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Sina Kolb
ОглавлениеBegonnen hat mein Dilemma an einem kühlen Herbsttag. Ich lag unter einer weichen Decke in meinem Schaukelstuhl und las das Buch über eine merkwürdige Liebe zwischen einer jungen Frau zu ihrem querschnittsgelähmten Schützling. Freilich hatte diese Liebe keine Chance, so wie meine Liebe einst keine Chance hatte. Aber aus völlig anderem Grund.
Das Telefon schellte. Ich hatte wenig Lust, meinen Sinn auf das profane Problem eines meiner Studenten zu richten. Ich hatte erwartet, dass es einem von ihnen eingefallen war, mich zu Hause zu stören. Was konnte eine alleinstehende Frau schon Wichtiges vorhaben an einem kühlen Wochenende.
Es machte mich wütend und neugierig zugleich, wer sich da erdreistete.
Der Anrufbeantworter sprang an. Ich hörte nichts, als das Ausstoßen von Luft am anderen Ende der Leitung. Dafür schreckte mein Verstand aus seiner tagelangen Apathie auf und sendete kleine Gedankenblitze: Was, wenn es Lynn war? Es konnte gut sein, dass sie so lange nichts von sich hat hören lassen, weil sie uns mit ihrer vorzeitigen Heimkehr überraschen wollte – mich und vielleicht auch Gabi.
Lynn war für ein ganzes langes Jahr nach Namibia zu ihrem Vater Sten gereist, der Gabi und Lynn verlassen hatte – und mich. Freilich hatte er mich verlassen; irgendwie. Lynn schrieb mir oft von dort. An diesem Tag wartete ich schon länger als vier Wochen auf das nächste Lebenszeichen von ihr.
Die erste Botschaft erreichte mich schon kurz nach Lynns Ankunft in Windhoek. »Da bin ich also, Tante Sina.« Sie sagte noch immer Tante Sina zu mir, obwohl ich ihr angeboten hatte, einfach Sina zu sagen, als wären wir gute Freunde, was wir schließlich waren. Das wollte sie nicht. Ihre Erklärung über das Warum schien sehr plausibel: »Du bist die Einzige, die mich daran erinnert, eine Familie zu haben«, sagte sie. »Freunde habe ich genug.«
Ich musste zugeben, so hatte ich die Lage für meine Nichte nie gesehen.
Dass sich ihr Vater Sten für seine Flucht aus der Ehe ausgerechnet Afrika ausgesucht hatte, lag nicht nur an seinem Beruf, jedoch sein Beruf gab ihm die Chance dazu. Eine deutsche Tageszeitung in Windhoek suchte einen verantwortlichen Redakteur und Sten griff überaus freudig zu. Bei ihm hielt sich Lynn nun schon etliche Monate auf.
»Ich will ehrlich sein«, schrieb Lynn weiter. »Ich hatte vor dem Heimweh eine beschissene Angst. Die muss ja längst nicht überstanden sein. Ann und Papa haben mich morgens am Hosea Kutako International Airport in Windhoek abgeholt. Das war erst einmal pure Panik. Ann ist ein Kleurling, was wir Europäer als Mischling bezeichnen würden. Manche Leute sagen sogar Bastard, was hier kein Schimpfwort ist. Inzwischen sehe ich keinen Unterschied mehr, wenn ich in die Gesichter schaue. Manchmal weiß ich später nicht einmal mehr, ob der Mensch in heller oder dunkler Haut steckte. Ann ist süß für ihr Alter, aber die Vorstellung, dass sie und Papa ein Paar sein könnten, erschien mir im ersten Moment eben … nicht abwegig, eher fremd. Papa war gleich herzlich zu mir, umarmte mich, als hätten wir uns erst vor zwei Wochen getrennt. Ich hatte das Gefühl, die beiden waren sich nicht einig, was sie mit mir anstellen sollten. Sie haben mir das Ankommen erst einmal erleichtert. Ehrlich, Tante Sina, es war ein gutes Gefühl, nicht völlig fremd oder auf sich allein gestellt zu sein. Inzwischen weiß ich, Ann ist bezaubernd und die beiden Jungen Ben und Luca auch. Dir kann ich es ja sagen, da muss ich keine Angst haben, dass du es Mama erzählst! Eigentlich schade. Oder, Tante Sina?«
Obwohl sie mich mit ihren kleinen Botschaften versorgte – auch Videos, die mich traurig machten, weil ich Sten leibhaftig wiedersah - wartete ich merkwürdig ungeduldig darauf, dass das nächste Lebenszeichen einging. Ich wünschte – das war sicher ungerecht – dass das Jahr endlich verging. Lynn fehlte mir sehr. Es sollte nicht nur ein paar Monate dauern, es kam schlimmer.
Lynn kam meistens heimlich zu mir, dafür gab es gute Gründe. Seit diesen tristen Herbsttagen vermisste ich sie wieder genau so schmerzlich, wie zu Beginn ihrer Reise. Ich vermisste ihr Lachen, ihre lockeren Sprüche – sie war ja erst achtzehn Jahre alt.
»Ja klar lebe ich in meiner Welt, Tante Sina. Da kennt man mich wenigstens.«
Als ich ihr einmal den gutgemeinten Rat gab, ihre Kinderstube nicht zu vergessen, lächelte sie entwaffnend und sprach davon, sie sei weder undankbar noch aufsässig, allenfalls verhaltensoriginell. Irgendwann einmal hatte sie sich als Limited-Edition bezeichnete, weil sie mit keinem Geschwisterkind rechnen durfte. Darin lag nicht nur etwas Wahres, diese jugendliche Sicht von der begrenzten Ausgabe berührte etwas in mir, was mir schon früher einmal in den Sinn gekommen war: Wäre Sten bei mir geblieben, gebe es Lynn gar nicht. Das wäre sehr traurig.
Es gab Tage an denen ich mich meiner früheren Gefühle schämte. Vor ein, zwei Jahren war mir, als füllte Lynn die Lücke aus, die Sten und Gabi gerissen hatten. Das blieb gottlob keinesfalls der Grund meiner Zuneigung. Ich liebte sie und freute mich über jede Stunde mit ihr, obwohl ich ein wenig neidisch war auf ihre Jugend. Sie hatte das ganze Leben noch vor sich. Sofern sie es richtig anstellte, würde sie glücklicher werden als ich.
Lynn hatte Kraft, war unsentimental und heiter. Ihr Gesicht war offen und herzlich, nur bisweilen zeigte es Nuancen von der Wandlungsfähigkeit ihrer Mutter. Nahtlos an herzliches Lachen konnte sie Worte sagen, deren Ernsthaftigkeit ich nicht erfasste:
»Du verwechselst mich wohl nicht grad mit einem deiner Studenten, den deine Predigt interessieren muss?«
Sie war zu jung, um ein Schicksal mit sich herumzuschleppen. Keines von Ihresgleichen und keines wie das anderer Menschen. Dennoch konnte sie zuhören und sie konnte zugeben, was sie selbst betraf. Naivität? Spontanität! Direktheit - nicht die eines Kindes, die sich mit den Jahren verlieren würde. Sie hatte die Direktheit einer Erfahrenen, die den Wert des Naiven schätzen gelernt hat. Heillose Offenheit und gesunde Bedenken kokettierten bei ihr glücklich miteinander. Darin lag die Kostbarkeit meiner Nichte. Sie urteilte rigoros, aber sie stand dazu, nicht alles im Leben wirklich beurteilen zu können.
»Äh, ich kann jetzt auch nur vermuten, was ich damit meine, Tante Sina.«
In ihrer Offenheit sah sie strahlend aus. Es machte sie vertrauensvoll, genau das zu sagen, was sie meinte. Ihre Bedenken waren ebenso reizvoll. Es schien mir, sie war fast glücklich in ihrem Geheimnis, wenngleich sie nicht wusste, wie sie es anstellen sollte, nicht länger ein Geheimnis daraus zu machen. Zum ersten Mal war sie verliebt. Der Junge ging für dieselbe Zeit nach Amerika – das sei eine Prüfung ihrer Liebe, meinte Lynn.
Die beiden hatten sich einen Schwur gegeben. Wenn einem von beiden etwas zustößt, soll der andere dessen Facebook-Status ändern auf: »Message of the Cloud«.
Warum sollte ihr etwas passieren? Sie würde bei Sten in den besten Händen sein – so dachte ich damals noch. Wer denkt schon grundlos an ein Entsetzen?
Lynn hatte - im Gegensatz zu mir - das verbriefte Recht, Sten zu besuchen. Sie hat sich gegen Gabi durchgesetzt, konsequenter, als ich es vor Jahren konnte.
»Wenn du das tust, sind wir geschiedene Leute«, soll Gabi getobt haben. Lynn hatte geantwortet: »Ja, Mama, ich lieb dich auch.« Diese kleine Dreistigkeit soll Gabi nicht moniert haben?
Inzwischen sollte Lynn mit Sten wundervolle Tage, Wochen - mein Gott, es waren bereits mehr als neun Monate - verbracht haben. Um jeden einzelnen Tag davon beneidete ich sie ehrlich …
Das Telefon schlug wieder an. Nach dem dritten Läuten nahm ich den Hörer ab. In mir kämpfte eine Mischung aus merkwürdiger Vorahnung und ohnmächtiger Wut.
»Spreche ich mit Doktor Sabrina Kolb?«, krächzte die unbekannte Frauenstimme am anderen Ende, leider nicht die von Lynn. Wenn eine Hoffnung stirbt, wird man ungerecht.
»Hier gibt es niemand anderen«, platzte es schroff aus mir heraus.
Einen Moment lag Stille in der Leitung. Die fernen Geräusche im Hintergrund konnten weder aus einem Wohnraum kommen, noch hatte die Nummer, die ich auf dem Display erkennen konnte, einen Bezug zur Uni. Die Stimme wurde konsequenter:
»Ich bin Doktor Saul. Ihre Schwester Gabriele Martens hatte einen … Zusammenbruch. Sie meint, es kann sie niemand abholen. Ihre Tochter ist wohl nicht in Deutschland?«
Sie sprach ihre Sätze als Frage. Das war dennoch nicht der Grund für meine grantige Gegenfrage.
»Was für einen Zusammenbruch, zum Teufel …«
Ich hörte, wie die Frau Luft einsog, als ringe sie um Haltung.
»Wir wissen inzwischen, dass Sie … dass Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwester nicht das beste ist. Sie sollten trotzdem kommen …«
Mein Verhältnis zu meiner Schwester also? Sollte man sich die Frage nicht einmal andersherum stellen?
Während mich die dreiste Mutmaßung erregte, redete diese Frau Doktor Saul ungestört weiter, klar und in knappen Sätzen, dennoch entging mir, wovon genau sie da sprach.
Offenbar hatte ich Lynns Bemerkungen nicht ernst genommen. Vielleicht glaubte ich, Gabi habe ihre raffinierte Art, sich etwas zu erzwingen, über die Jahre beibehalten. Sie war gegen Lynns Reise gewesen und sie würde - verdammt nochmal - einen trefflichen Grund finden, warum ihre abgöttisch geliebte Tochter den Schüleraustausch gefälligst abzubrechen habe.
Waren meine Gedanken noch gerecht? Ich wusste zu wenig von meiner Schwester. Ohne Lynns mühelose Art, auf Menschen zuzugehen, wüsste ich nicht einmal, ob Gabi am anderen Ende der Stadt überhaupt noch lebte. Ich hätte den Kontakt zu meiner Nichte niemals vertieft, um den familiären Unfrieden nicht ins Uferlose auszudehnen.
Ich glaube, der Groschen fiel erst bei mir, als ich längst Doktor Saul zugesagt hatte, am nächsten Tag in die Klinik zu kommen.
Es waren nur drei Buchstaben, aber die elektrisierten mich. FFI. Ich hätte es wissen müssen, obwohl ich die Tragödie um unsere Mutter nicht so intensiv erlebt hatte wie Gabi, weil ich zu dieser Zeit - zu meinem Leidwesen - beim Studium war. Dieses Leidwesen betraf nicht die Zeit des Studierens, es betraf das, was inzwischen mit Gabi und Sten passierte. Es war die blödeste Ausrede, die meine Schwester mir anbieten konnte – sie habe Trost gebraucht, da sei es eben passiert. Sten sagte nichts dazu, nur seine Augen sprachen von quälenden Zweifeln. Ich konnte Gabis Worte vom nötigen Trost erst akzeptieren, als ich die Tragödie, die sie meinte, endlich in ihrem ganzen Ausmaß erkannte. Dennoch fühlte ich mich als großer Verlierer. Ausgerechnet in einer Zeit, in der ich meinen Master machte, musste ich zum Lebensende meiner Mutter zusätzlich das Ende meiner großen Liebe verkraften. Beides ging mir allzu rasant.
Spät am Abend durchforstete ich alle Webseiten, die ich finden konnte. Es war keine Panik, nicht einmal Sorge. Es ging um meine Schwester. Gerade die würde um mich in keinerlei Kummer verfallen. Mein Zweifel galt einzig und allein mir und ein bisschen Lynn. Seit Sten in Namibia lebte, hatte Lynn nur Gabi und mich, mich sogar eher heimlich, zumindest was die Häufigkeit ihrer Besuche bei mir betraf. Nur Lynn tat mir leid, dachte ich an das unweigerliche Ende, das ich nach meiner Recherche bei Gabi kommen sah.
Was ist das nur mit dieser Vererbung? Was ist es mit dem Wissen der Medizin. Wer kennt die Ohnmacht der Götter in Weiß, wenn die Forschung auf der Stelle tritt?
Die tödliche familiäre Schlafkrankheit FFI gehört zu den seltensten Erbkrankheiten, ist so gut wie nicht erforscht und endet immer tödlich.
Das alles wusste man zu jener Zeit nicht, als unsere Mutter starb. Wahrscheinlich war die Krankheit damals überdies nicht klar zuzuordnen. Neuerdings weiß man darüber Bescheid, jedoch Bescheid zu wissen bedeutet in diesem Falle nichts als Ohnmacht und Wut.
Ein Teil meiner Wut bezog sich auf mich selbst. Ich hatte Lynn womöglich nie richtig zugehört. Wenn es um Gabi ging, klappte ich meine Ohren viel zu gerne zu. Von der Niedertracht meiner Schwester hatte ich genug. Lynn musste Gabis Zustand mit Argwohn beobachtet haben. Mir fielen ein paar Wortfetzen ein, die sie merkwürdig bang losgelassen hatte. … mit Mama ist's grad nicht so prickelnd. Sie kann im Moment schlecht schlafen und ist am Tage nur noch müde.
Es war mir egal, was Gabi grad nicht konnte, ich genoss es sehr, dass Lynn bei mir den familiären Ausgleich suchte, meine Zuwendung brauchte. Sie hätte sich in ihr junges Liebesleben stürzen können, aber sie kam zu mir, als würde sie nach Hause kommen. Ich hatte ihre Sorge verkannt. Mein Blick war verstellt von altem Hass und neuem Stolz.
Vielleicht hatte Gabi Lynn von unserer Mutters qualvollem Tod erzählt, oder Lynn hatte selbst recherchiert? Wer weiß?
Sie ist ein kluges Mädchen - genau wie ihr Vater Sten. Sie hat eine gesunde Neugier auf das Leben – genau wie Sten, sonst wäre er wahrscheinlich nicht ausgewandert.
Bei unserer Mutter begann alles mit dem übergroßen Wunsch zu schlafen aber nicht zu können. Sie nahm Unmengen von Schlafmitteln. Die Ein- und Durchschlafprobleme blieben. Bald schlief sie keine Nacht mehr wirklich tief. Letztlich blieb der Schlaf völlig aus. Die Folge war ein langsamer, qualvoller Verfall. Stück für Stück vermischte sie Traum und Wirklichkeit, verlor alle Fähigkeiten und fiel schließlich ins Koma.
Sollte Gabis Diagnose stimmen, sofern die Ärzte keinen voreiligen Schluss wegen der Vererbbarkeit gezogen hatten, würde Lynn bald ohne Mutter dastehen …
Lynn! Nicht Gabi ging mir durch den Kopf. Nur Lynn. Es mag für andere Ohren merkwürdig klingen, für Stens Tochter wollte ich sorgen, trotz alledem, sofern Lynn selbst es wollte. Das war zu erwarten. Soweit die gute Aussicht an der schlechten Nachricht.