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EIN UNHEIL KOMMT SELTEN ALLEIN
ОглавлениеSieben Monate vor diesem ersten zivilen Flugzeugunglück auf dem Boden der DDR mit einem so verheerenden Ausmaß an Todesfällen entscheiden sich Schicksale, vollziehen sich Wendungen für Menschen im Land, die ganz unerwartet das Leben in eine andere Bahn lenken. Da ist die siebzehnjährige Anna-Sofie, die unsäglich leidet. Da ist deren Freundin Julie, die an sich selbst wächst, und es sind Julies Eltern Lisa und Norbert Fuchs, die eine Verantwortung fühlen, die ihre Pläne durchkreuzt.
LISA FUCHS
Die Textilarbeiterin Lisa Fuchs fühlte sofort, dass sie bei dieser Zusammenkunft im Kombinats-Speiseraum fehl am Platz war. Deshalb suchte sie gar nicht erst nach einem freien Stuhl, blieb in der Nähe der Tür stehen und hoffte auf einen günstigen Moment, um einfach zu gehen. Der Gewerkschaftsvorsitzende Günther Rauch stand seit geraumer Zeit vorn auf dem Podest und redete wie üblich über Dinge, die für keine der Frauen neu waren.
»Alle reden vom Aufholen. Genossen! Kollegen! Ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Wir haben den Klassenfeind bereits überholt. Alle Welt — auch die kapitalistische — schaut auf unsere Achtfachbedienung. Und darauf, Kollegen, könnt Ihr stolz sein! Weltweit in der Textilindustrie wird an Großrundstrickmaschinen fünffach bedient. Ich bin stolz auf eure Leistungsbereitschaft, und die zahlt sich heute mal wieder aus …«
Lisa Fuchs stieß ihre Fäuste in die Kitteltaschen der bunten Nylonschürze. Das Blut rauschte in ihren Ohren, sie konnte die Worte von Günther nicht mehr hören. Sie war nie in der Gewerkschaft, weil sie meinte, das sei keine wahre Interessenvertretung, das sei nur der verlängerte Arm der Partei, um die Leute liniengetreu zu noch höheren Leistungen anzustacheln. Dagegen half auch nicht, dass sie Günther aus ihrem alten Werk sehr gut kannte und damals noch leidlich leiden mochte.
Seit drei Jahren arbeitete sie nun hier in dem Kombinat, das mehrere Tausend Menschen in Lohn und Brot hielt. Ab April 1969 hatte sie sich umschulen lassen von der Weberin zur Strickerin. Sie arbeitete gerne, aber das ganze Drum und Dran mochte sie nicht. Diese Lobhudelei. Diese Verklärung. Dieses Verschweigen. Sie wusste es! Sie wusste es aus erster Hand. Diese Maschinen, auf die der Sozialismus so stolz ist, wurden aus dem Westen importiert. Das durfte nur niemand wissen. Und die es wussten, die durften es nicht sagen.
Lisa stieß angestaute Luft aus der Lunge, was ihr einen sanften Rempler von Kollegin Nina einbrachte.
Na ja, das hat sich hoffentlich alles bald für mich erledigt. Inzwischen hatte Lisa auch ihren Mann Norbert davon überzeugt, dass Tante Ellis Wunsch das Beste für sie sei. Vorläufig sollte ihre Tochter Julie noch nichts von den heimlichen Plänen ihrer Eltern wissen. Noch nicht. Es war zu gefährlich. Junge Menschen sind mit ihren Worten sehr schnell und unüberlegt. Man konnte keinem trauen.
Auf dem Weg von der Versammlung zurück zur Produktionshalle wurde ihr klar, was sie in ihrem Grübeln verpasst hatte. Die jungen Kolleginnen aus ihrer Schicht, Elke und Greta, schienen sehr enttäuscht zu sein. Sie redeten davon, dass sie wohl niemals einen der Urlaubsplätze bekommen würden, solange sie ledig seien. Aber heiraten sei deswegen noch lange keine Option. Also war es dem Gewerkschaftsvorsitzenden mal wieder um die Erklärung gegangen, die für kaum einen nachvollziehbar war. Wie jedes Jahr wurden die Entscheidungen der Vergabekommission zu den jährlichen Urlaubsplätzen öffentlich verkündet, um Gerechtigkeit zu demonstrieren. Das war auch der Grund, warum jeder dabei sein musste. Sie hätte getrost weiterarbeiten können; sie hatte wohlüberlegt gar keinen Platz beantragt. Von der Gewerkschaft bekam sie sowieso keinen zugewiesen und einen betriebseigenen konnte sie sich wegen ihrer politischen Haltung auch abschminken. Was blieb also?
Ein feiner Zug von Ironie legte sich über ihre Lippen: Wozu pflegt man all die Jahre gute Beziehungen dank Tante Elli. Eine Schachtel Penatencreme und dieses Mal zusätzlich ein Päckchen Eduscho hatten gereicht. In diesem Sommer wird sie sich also am Schwarzen Meer aalen, in die Sonne blinzeln, die Füße in den heißen Goldstrand stecken und sich im Hotel so richtig verwöhnen lassen.
Sogar Julie freute sich darauf, die für alles, was ohne ihre Freundin Anna-Sofie passierte, nur noch schwer zu begeistern war. Es würde ihr erster Flug im Leben und gleich mit einer so modernen Maschine wie der IL 62 von der INTERFLUG, die erst vor zwei Jahren in den Dienst gestellt worden war. Die Il62 ist nicht zu vergleichen mit den Klapperkisten von Tupolew. Zum Glück wusste Julie nichts davon, dass es nicht nur ihre erste, vielleicht auch die letzte Reise mit einer Iljuschin62 sein könnte. Vielleicht fliegen wir in Zukunft nur noch mit einer Boeing.
Falls sie im nächsten Jahr noch hier sein müssten, wäre zur Belohnung für das bestandene Abitur immerhin wieder eine größere Reise zu planen. Aber wohin? Die Welt ist zu groß für ihre Möglichkeiten. In diesem Land mit seinen Fünf-Jahr-Plänen kann man nicht einmal eine Reise für dasselbe Jahr verlässlich planen.
Wenn ihr heimlicher Plan aufging, könnte es sogar mit dem Abitur von Julie schwierig werden. So gesehen hätten sie in der Tat lieber noch die nötige Geduld aufbringen wollen. Aber da kam die Angst ins Spiel, die sie ohne Tante Elli ganz sicher nicht gehabt hätten. Wartet nicht zu lange. Eure Staatsgewalt trägt diesen Namen zu Recht, mein Kind. Denke daran, wie schnell es mit der Mauer gegangen ist.
Seit einiger Zeit konnte Lisa den Worten von Elli glauben. Sobald ihr Antrag gestellt sei, sollte es möglichst schnell gehen, anderenfalls würden sie alle drei Spießruten laufen. Auch Norbert und Julie. Das wusste sie von einer Familie, die wahrlich allen Grund hatte, ihre Zelte in diesem behüteten Land abzubrechen, aber die letztlich aufgegeben hatte, aus Angst wie aus Frust.
Erst einmal den August ansteuern, dann sehen wir weiter. Lisa Fuchs machte eine abrupte Drehung und schaltete die Maschinen ein. Das Surren und Rattern war seit jeher ihre Musik des Tages. Dennoch konnte sie so herrlich dabei grübeln. Zu Hause kam sie nicht dazu. Zu Hause fuhr sie brav die zweite Schicht; auf ihren Mann Norbert konnte sie nicht bauen. Er kam nie pünktlich von seiner Schicht und war obendrein stets erschöpft wie ein Hirsch zur Brunft während ihr das Putzen, Kochen, Waschen und Einkaufen blieb und ein bisschen wollte sie schließlich noch stricken und nähen, damit dieFamilie modern genug gekleidet war. An das Los der arbeitenden Hausfrau war sie gewöhnt, und was das Nähen und Stricken betraf: Alles konnte Tante Elli nicht aus Hamburg schicken, und den Geschmack der Jugend traf selbst sie als Mutter nicht mehr so genau. Wer von den älteren kannte je die Vorstellungen der Jugend von modern ganz genau. Aber sie tolerierte Julies Wünsche. Anders zu sein war von jeher das Privileg der Jugend. Auch sie hatte sich ihren Geschmack und ihre Meinung über die Dinge des Lebens nicht nehmen lassen.
Wie lange war das her? Da gab es einmal ein Mädchen, fleißig, willig und immer folgsam. Fleißig und willig war Lisa Fuchs noch immer, aber längst nicht mehr an jeder Stelle ihres Daseins. Was war nicht alles geschehen? Unglaublich, wie ein einziger Umstand einen Menschen umkrempeln konnte. Fast wäre sie eine brave Staatsbürgerin geworden, eine mit mehr Gemeinschaftssinn als mit Egoismus gewappnet. Eine mit Opferbereitschaft und Patriotismus. Eine die glaubte, es dürfe gar nicht anders sein, als es ist. Eine, die frei war von Ausbeutung.
Und was war jetzt? Eine merkwürdige Freiheit war das. Nicht einmal die eigene Verwandtschaft durfte man besuchen! Nicht einmal seine ehrliche Sorge darf man irgendwo hören lassen! Und die hohe Norm der Achtfachbedienung? War sie anders als die gescholtene Ausbeutung? Tante Elli nannte es Ausbeutung für den Sieg eures Sozialismus. Hier hieß es: Leistungssteigerung für unser aller Wohl?
Rasch drehte sie sich auf den Hacken um und rannte zur nächsten Maschine, weil dort der Fadenlauf nicht mehr stimmte.
Es war ohnehin sinnlos, über die Maximen des Systems nachzudenken, wenn man diesem bald den Rücken kehren durfte. Immer, wenn ihre Gedanken beim Thema Ausreise verweilten, hörte sie die Maschinen nicht mehr. Es war ihr, als höre sie nur noch Julie und ihr Flehen, sie nicht von Anna-Sofie wegzureißen, was sie bei jeder Gelegenheit zu hören bekamen. Die beiden Mädchen waren wie Pech und Schwefel, und lange Zeit war genau darüber auch Mutter Lisa in großer Freude. Julie war kein Kind, das von anderen besonders geliebt wurde. Sie war mit einer Hasenscharte geboren worden. Zwar hatten sie die notwendige Operation beizeiten durchführen lassen und es war bald nur noch ein roter Strich zwischen Nase und Lippe erkennbar, aber die Kinder in der Krippe hatten sie noch anders kennen gelernt und waren nicht zimperlich mit ihrer Ablehnung. Beinahe hätte Lisa ihre Arbeitsstelle aufgegeben, um ihr Kind zu Hause zu betreuen, aber das sei auch keine Option, hatte Norbert gesagt. Ohne Geld lebe es sich nicht gut, und wenn man dem Kind aus Geldnot auch noch die schönen Dinge des Lebens vorenthalten müsse, leide man selbst mit.
Julie hatte vermutlich wegen der allgemeinen Ablehnung ihren Trotzkopf ausgebildet. Kein Wunder, dass sie kaum Freunde hatte und sich auch später nicht gut mit jemandem vertragen konnte. Sie war bisweilen derart bockig und zänkisch gewesen, als wollte sie es den anderen Kindern heimzahlen. Erst durch die Freundschaft mit Anna Kraft änderte sich das. Von ihr wurde Julie offenbar gemocht und seitdem war sie gefügiger geworden. Vermutlich war das mit den beiden Mädchen ein Schlüssel-Schloss-Prinzip. Was die eine nicht hat, hat die andere.
Es wird weh tun, eines unverhofften Tages den Schlüssel endgültig vom Schloss ziehen zu müssen.
Auf einmal war wieder Angst in Lisa. Sie zeigte sie nie, aber tief in ihrer Brust war das Gefühl von Verrat, von Egoismus, von Despotismus — das alles waren Eigenschaften, die sie zutiefst verachtete, weil sie sich denen seit Jahren selbst ausgeliefert fühlte.
Ohne es zu merken, stampften ihre Füße härter auf: Man muss ein schöner Idiot sein, wenn man nicht begreift, wie lange das hier noch gutgeht. Man muss auch an die Nachkommen denken. Irgendwann wird es Julie begreifen, dass der Schritt ihrer Eltern nötig und richtig war. In diesem, für sie noch fernen Land, wo alle Freiheiten herrschen, wo jedem die Welt offen steht, zählt nur Fleiß und Talent. Kein Parteibuch. Nicht einmal die Gesinnung, sagte Tante Elli.
Tante Elli hatte viel erlebt im Leben und würde es besser wissen als alle anderen. Sie hatte viel gearbeitet auf ihrem Gut, hatte einige Leute in Brot und Lohn gehabt. Sie hat den Krieg erlebt, erst die Braunen und später die Roten. Aber es sei kein Unterschied gewesen, jedenfalls nach 1960 nicht mehr. Nach dem Beschluss zur Zwangskollektivierung hatten sie täglich vor ihrem Tor gestanden und sie beschimpft und genötigt. Und dann haben sie sie enteignet, weil Junkerland in Bauernhand gehörte.
Freilich, eine Bäuerin war Elli nie, aber sie konnte gut organisieren und arrangieren. Also hatte sie auch arrangiert, dass das zarte Fleisch ihrer Rinder harte Devisen einbringen sollte. Wer sie verpfiffen hatte, blieb ewig unter dem Deckel der Verschwiegenheit. Aber ab dem Moment gehörte ihr Hof und alles, was er einbrachte, einer Genossenschaft, die Landarbeiter inbegriffen. In ihrem Altersstolz hatte sie es noch rechtzeitig vor dem Mauerbau geschafft, die Seiten zu wechseln. Und inzwischen ging ed ihr in Hamburg so gut, dass sie sogar an die armen Verwandten in der Zone denken konnte und mit ihren Zuwendungen nicht kleinlich war.
Wie eine Degenklinge fuhr es durch Lisas Herz. Ihr Entschluss würde andere Konsequenzen haben, als der von Tante Elli. Die Tante kam hin und wieder zurück und schaute auf ihr altes Gut, wenn auch mit Entsetzen. Sie, Lisa, würde nie mehr zurückkommen dürfen. Nie mehr.
NORBERT FUCHS
Sie hatte gewartet. Mit bangem Herzen. Wer untätig ist, leidet viel mehr. Die Tür ging auf und Lisa Fuchs blickte in ein Gesicht, das sie erschreckte. Nicht weil sie erwartet hatte, dass Norbert mit wehenden Fahnen zurück kommen würde. Dass es schwer werden würde, hatten beide geahnt. Aber dieser Blick gehörte nicht zu Norbert. Sie kannte ihren Mann zu gut. Er war ein optimistischer, fast allzu heiterer Typ, wie man Bauarbeiter kennt. Immer zu einem Scherz aufgelegt, zum kleinen Schabernack oder Übermut. Nie war sein Blick so fremd, feindselig beinahe. Dieser Gegensatz erschütterte Lisa, und sie machte sich große Vorwürfe. Das müsste sie gar nicht, immerhin war er es gewesen, der die Sache unbedingt allein durchziehen wollte. Mit ihrer offenen Opposition würde sie alles nur noch schwieriger machen.
Norbert Fuchs trat ins Wohnzimmer, das in seiner Schlichtheit seit ihrem Umzug in dieses neue Wohngebiet beiden Eheleuten genügte. An der schmalen Seite stand dieselbe Schrankwand, die schon ihre alte Wohnung in der Karlstraße zierte. Die schmalen Metall-Leitern rechts und links der Korpus-Teile galten als modern und sie gefielen beiden sogar. Sie dienten als Aufhängung für die prunklosen Kästen aus furniertem Pressholz, die mal mit Türen versehen, mal offen waren. Links neben der Zimmertür stand die Couch, die schon bessere Jahre gesehen hatte, gegenüber vor der Balkontür hatten sie die zwei Sessel mit Holzfüßen und grobem Bezug platziert. Warum sollten sie noch viel Geld ausgeben? Auch ihre Mitgliedschaft in der Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaft, hatte sich hoffentlich bald erledigt, wie alles andere auch.
Einzig den Fernseher hatten sie neu angeschafft. Man musste ja wissen, was in der Welt passierte. Ihr erstes Modell hätte vermutlich die verbotenen Sender nicht empfangen können. Vermutlich. So genau wusste es niemand, weil man in diesem Falle keinen danach befragen konnte. Keinen.
Norbert Fuchs sah sofort, wie ruhelos Lisa dasaß, ihre Strickerei im Schoß, und wie sie ungeduldig mit dem Fuß wippte. Er setzte sich auf die Lehne, als habe er es eilig, gleich wieder aufzustehen. Sein Schweigen ließ nichts Gutes hoffen, was Lisa offenbar längst erkannt hatte. Wie könnte er ihre Worte anders verstehen?
»Hoffnung ist wie das Morgenrot«, sagte sie leise, gerade so laut, dass Norbert es noch hören konnte. Er legte dankbar seine Hand auf ihre und dachte bei sich: Es sind nur Worte, die aus der heilen Welt gefischt, herbei geflattert kommen, aber den Gegenwind nicht bedenken.
Und den Gegenwind hatte er heute zu spüren bekommen. Er wollte ihr von seiner Erfahrung bei der Behörde erzählen, aber nicht jedes Detail und schon gar nicht die Erniedrigung, die er schmerzlich gespürt hatte. Konnte man das begreifen?
Unter seiner warmen Hand spürte er Lisas Haut erzittern, wie von einem Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war. Hoffnung, dachte er. Ja, Hoffnung war das Einzige, was ihnen blieb. Seine stets feste Zuversicht war heute verschüttet worden. Bisher war ihm die Sache nicht wirklich so viel wert, wie sie Lisa wert war. Aber seit heute wusste er, dass jetzt auch für ihn etwas Neues begann — sein Kampf, um das Ziel zu erreichen. Sein Ziel lautete zwar nicht Tante Elli in Hamburg. Sein Ziel war, wie es der Wittichenauer Pfarrer Morawietz nannte, sein Menschenrecht auf Selbstbestimmung. Er schämte sich seiner Niederlage vor dem arroganten Amtsschimmel nicht im Geringsten. Er verfluchte zum ersten Mal aus vollem Herzen die Politik, die Partei, und nun besonders den Sicherheitsapparat, für den er bislang nur Häme empfand. »Ein zahnloser Löwe mit gestutzten Krallen«, so hatte er bei seinen Kumpels gerne getönt, wenn er zwischen Mörtel und Betonplatten, zwischen Verbundarbeiten und Dämmungen einen Grund dafür fand. Der bestand zumeist dann, wenn jemand schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Und die hatte jeder, der so manches nicht begreifen konnte. Nun sollte er die scharfen Krallen zu spüren bekommen, und er würde sie wohl oder übel aushalten müssen.
Zu Lisa sagte er: »Schnucke, wir müssen zuversichtlich bleiben. Warum sollte man einen Bauarbeiter und eine Strickerin mit allen Mitteln aufhalten wollen?«
Aber dann wurde er konkret: Nach einem beharrlichen Schlagabtausch, bei dem er gar nicht so schlecht ausgesehen hatte, habe das behördliche Argument im Raum gestanden: »Ihre Tochter geht doch auf die EOS? Was glauben Sie, wer einem Bauarbeiter und einer Strickerin im Westen die höhere Schule so ohne weiteres ermöglicht hätte. Kostenfrei, wohlgemerkt. Wir tun alles für das Wohl der Arbeiterklasse. Das scheint Ihnen gar nicht bewusst zu sein. Manchmal wünsche ich, Ihnen und Ihresgleichen könnten die sozialen Vorzüge einfach gestrichen werden. Freie Medikamente. Fast kostenloser Nahverkehr. Und was glauben Sie, zahlt man drüben für ein Brot und für einen Zentner Kartoffeln. Von Milch und Mehl ganz zu schweigen. Und die niedrigen Mieten? Sie wohnen doch im modernsten Neubau unserer Stadt. Keine 80 Mark. Oder? Werden Sie drüben die 600 Mark im Monat überhaupt aufbringen können?«
Es hätte nichts gebracht, mit dem Mann über die materiellen Dinge zu reden, die er und Lisa genau durchdacht haben. Noch weniger sinnvoll war es, ihn oder irgendjemand von der Obrigkeit spüren zu lassen, dass sogar Tante Elli die »soziale Seite« der DDR lobte, aber zugleich in ihrer Wirkung für das große Ganze sehr skeptisch sah. Also war er bei der ideellen Seite geblieben: »Vielleicht will unser Kind ja einmal mehr von der Welt sehen als…« Das hatte er sehr vorsichtig gesagt. Genauer darüber zu reden, was er von den Reisebeschränkungen hielt, hatte er sich nicht getraut, ohne gründlich über jedes einzelne Wort nachdenken zu können. Was gab es auch noch nachzudenken? Die Welt würde sich nicht ändern, es würden immer verschiedene Systeme nebeneinander existieren, die sich feind sind. Sie wären also immer in diesem einen System gefangen.
»Selbst wenn man jedes Jahr ans Schwarze Meer könnte… Die Welt ist groß und bunt. Warum vorenthält man uns das Reisen?«
»Wieso das Reisen? Wann waren Sie zuletzt am Schwarzen Meer«, hatte ihn das errötende Gesicht gefragt, bis es sich mit einem Schlag verändert hatte, als gäbe es eine rettende Idee.
»Noch nie. Dieses Jahr das erste Mal. Wir arbeiten beide in der Produktion, da stünde uns … «
Sichtlich erleichtert setzte der Mann seinen Kugelschreiber hörbar hart auf das Papier und kritzelte etwas auf den Rand eines winzigen Zettels, der am oberen Ende seines Blockes geklebt hatte und nun auf einem gelben Ordner landete. Er schaute von unten über den Brillenrand und spitzte seine Lippen: »Und warum setzen Sie dieses Privileg jetzt aufs Spiel?«
Dieses Privileg? Genau das hatte er gesagt. Konnte man das glauben!
Norbert Fuchs schwieg nach seiner Schilderung der Lage lange. Seine Frau Lisa schien zu grübeln, wie sie immer grübelte, wenn sie glaubte, dass es noch einen anderen Weg gab. Ja, es hätte einen gegeben, vermutlich. Aber das war ihm erst zu spät bewusst geworden. Nun hatte er den ersten Schritt getan und konnte nicht mehr zurück.
»Wie haben es denn die anderen angestellt«, flüsterte Lisa Fuchs. »Zweikommasieben Millionen sollen schon abgehauen sein. Zweikommasieben!«
Er wollte auf keinen Fall mit Lisa streiten. Nicht um diese Sache. Es gab in ihrer Ehe durchaus Dinge, die sie verschieden sahen. Aber zu ihrer Ausreise hatten sie sich nach langem Überlegen durchgerungen. In dieser Minute kam es ihm nur so vor, als denke sie, er habe an diesem Tag versagt.
»Wir werden sehen«, sagte er lapidar und erhob sich. In seinem tiefen Inneren kamen ihm die Worte vor, als habe er soeben Amen gesagt. Amen, was ihm seit Kindesbeinen nie mehr laut über die Lippen gerutscht war. Das letzte Mal hatte er als Fünf- oder Sechsjähriger laut gebetet, weil seine Großmutter es von ihm erwartet hatte. Lieber Gott mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Amen.
Was sollte er mit Lisa noch lange darüber reden? Auch ihr war es schließlich klar gewesen. Ein Ausreiseantrag galt noch immer als illegal und konnte mit Gefängnisstrafe geahndet werden. Ausgenommen waren Rentner und Invaliden. Sollte er sich zum Invaliden knüppeln, nur um seiner Frau den Seelenfrieden zu retten und ihm die Genugtuung des Siegers zu verschaffen? Ein schöner Sieg wäre das. Schwer wäre es freilich nicht. Bei der Schlamperei auf dem Bau ginge es ganz fix. Aber die Konsequenzen konnte keiner erahnen. Was, wenn er dabei zu Tode kommt? Oder wenn nur ihm, aber nicht seiner Familie das Recht der Ausreise zugesprochen würde?
Nach seiner Meinung hätten sie ohnehin warten sollen, bis Julie ihr Abitur in der Tasche hatte. Dieser achtsamen Ansicht war auch Pfarrer Morawietz gewesen. Bei seinem Einsatz für ein Großprojekt in Hoyerswerda war er mit ihm zusammengetroffen. Bei einem vorsichtigen Treffen mit ein paar christlichen Kollegen sagte der Mann, es stehe bevor, dass die DDR die UN-Menschenrechts-Charta unterzeichnet. Dazu gehöre das Recht ihrer Bürger auf Freizügigkeit. Bis dahin aber fehle jedem offenen Protest die staatliche Rechtsgrundlage. Jeder, der mit der DDR brechen möchte, sei in den Augen des MfS zu einem Sicherheitsrisiko geworden. Da zählten so lapidare Argumente wie Familienzusammenführung oder Erbantritt rein gar nichts.
Manchmal bedauerte Norbert, dass er lange keinen intensiveren Kontakt zur Kirche hatte. Unterschwellig hatte er herausgehört, dass sich die Ausreisewilligen vernetzten, wie der Pfarrer es nannte, und dass sie bald öffentlich aufzutreten gedachten. Unter dem schützenden Dach der Kirche, wohlgemerkt. Im Sächsischen stünde da etwas bevor. Dort habe ein Arzt eine Unterschriftensammlung von Ausreisewilligen initiiert, die er auf den Weg in westliche Medien bringen wollte, eine Petition zur vollen Erlangung der Menschenrechte.
Der Pfarrer hatte nach diesen Worten unvermittelt in seine Faust gebissen, sich abgewendet, um die mitgebrachte Bibel auf den rechten Psalm für den Gottesdienst auszurichten, wie es den Anschein haben sollte.
Norbert Fuchs stand Minuten später mitten in der winzigen quadratischen Küche, die keine Fenster hatte, dafür eine Durchreiche aus Glasvitrinen, um die sie von anderen Leuten beneidet wurden, die nicht das Glück hatten, eine solche Wohnung zu ergattern. Auch war die kleine Küche vollständig mit Einbaumöbeln ausgestattet, worauf gerade die Bauleute sehr stolz waren.
Er hatte auf einmal das Gefühl, in der Enge des Tages ersticken zu müssen, wenn er nicht sofort aus dem Hause ging. Erst als er auf der Straße stand, ratterten die Schläge der schwankenden Straßenbahn auf den Schienenstößen und schüttelten seine Gedanken durch.
Wie sollte man all seine Argumente in eine Waagschale werfen können? Hohe Freiheit gegen niedrige Preise?
Sein Argument, ungehindertes Reisen gegen Einengung, wäre vergleichbar, hatte er geglaubt. Aber nun?
Er schaute zurück auf die vielen gleichförmigen Fronten der neuen Häuserblöcke. Ja, es war ein Kraftakt für das Land, das schwer gebeutelt wurde durch Reparationen und fehlende Rohstoffe. Wer könnte das besser wissen, als einer vom Fach, der den Mangel täglich erlebte, der viele Freistunden schob und wartete, bis der Engpass endlich behoben war und weiter gearbeitet werden konnte. Trotzdem war Wohnen nicht alles, auch wenn es eines der höchsten Menschenrechte war.
In diesem Jahr wollte er irgendwie herausbekommen, wie es die Bulgaren machen, welchen Mangel es dort gibt und wie der soziale Wohnungsbau dort vorangeht. Zum Glück hatte er auch einmal diese Chance. Und die Bulgaren waren im selben System gefangen, also haben sie dieselben Voraussetzungen.
Wenn er nur geahnt hätte, dass es alles nichts bringen würde, hätte er bei dem arroganten Kerl niemals von seiner Reise geredet. In einem musste er ihm schließlich kleinlaut Recht geben: Um über das Reisen zu klagen, hat er zum ersten Mal gerade in diesem Jahr keinen Grund. Mit welcher List Lisa diesen tollen Urlaubsplatz ergattert hatte, spielte keine Rolle. Sie freuten sich ehrlich, und bis zum August war es gar nicht mehr lange hin.