sie schwieg abwartend einen Moment, dabei bemerkte sie, wie in Lisa Fuchs' Gesicht die Augen flackerten. Über deren Schulter hinweg sah sie Norbert Fuchs noch immer am Türrahmen gelehnt stehen, als habe er es zu eilig, ihr noch zuzuhören. Die Mädchen allerdings hielten sich bei den Händen, als seien sie in einem Schmerz unlösbar miteinander verbunden. In Lisa Fuchs brannte etwas wie Angst, Julie könnte bei diesen fremden Menschen Beistand gegen ihre eigenen Eltern gefunden haben. Viel mehr noch, sie könnte den Grund des nachmittäglichen Zerwürfnisses zusammenhanglos ausgeplaudert haben. Lisa Fuchs stand felsenfest zu ihrer Entscheidung, diese Welt für immer zu verlassen, daran würde kein Mensch etwas ändern können. Aber was sollte es schaden, jetzt zu erfahren, was Annas Eltern von ihnen wussten oder was sie über ihr Vorhaben dachten. Noch rechtzeitig etwas Verbogenes geradezubiegen, half mitunter.

Fast wie nebenbei hörte sie Petra Kraft sagen: »Es ist nämlich so«, sie schluckte vor Erregung, was Lisa wie auch Norbert gut verstehen konnten. Sie selbst würden einem anderen Menschen niemals zumuten, ihre eigene Meinung über eine Sache als einzig richtig zu betrachten. »Wir haben ganz unverhofft einen Urlaubsplatz buchen können, aber für Anna steht fast zur selben Zeit die lange geplante Fahrt mit der Musikschule nach Moskau an. Darauf will sie nun um keinen Preis verzichten, aber ich habe es partout nicht fertiggebracht, ein solch unverhofftes Angebot auszuschlagen.«

»Was wir außerordentlich betonen möchten«, fügte Horst Kraft hinzu. »Wenn man schon einmal das Privileg hat, einen solchen Platz…«

Das Privileg. Schon wieder. Und wieder geht es um eine Reise.

»Das kann ich verstehen«, fiel ihm Lisa rasch ins Wort. Um Gottes willen, jetzt sollte Norbert nichts Falsches sagen; sie spürte die ganze Zeit sein Unbehagen. Zum Glück lenkte Horst Kraft die Aufmerksamkeit auf sich, als er mit einem Tablett auftauchte, auf dem vier gefüllte Weingläser standen und zwei mit dem seltenen Orangen-Juice, den hierzulande nur die guten Gaststätten anboten, den der Normalbürger im Handel nicht fand. Woher bekamen die Krafts diesen Juice?

Bevor Petra Kraft zu Ende reden konnte, reichte ihr Mann jedem ein Glas, für die Mädchen den Juice, erst dann erhob er sein eigenes und sagte sehr würdevoll: »Dieser Urlaubsplatz ist solch ein Glücksfall für uns, und er kam so unverhofft. Auch deshalb möchten wir mit Ihnen anstoßen.«

Die beiden Männer setzten sich mit ihren Gläsern in die Sessel, die neben einem winzigen runden Tisch standen, während die Frauen bei den Mädchen blieben, die nur zögerlich ihre Hände losließen.

»Nun wollte ich fragen…« Petra Kraft schielte hinüber zu ihrem Mann, der mit Norbert Fuchs über irgendein Problem sprach, das der an der Plattenbauweise ausgemacht hat. Darüber beruhigt, fuhr sie fort. »Ob Anna in der Zwischenzeit — das sind vier oder fünf Tage — bei Ihnen bleiben kann. Mit dem Musiklehrer haben wir schon gesprochen. Für ihn gibt es keine Frage, er würde sich auch um Anna kümmern, aber Anna meinte, sie würde lieber…«

Lisa fiel ein Stein vom Herzen, und die düstere Wolke, die gerade noch über Julies Stimmung hing, verzog sich ebenso rasant. Die beiden Mädchen umarmten sich, ja sie herzten sich beinahe, wie frisch Verliebte. Julie hatte Anna furchtbar gern und Anna hatte Julie in ihrem Wesen so sehr geformt, unbeabsichtigt, aber in einer Weise, wie sie es sich selbst gar nicht vorstellen konnte, wie es aber Julies Eltern dankbar spürten. Manchmal fragte sich Lisa, ob sie die Aufmerksamkeit, die ihre Tochter der Freundin schenkte, noch gutheißen konnte. Annas Eltern hatten mit dieser Mädchenliebe offenbar kein Problem.

»Anna hat hier niemanden, wenn Sie verstehen?«

Norbert Fuchs nickte verstehend, aber Lisa wollte es genauer wissen. Sie selbst hatte ja auch niemanden mehr, aber da gab es schließlich noch Tante Elli…

»Ich bin aus Thüringen«, erwiderte Horst Kraft auf Lisas Frage, und man spürte, wie schwer es ihm fiel, über das Gestern zu reden. »Mein Vater hatte einen kleinen Bauernhof…«

»Einen mittleren, würde ich sagen«, fiel ihm seine Frau ins Wort.

»Kann man sagen. Aber es war in erster Linie ein rückständiger Hof. Und die MTS war auch nicht das, worauf sich der Vater hat stützen wollen. Wie das in Familien manchmal so ist, es gab dann ein Zerwürfnis und wir — Petra und ich — sind dann hierher gekommen. Der Energiebezirk lockte, und er lockte zu Recht. Wir haben jetzt beide eine ganz passable Anstellung und keine Existenzsorgen mehr. Ich war quasi noch mit der Schippe, wie man so sagt, am Aufbau vom Kraftwerk Jänschwalde beteiligt.«

»War…? Ist es denn nun endlich fertig?«

»Du darfst ruhig sagen, dass du dich zum Anlagenwart hochgearbeitet hast«, beeilte sich Petra Kraft zu sagen, weil ihr Mann nickend die Frage der Frau nur zu bestätigen gedachte.

Die Männer prosteten sich zu, die Frauen saßen bei den Mädchen, aber zufrieden mit den Worten von Annas Vater war Lisa noch nicht. »Und Sie sind gerne aus dem schönen Thüringen hierhergekommen?«, wandte sie sich mit gedämpfter Stimme an Petra Kraft. Der stockte für eine Sekunde der Atem. So direkt hatte sie mit einer solchen Frage nicht gerechnet, und sehr gerne gab sie darüber auch keine Auskunft. Das erledigte ihr redseliger Mann Horst.

»Warum sollte sie nicht? Es war ja nicht ihre Heimat. Sie weiß ja nicht einmal, wo sie geboren ist. Sie hat vierzehn Jahre im Kinderheim gelebt und später im Internat. Ich habe sie quasi gerettet.« Der schelmische Blick in Horst Krafts Gesicht entschädigte Petra ein wenig für den kleinen Verrat an ihrem Geheimnis. Dennoch erkannte sie in der Frage von Lisa Fuchs eine verkappte Anspielung.

»Mein Mann hat ja eigentlich noch eine Schwester. Aber die ist Hals über Kopf mit einem Grenzer einer Einheit bei Oelsnitz auf und davon nach Bayern. Wir haben keinen Kontakt, falls Sie das wissen wollen.«

»Nein. Um Gotteswillen. Es geht uns auch gar nichts an, aber es ist gut zu wissen, dass…« Nein, was Lisa Fuchs jetzt sagen wollte, musste sie sich verkneifen. Es waren keine Parallelen zu ihrem Ausreisewunsch. Die Sache lag ganz anders.

Es wurde noch ein angeregter Abend, aber irgendwann befanden Lisa und Norbert Fuchs, ist sei Zeit für den Heimweg. Julie wollte dennoch unbedingt bei Anna bleiben. Unbedingt. Mit dem Trotz ihrer Tochter konnte Lisa inzwischen leben, im Beisein von Anna-Sofie hielt der zumeist nicht lange an. Anna war wirklich ein Schatz. Etwas völlig anderes machte Lisa sprachlos. Wie verträumt wanderten ihre Augen von einem jungen Gesicht zum anderen, dabei war wieder die merkwürdige Angst in ihr, die Krafts könnten ihr das Kind entfremden. Es war so heimelig anzuschauen, wie die Eltern mit den Mädchen spielten, anstatt — wie Norbert — am liebsten vor der Flimmerkisten zu sitzen, zumeist bis tief in die Nacht, um auch noch den Ochsenkopf zu empfangen. Man musste sich schließlich informieren über das Land, in das man zu gehen beabsichtigte.

Nach ihrem Entschluss zum Aufbruch erhob sich Petra Kraft zaudernd, stellte die Gläser auf das Tablett, das am Türrahmen lehnte und schielte schuldbewusst nach den Karten, die noch auf dem Tisch liegengeblieben waren. Julie half Annas Mutter demonstrativ, die Gläser zur Küche zu tragen, was deren Mutter Lisa einen winzigen Stich in die Herzgegend versetzte. Zu Hause wäre Julie so etwas niemals eingefallen. Der Umgang mit Anna tat Julie sehr gut, das musste sich Lisa Fuchs heimlich eingestehen.

Ohne ihre Tochter liefen sie den Weg bis zu ihrem Wohngebiet fast schweigend durch die milde Nacht, weil keine Bahnen mehr fuhren. Irgendwo hinter der Spree, inspiriert vom Fassadenschild der Apotheke im wunderschönen Eckhaus, wurde Lisa klar, dass sie Petra Kraft vergessen hatte, nach dem konkreten Ziel und dem Termin ihres Urlaubs zu fragen, aber das würde sich schließlich rasch klären lassen. Etwas ganz anderes ging ihr durch den Kopf, etwas Prinzipielles. Doch das war eine noch schmerzlichere Erkenntnis, als ihre Einsicht über Julie.

Todesflug Schicksal

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