Читать книгу Todesflug Schicksal - Maxi Hill - Страница 6

DIE STEWARDESS

Оглавление

Es ist Sonntag, der 13. August 1972. Über das Pflaster des Gehweges holpert ein Rollen-Koffer. Kurz nach Anbruch der Dunkelheit erreicht die Stewardess Christa ihr bescheidenes Zuhause unweit der Treskow-Brücke. Der Tag war lang und ermüdend. Mit Heinz, dem Kapitän, zu fliegen, macht ihr zwar immer Spaß, aber diese Distanzen gehen an die Substanz. Heute ging die Route von Berlin über Tunis bis Brazzaville, diesem Latrinen-Airport, wie sie ihn nennen, weil das schäbige Häuschen mitten im Nichts mit zerschlissenen Polstern im engen Wartebereich so gar nicht an einen Flughafen erinnert. Dort im Nichts dann der Wechsel der Crew, weil neun Flugstunden nicht überschritten werden dürfen. Noch schlimmer ist dann das Warten auf den Rückflug, der von Luanda kommenden IL62, die zumeist als bessere Cargo fliegt. Heute kam sie mit nur wenig Verspätung, und es war von Vorteil, dass kaum Passagiere in der Maschine saßen, auch wenn ein paar wichtige darunter waren. Ein Mann von der SWAPO, der nationalen Befreiungsbewegung von Namibia. Ein anderer von der Regierung in Berlin, der den Swapo-Mann und seine kleine Schutztruppe begleitete.

Sie hatte es Gabi erklären müssen, was es mit dieser Befreiungsbewegung auf sich hat und wie die Welt sich kriegerisch um das südliche Afrika bemüht. Kämpfender Gegner der namibischen Befreiungsbewegung ist Südafrika, das von den Amis gepuscht und beraten wird. Die Gegenseite, dazu gehört auch die Regierungsarmee der MPLA von Angola, wird mit allen militärischen Mitteln von Kuba unterstütz, flankiert von russischen Militär-Beratern und zivilen Kooperanten aus dem sozialistischen Weltlager. Gabi hat das alles nicht wirklich verstanden, nur dass es um politischen Einfluss und nicht zuletzt um den Reichtum an Bodenschätzen in dieser Region geht. Letzteres leuchtete ihr offenbar ein.

Der Moment, an den Christa jetzt denkt, stülpt sich schwer auf ihr Gemüt. Warum? Warum heute. Sie fliegt die Route sehr oft, aber diese Gedanken, wie sie sie an diesem Tage hatte und die sie noch immer nicht ad acta legen kann, sind nicht geeignet, ihren momentanen Zustand zu verbessern.

In jenem Augenblick, wo die beinahe leere IL62 über der Atlantik-Küste drehte und östlich einbog, spürte sie etwas, was sie nur selten so stark und so ergreifend empfunden hatte, egal, wohin sie ihr Weg führte.

Zum Glück zuckten unzählige Blitze über dem Regenwald am Kongo und lenkten die Aufmerksamkeit von Gabi ab, die ihr auf Schritt und Tritt folgte, um möglichst viel von ihr zu lernen.

Im Cockpit hatte man fasten your seat belt aktiviert, weil sich die üblichen Turbulenzen ankündigten, wie stets auf diesen Koordinaten. Die Maschine war bereits auf dem Sinkflug. Das vereint anmutende Häusermeer von Kinshasa und Brazzaville rechts und links des breiten Flusses ist in Wahrheit das Pendant zum geteilten Berlin. Von oben sah alles friedlich aus, verschmolzen und ohne blutbesudelte Grenzen. Das gute Gefühl von Freiheit gegen die Zwänge, das nur über den Wolken geboren wird, verlor sich in neuen trüben Gedanken über die Welt und ihre Kreaturen. Welche Kreatur auf dieser Welt braucht Grenzen? Nur der Mensch mit seinen diversen Philosophien glaubt, seine sei die wahre. Auch im Staatsdenken, in dem er seinen Frieden verteidigt, begreift man nicht, wie Staatsmacht und Krieg einander bedingen. Es geht immer um Kriege zwischen Götterglauben oder Staaten, oder Kriege um die Macht im Staate. Wann wird der Mensch lernen, den Menschen zu achten?

Sie musste sich losreißen von diesem Zwiespalt, der in sie gefahren war. Im Flieger saßen auch ein paar deutsche Fischer, die vor der Westküste Afrikas auf russischen Schiffen angeheuert haben. Und es flogen auch zwei Kooperanten mit, die in der angolanischen Exklave Cabinda fossile Brennstoffe fördern, wie sie sagten. Ihr war schnell klar gewesen, dass es bei deren Einsatz um Aufsicht oder Einfluss geht. Ob für Kohle oder Öl, das ließen sie lächelnd ungesagt.

Vielleicht sind es sogar Diamanten, denkt sie sich jetzt, solange sie sich mit ihrem müden Körper die steile Holztreppe im Hinterhaus hinauf plagt. Ihre Beine haben kaum noch genügend Kraft. Zu mehr Kopfarbeit ist sie ebenso nicht in der Lage. Zum Glück konnte sie auf dem Rückflug in der Maschine ein wenig schlafen, aber gutgetan hat ihr das nicht.

Sie stellt ihren Koffer in den engen Flur und spürt ein Frösteln über der Haut. Bei diesen Temperaturen völlig absurd, das weiß sie. Die Chefstewardess hatte schon in der Maschine gemerkt, dass sie Fieber hat, und sie war besorgt. Aber sie selbst hat es vehement verdrängt.

Bereits unter der Dusche stehend, ist sie sicher: Sie hat Fieber. Warum sonst sollte sie unter der Dusche frieren, ja sich beinahe schütteln vor frostigem Unbehagen. Noch niemals hatte sie mitten im Sommer nach ihrem Dienst — und dazu noch nachts — Verlangen nach einem Kamillentee. Heute erscheint er ihr fast unabdingbar, wenn auch wenig erstrebenswert.

Dennoch ist die Hoffnung in ihr, bis morgen am Mittag durch erholsamen Schlaf wieder auf dem Damm zu sein. Ihr nächster Flug geht erst um 16.30 Uhr nach Burgas ans Schwarze Meer.

Zwanzig Minuten später, auf ihrem Bett sitzend, pustet sie in die heiße Teetasse mit goldrotem Rooibus-Tee aus Südafrika. Nach Kamille stand ihr dann doch nicht der Sinn. Echter Rooibus wächst nur an der Westküste zwischen Südafrika und Namibia. Sie hat das Privileg, ihn zu kennen, wie nur wenige Menschen hierzulande. Und sie hat das Privileg, mit harter Valuta in Kontakt zu kommen. Sie beugt sich nach vorn. In der Tasse erkennt sie ihr Spiegelbild, verzerrt, aber eindeutig die Silhouette ihrer Kurzhaarfrisur, die noch immer vom Toupieren aufgebauscht ist. Zum Waschen des Haares hatte sie keine Kraft mehr. Momentan fühlte sie sich nicht in der Lage, auch noch zu föhnen und zu frisieren. Sie besitzt einen tollen Fön von Siemens, den man hierzulande Luftdusche nennt. Nicht zum ersten Mal wird ihr bewusst, wie sich die deutsche Sprache ebenso entfremdet wie die deutschen Menschen.

Sie schließt die Augen und genießt es, wie der heiße Tee ihren entzündeten Rachen umspült.

Auf den Urlaubsflügen trifft man inzwischen viele Touristen aus Westberlin, bisweilen auch aus der Bundesrepublik. Die INTERFLUG hatte vor einiger Zeit eine Aktion gestartet, freilich, um Devisen zu erwirtschaften, wer könnte ihr das bei dem wachsenden Ansehen der DDR noch verdenken? In der Werbebroschüre aus Hochglanzpapier umgarnt man die künftigen Partner, denen man vollstes Vertrauen schenken könne. Sie weiß natürlich auch darüber Bescheid: Im Westen gelten die IATA-Tarife, während die Preise bei der INTERFLUG durch die Lohnunterschiede bedeutend geringer ausfallen. Einen Langzeittrip nach Bagdad bekommt man hier fast eintausend Mark billiger. Einen Inlandflug immerhin für beinahe einhundert. Was wundern da die Eifersüchteleien von Bürgermeister Albertz, der bei seinen Westberliner Bürgern an Takt und Gefühl appelliert hat, einen neu geschaffenen Reiseweg n i c h t zu benutzen, da dieser nur im wirtschaftlichen Interesse der Zone liegt. Eine westdeutsche Zeitung bescheinigte dem Flugplatz Schönefeld unlängst sogar unansehnliche Gebäude und uralte Vorfeld-Busse auf überaus holprigen Pisten. Was würden dieselben Leute wohl über Brazzaville denken?

Das westdeutsche Lamento ärgert die meisten der dreitausend Beschäftigten des staatlichen Unternehmens INTERFLUG, das mit nur 24 Maschinen im Weltmaßstab ein sehr kleines, aber beständig wachsendes ist. Man tröstet sich an anderen Partnern, wie der SAS Stockholm. Ihr Sprecher schrieb unlängst, er finde die Flugplatzverhältnisse sehr zufriedenstellend: Wir würden sonst nicht dorthin fliegen.

Ihr ist übel. Die Glieder zittern und sie kann das Glas kaum noch in ihren Händen halten. Sie sollte ihre Gedanken abschalten und endlich schlafen. Morgen muss sie fit sein. Und das wird sie auch, schließlich macht die Arbeit Spaß, es war ja ihr Traumberuf. So manches Mädchen würde alles dafür geben, an der Betriebsschule der INTERFLUG studieren zu dürfen und dann ganz automatisch angestellt zu werden.

Noch ehe sie in den heilenden Schaf fällt, kommen wie stets die Bilder für den nächsten Tag.

Morgen wird Heinz, der Kapitän, seinen letzten Flug absolvieren, und den will sie nicht verpassen. Für den Abend in Burgas hat sich die Crew etwas ausgedacht, um Heinz für die wertvollen Jahre der Zusammenarbeit zu danken. Er gehört zu den am meisten geachteten, sehr erfahrenen Piloten, ist immer menschlich und dennoch sehr korrekt. Wer wird ihn wohl ablösen? Heinz fliegt die Maschine seit ihrer Einführung und kann auf über achttausend Flugstunden verweisen. Wohin man den erst 51-Jährigen beordert hat, weiß sie nicht, vermutet aber eine Ausbilderstelle, wie sie die Frau von Navigator Achim auch inne hat. Auch Copilot Lothar und Achim sagen, sie wissen nicht, was Heinz künftig machen wird.

Mit Achim hatte sie erst unlängst ziemlich vertraut geredet und war betroffen von dem, was er mehr angedeutet hat als ausgesprochen. Diese Art von Gesprächsführung ist ihr nicht neu. Kaum einer redet gern vor Kollegen über Unglücke, und an eines von vor neun Jahren kann sie sich ohnehin nicht erinnern. Auch Ingolf, der Flugingenieur, kennt weder das genaue Datum aus 1963, noch den Unglücksort Königsbrück. Zu dieser Zeit war er — wie sie auch — noch gar nicht dabei. Sie weiß es jetzt, es war am 7. Dezember '63, als es wegen eines totalen Stromausfalls eine Bruchlandung mit einer Il14 gab. Der Pilot entschied sich zu einer Notlandung auf dem Truppenübungsplatz Königsbrück. Das Fahrwerk war blockiert und die Maschine nach dem Notfall nicht mehr tauglich. Für die Rettung der Passagiere waren die Soldaten der dort stationierten Roten Armee sofort zur Hilfe geeilt. Alle 28 Passagiere und die fünf Crew-Mitglieder blieben unverletzt.

Sie hatte Achim Minutenlang angestarrt, und dann fassungslos umarmt, das erste Mal, dass sie eine solche Vertrautheit übermannt hatte. Jeder ist ehrlich froh, wenn es keinen Kollegen erwischt. Sie haben sich dann beide Hals- und Beinbruch gewünscht für die Zukunft, deren Gefahren sie zu teilen haben.

Die letzten Gedanken erreichen Christas Bewusstsein nur noch verschwommen: Die INTERFLUG hat wirklich … gut ausgebildete Leute … umsichtig und verantwortungsvoll.

In der Tasse auf dem kleinen Schränkchen kühlt der letzte Rest des Rooibus aus. Der dunkelhaarige Kopf der erschöpften jungen Frau liegt fiebrig atmend auf dem Kissen, aber die Welt um sie herum wird still und friedlich.

Etwas lässt sie empfindlich zusammenzucken. Sie ist gefallen, sehr tief sogar, was ihre Sinne jetzt narrt. Ein Absturz? Ein Traum nur, nichts weiter. Also hat sie doch recht schnell in den Schlaf gefunden. Aber der Traum war so heftig, dass sich ihr Herz fast überschlägt. Sie setzt sich auf und knippst die Lampe an. Ihr Kopf hämmert noch mehr als am späten Abend. Das macht sie einerseits wütend, andererseits ist sie viel zu schwach, um an Aufstehen zu denken, geschweige an Arbeit, wo sie ständig lächeln und möglichst leichtfüßig sein muss. Sie muss gleich in der Frühe irgendwo anrufen gehen. Die Crew braucht Ersatz für sie. So kann sie nicht nach Burgas fliegen, auch wenn es ihr tausendmal leid tut. Die Chefin Marlis findet einen Weg, sie zu ersetzen.

Todesflug Schicksal

Подняться наверх