Читать книгу Verloren im Land der roten Dünen - Maxi Hill - Страница 7
Gabrieles Tagebuch
ОглавлениеZugegeben, es machte mich unglücklich, meine kurz bemessene Zeit bei meiner Schwester zu verbringen, die mir nur Abneigung und Skepsis entgegenbrachte. Mein eigener Haushalt ließ bereits zu wünschen übrig, die Vorbereitungen auf die Vorlesungen und Seminare fielen dürftig aus. Auf die wenigen Freuden am Leben, die ich mir bis dahin immerhin gegönnt hatte, verzichtete ich gänzlich. Ich hatte keine einzige Zeile eines der Bücher gelesen, die seit Monaten auf meinem Reader schlummerten.
An diesem Abend hatte ich mir vorgenommen, Gabis Wäsche zu waschen und den Kühler abzutauen. So alltägliche Dinge blieben in meinem eigenen Haushalt solange unerledigt, bis mir die Notwendigkeit peinlich wurde.
Wenn ich Lynn glauben konnte – das konnte ich immer – gab es in Gabis Haushalt feste Rituale, ob für deren Verrichtung die Notwendigkeit bestand oder nicht. Wahrscheinlich war das die Folge von Gabis pflichtgemäßen Abläufen in den letzten Lebensmonaten unserer Mutter. Wenn man für einen anderen Menschen denken muss, agiert man anders. So jedenfalls verteidigte ich seinerzeit meine ungeliebte Schwester vor meiner geliebten Nichte.
Gabi aß an diesem Abend sehr wenig - sie schien dafür zu unruhig zu sein. Ich spürte den Drang in ihr, nicht von ihrem Laptop lassen zu können. Es war nicht zu erwarten, dass sie in ihrer Übermüdung alles richtig erfasste. Sie las die Botschaften immer wieder und ich sah, wie sie die jüngeren mit den länger zurückliegenden verglich. Lynn ist nicht mehr Lynn?
Vermutlich war ihr Zusammenbruch genau dieser Tatsache geschuldet? Angst löst manchmal etwas aus. Vielleicht hatte sie sich in etwas hineingesteigert und sich keine Mühe mehr gegeben, überhaupt in den Schlaf zu finden. Womöglich dachte sie, wenn sie die Zeit mit Schlafen vergeudete, käme sie nie mehr hinter den Grund von Lynns Veränderung, die sie wahrzunehmen glaubte. Ein solcher Zustand ist wie eine Sucht, wie ein Wahn, vor dem sie ja nicht wirklich gefeit war – über kurz oder lang, wie Doktor Saul bestätigte.
Es kostete einige Mühe und ich hatte viele garstige Worte zu ertragen, ehe ich Gabi dazu gebracht hatte, ihre Medikamente zu nehmen. Ich achtete peinlich darauf, dass sie ihren Laptop vergaß, der noch in Betrieb war. Dort wollte ich selbst nach gewissen Anzeichen suchen, von denen ich vermutete, dass sie Gabi aus der Fassung brachten. Dazu kam ich an diesem Abend nicht mehr.
Als ich in ihrem Schrank nachsah, ob irgendwo ein Kleidungsstück in den Farben der Charge zu waschen wäre, die ich in die erst halbgefüllte Trommel geben könnte, zog ich ein braunes, fast unscheinbares Buch mit heraus. Es fiel zu Boden und ich sah es mir an. Am Anfang schien es mir wie das Tagebuch aus Kinderzeiten. Ich selbst hatte auch ein solches, nur war mein Einband mit rotem Mohn und blauen Kornblumen geschmückt.
Ich weiß, dass es kein Ruhmesblatt ist, wenn man den intimsten Dingen eines anderen Menschen nachspürt. Über kurz oder lang musste es ohnehin sein, wenn ich alles zu regeln haben werde. Also blätterte ich ein wenig durch die Seiten. Im letzten Drittel erfasste ich meinen Namen.
Und da las ich, was mir in der folgenden Nacht, in der ich in Gabis Wohnung blieb, den Kopf zermarterte:
Gabi hatte sich gewünscht, so sein zu können wie ich, ihre Schwester Sina: Natürlich, intelligent, unabhängig, selbstgenügsam und stark. Es könne nur Stärke sein, schrieb sie, wenn man gestohlene Liebe klaglos ertrage. Sie selbst ertrug den Gedanken nur äußerst schwer, Lynn öfter als sie zugibt, bei mir zu wissen. Vielleicht, so schwadronierte sie, lege es Sina darauf an, ihre einzige Liebe zu stehlen, so, wie sie Sinas Liebe einst gestohlen hatte für einen einzigen Grund. Genau diesen würde sie niemals mit Sina oder irgendwem teilen wollen.
In Gabis Augen vermochte ich so ziemlich alles zuwege zu bringen: Studium, Doktortitel, anerkannte Projekte und so einiges andere, was Gabi aufgelistet hatte, ich selbst aber unter Arbeitsalltag einer Dozentin für Kommunikationswissenschaften abhaken würde. All diese Dinge zu meistern, hatte sich Gabi gewünscht aber nie vermocht, weil die Familie wichtiger war. Da sei es nur gerecht, stand unter den Zeilen, wenn sie die minimale Kleinigkeit für sich in Anspruch genommen habe, sich Sten auszuborgen.
Kein einziges Mal im Leben hatte ich die Chance, von dieser Seite einen Blick in Gabis Welt zu nehmen. Wie konnte ich wissen, was sie sich wünschte, was sie vermisste, was ihr lohnenswert erschienen war.
Zum ersten Mal erfuhr ich nun auch, dass sie keinen Anspruch auf Sten erhoben, dass sie sich ihn nur ausgeborgt hatte, vermutlich, um ein Kind zu bekommen, in das sie alles projizieren konnte, was sie selbst vermisst hatte im Leben.
Nach diesem Tag änderte sich ein Teil meines Weltbilds radikal. Ich schloss die Augen und sah die Schwester, wie sie das Leid um unsere Mutter zu tragen hatte, während ich – zuletzt gar nicht mehr glücklich – im fernen München an der Ludwig Maximilians Universität mit abstrakten Regeln aus der Kommunikationstheorie und Kommunikationsgeschichte, mit der Publizistik, der Medienökonomie und der Medienwirkung befasst war. Nur hin und wieder ging ich mit Kommilitonen in eine Bar, zu einer Disco oder auf ein Bier in eine dieser alten, gemütlichen Kneipen, wo die Tische und Bänke aus schwerem, dunklem Holz und die Dirndl der Mädchen aus feinem, leuchtendem Taft waren.
Wie konnte ich etwas abgrundtief verurteilen, das mit unbekannter Kehrseite einherging. Gabi hatte ihr Leben nach Mutters Tod endlich auf die eigenen Bedürfnisse ausgerichtet. Die betrafen zuerst Sten, später einzig Lynn. Ihre nagende Unsicherheit, die sie mit ihrem Körperkult übertünchte, ihr heimlicher Groll auf unsere Liebe, die sie mit ihrer niederschmetternden Einsamkeit verglich, das alles musste sich in einer einzigen Aktion entladen haben, mit der sie Sten überrumpeln konnte. Vermutlich hat es mit Sten nur deshalb nicht auf Dauer funktioniert, weil Gabi sich außerstande fühlte, ihre Liebe auf zwei Menschen aufzuteilen. Es gibt sie, diese Zustände, wo man sich wie in einem Hamsterrad fühlt. Mit Sten an ihrer Seite glaubte sie, zu wenig Zeit für Lynn zu haben, dabei war ihr Kind der einzige Grund, der sie an Sten gefesselt hatte.
Es schien von Anfang an so angelegt, dass diese Liebe nicht klappen sollte. Offenbar wollte sie ihn mir gar nicht gänzlich nehmen, nur für den einen Grund benutzen, den kein Mensch allein bewerkstelligt.
Wir waren mehr als nur grundverschiedene Charaktere, wir hatten einen völlig unterschiedlichen Blick auf die Welt. Das Leben prägt die Menschen mehr als die Abstammung. Stets war das Leben für mich bequemer als für Gabi, die vom Schicksal unserer Mutter gebeutelt und nun von ihrem eigenen gelinkt wurde.
In den Jahren unserer Jugend hatte ich fest damit gerechnet, dass es genau andersherum kommt, als es letztlich kam. Ich hatte für mich geordnete Verhältnisse vorhergesehen. Ich sollte die liebende Ehefrau und glückliche Mutter sein. Für meine introvertierte Schwester Gabi schien das Leben vorbestimmt, wie ich es momentan hatte – allein, introvertiert und verbittert. Zugegeben, verbittert war ich nie und Introvertiertheit kann man sich als Dozentin nicht leisten – nicht, wenn man ein gutes Verhältnis zu seinen Studenten als zielführend betrachtet.
Ich war ebenso neidisch auf Gabi. Wenn ich mein eigenes Leben überdachte, wusste ich nicht, welche Spuren ich einst hinterlassen würde. Die beruflichen verwischen sich sofort mit dem Ausscheiden – das zwar noch lang hin war, aber das Berufsende gehörte zur Regel des Lebens.
Spuren als Mutter – wie Gabi sie so prächtig hinterlassen hatte – waren mir bereits versagt geblieben. Einen Erben brauchte ich zwar nicht. Das Glück des verschenkten Herzens hätte ich indes gerne gelebt. Möglicherweise kommt jetzt meine Stunde …
Meine Bindung an Lynn würde ohne Gabi noch fester, noch intensiver werden können. Ich wollte alles tun, dass es der Tochter meiner Schwester an nichts fehlte. Ich wusste immer, wann ich mich selbst belog: Es ging um die Tochter von Sten. Selbstbetrug erfasst auch Menschen, die sich klug dünken und die glauben, ihre Urteilskraft reicht für alle Katastrophen dieser Welt.
In jener Nacht beschloss ich zumindest, nach einer vernünftigen Lösung zu suchen, um mich selbst vor der völligen Erschöpfung zu bewahren, aber Gabi zu geben, was sie brauchte – Aufmerksamkeit, Unterstützung und ehrliche Zuwendung. Was mir im Kopf herumging, was ich in allernächster Zeit anzugehen hatte, war dennoch kein Gegensatz zu meinem Entschluss, die Verantwortung für meine Schwester zu übernehmen – bis zum Schluss.
Ich erinnerte mich wieder an das Buch, das ich zuletzt gelesen hatte. In dieser Zeit brauchte ich einen Menschen für Gabi, dem nicht nur ich vertrauen konnte, dem besonders Gabi vertrauen konnte oder bei dem zumindest zu erwarten war, dass sie ihn akzeptierte.
Leicht war es nicht. Entweder die Forderungen des verfügbaren Personals überstiegen selbst meine finanziellen Möglichkeiten, oder die Personen, die man mir anbot, hatten weder eine Ahnung, wie sie mit Gabi umzugehen hatten, oder sie schienen mir körperlich zu schwach für die Zeit, in der Gabi nur schwer zu bändigen sein würde.
In meiner Not – ich brauchte baldigst eine Lösung – ging ich trotz des riesigen Streukreises meiner Information auf Facebook. Ich hatte keinen Grund, etwas zu beschönigen, im Gegenteil. Ich schilderte die Krankheit wie sie sich zeigte und wohin sie driften würde. Meine Lage umriss ich so: Kost und Logis würden schon einiges verschlingen und ohne Gehaltsangabe verhandelte es sich schlecht. Ich erbat mir bei Interesse eine persönliche Nachricht auf meinen Facebook-Account, die für andere Nutzer nicht sichtbar war.
Nun muss man wissen, dass meine Vernetzung einzig auf der Ebene von Menschen bestand, die im Bereich Kommunikation tätig waren. Ich hoffte aber, dass der eine oder andere jemand kennt, der jemand kennt, der jemand …
Es gab vereinzelte Rückmeldungen, jedoch mein Vorstoß schien auf der falschen Ebene stattzufinden. Beschämend für eine, die über mediale Kanäle bestens Bescheid wissen sollte und die so manche Trefferquoten im Grunde gut voraussagen konnte.
Vorsichtshalber führte ich Gabi trotzdem behutsam an den Gedanken einer Pflegekraft heran. Ich versprach ihr, dass gelte nur bis Lynn in zwei Monaten zurück sei. Diese Notlüge musste sein. Lynn wäre selbst mit mir an ihrer Seite hilflos überfordert. Vor allem war sie zu jung, um diese Last tagein tagaus zu tragen. Es lag an mir, ihr das Schicksal ihrer eigenen Mutter zu ersparen. Alles, was einmal war, durfte sich nicht wiederholen. Gabis Leben würde ohnehin nie wieder sein, was es bisher war. Nicht im Guten und nicht im weniger Guten.
Wenn ich bei Gabi war, begann ich merkwürdigerweise schon, mich nach einem stillen Ruhestand zu sehnen. Weil das noch so lang hin war, spielte ich mit dem Gedanken, wenigstens einen Teil meiner Vorlesungen und Seminare abzugeben. Formal gesehen war der Plan reizvoll, aber was würde er real mit sich bringen? Als Gabis Pflegerin würde ich nicht einmal die Minimalanforderungen erfüllen, die ich bei anderen zwingend voraussetzte. Mir fehlten die Kenntnisse – die man sich zwar erarbeiten kann – mir fehlten vor allem jene Tugenden, die man brauchte, obwohl man einem einst ungeliebten Menschen alles opferte: Geduld, Hoffnung. Gleichmut.
Mag sein, sie hätten sich eingestellt, zwangsläufig, während ich meine Mission ernsthaft betrieb. Mag sein, sie lagen längst in mir, nur hat sie keiner zutage gefördert.
In Wahrheit war es so, dass ich seit Gabis Krankheit kein Gespür mehr dafür aufbringen konnte, was mir selbst lieb und teuer war. Damit meinte ich nicht mehr Sten. Das brachte nichts, nicht mehr, seit ich wusste, wie und mit wem er jetzt lebte. Ich belog mich mit einem Satz, den ich bei Marion Dönhoff gehört hatte: Der höchste Grad der Liebe ist zu lieben, ohne zu besitzen. Dieser Selbstbetrug machte mich stolz. Für meine Liebe zu Sten war es in Wahrheit zu spät. Für Lynn würde es nie zu spät sein. Niemals.
Sten und Lynn waren für den Moment vergessen, als ich meinen Account öffnete und eine Nachricht fand.
Ein gewisser Tarek war an dem ausgeschriebenen Job interessiert. Er sei Student der Geriatrie, müsse pausieren, weil er sich das Studiengeld für das nächste Semester erst verdienen müsse.
Tarek? Hörte sich polnisch an. Weniger dieser Umstand ließ mich überlegen. Es waren mal wieder die deutschen Gesetze, die mich davon abhielten, euphorisch zu werden. Alles passte vortrefflich und nett sah der junge Mann auch aus. Ich schlief eine Nacht darüber, was so viel hieß wie: ich grübelte, während ich Gabi im Auge behielt. Nebenbei durchforstete ich ein paar Botschaften von Lynn auf Verdächtiges. Noch einmal wollte ich mir nicht vorwerfen, Gabi aus altem Groll heraus nicht ernst genommen zu haben.
»Hallo liebste Mama. Was soll der Gnatz, nur weil ich »roger« sage (oder schreibe)! Mama, bevor der große Krach ausbricht, warte einfach ein bis zwei Jahre, dann sage ich vielleicht auch: In Ordnung, Mama. Wenn du glücklich sein willst, schau' dir einfach meine Babybilder an. Sorry. Ich lieb dich trotzdem ;-)
Mama, als Anhang schicke ich dir heute ein paar Bilder aus dem Wildlife-Project, damit du wieder zur Ruhe kommst. Einigermaßen weit von Windhoek entfernt liegt das Areal an einer unbefestigten Straße, unweit der kleinen Siedlung, die du im Hintergrund siehst. Nur der schmale Trampelpfad (vorn im Bild) führt dorthin.
Außer der Foundation, eine Schutz- und Forschungseinrichtung, die künstlich angelegt wurde, gibt es rundherum nichts als durstgequälte Wildnis. Dazwischen tiefste Armut. Ich bleibe die ganze Woche hier. Wenn mich Papa nicht abholen kann, bleibe ich auch mal über das Wochenende bei den anderen im Camp. Das ist sehr lustig. Hier gibt es zwei weitere Deutsche – Martina und Sandro -, die ihr Volontariat von drei Monaten absolvieren und die mir schon viel über das Leben im Land beigebracht haben. Du weißt, dass mich Ann und Papa sehr behüten. Ann lässt mich keinen Schritt allein in die Stadt. Am Abend darf ich nicht einmal mehr vor die Tür. Ich glaube, wenn die Ferien vorbei sind, wird es mir schwerfallen, wieder brav zu nicken und jeden Morgen so früh zur Schule zu müssen (obwohl ich meine Freunde ehrlich vermisse). In der Foundation gibt es ein paar langjährig Beschäftigte mit viel Erfahrung. Sie forschen und erledigen das Wissenschaftliche. Der Großteil der Tierpflege wird von Volontären gemacht, oder eben von Leuten wie ich. Zwei Dorfbewohner arbeiten mit. Sie kommen morgens mit schneeweißen Hemdblusen und dunklen Hosen, aber leerem Magen. Wir teilen unser Frühstück und auch anderes gerne mit ihnen. Sie sind beschämt und stolz zugleich.
Was die Hemden betrifft, weiß der Teufel, wie die Frauen in dieser Einöde und Trockenheit die Hemden so blütenweiß hinbekommen. Manchmal beschämt mich das so, dass ich (sicher zu deiner Freude) meine zerfransten Shorts und die Schlabber-Shirts in die Ecke werfe … Dasselbe Gefühl der Scham hatte ich zuerst auch, wenn ich Ngong anschaute – du weißt, der Himba-Junge aus meiner Klasse. Aus seinem dunklen Gesicht strahlt ein Licht wie die Sonne selbst. Er hatte es bestimmt nicht leicht, obwohl Papa … na ja, das willst du ja nicht hören. Hier muss man sich für die Aufnahme an der Schule bewerben und einen Test bestehen. Das ist der Grund, warum die Klasse aus Arm und Reich gemischt ist, aber von den Himbas gibt es keinen zweiten, soviel ich weiß …
Und Mama, noch etwas: Mir macht die Arbeit (auch die mit Mistgabel und Schubkarre) sehr viel Spaß. Und! Es ist nicht lebensgefährlich hier! Ciao Mama, ich hab dich lieb :-)«
Ohne Vorwarnung fiel ich zurück in eine ungewisse Angst, die nur mit Ahnung gesprenkelt war, nicht mit Wissen. Das Mädchen so weit fort von zu Hause. Konnte da nicht doch etwas passieren?
Und wer sagte, ob Sten mit offenen Karten spielte?
Was, wenn er Lynn zur Foundation abgeschoben hat, um mit Ann keinen Stress zu bekommen? Noch schlimmer: Was, wenn er Lynn bei sich behalten möchte? Wenn er auf Rache gegen Gabi sinnt. Oder wenn er selbst nicht glücklich ist und in seinem Kind das Glück zu finden glaubt. Es wäre das Normalste der Welt, in Lynn so etwas wie ein Geschenk des Himmels zu sehen. Mir selbst ging es schließlich so.
Vor meinem Auge das Bild des Mädchens, sein kräftiges Haar im Nacken gebändigt, so, wie es die Schülerinnen in der Schule zu tragen hatten. So hatte sich Lynn zumindest in einer Mail über die namibischen Vorschriften beklagt. Es musste in einer der ersten Mails gewesen sein. Sie sprach darin von den Schuluniformen, die auffällig seien und die alle gleich machten, was sie zuerst doof fand. Irgendwann begriff sie den Sinn und erachtete ihn für vorteilhaft, gerade wegen der Mischung der Klasse.
Ich fröstelte. Über der Stadt hing kalter Nebel. Gabis Heizung funktionierte schlechter als meine, es wurde Zeit, dass sich jemand darum kümmerte.
Lynns Bilder vom Wildlife-Project waren in der Vergessenheit versunken. Neue, ganz unreale, schlichen sich bei mir ein. Bilder von einem erstarrten Gesicht voller Sorge und Ausweglosigkeit. Das war keine Panik meinerseits. Wenn Lynn von Gabis Zustand erfahren würde, bräche dort unten Panik aus. Damit wäre niemandem geholfen – nicht einmal Gabi.
Es war gut zu wissen, ob Gabi ihren Zustand in einer Antwort-Mail angedeutet hat, so dachte ich. Es war nicht so leicht, in Gabis Ablagesystem eine Ordnung zu erkennen. Gerade war ich im Begriff, weitere Mails, vorrangig die mit großem Datenvolumen zu öffnen, als die Wanduhr mich erschreckte. Ich hatte das Schlagwerk abgestellt. Wie zum Teufel konnte sie ihre grellen Töne durch die Nacht schicken. Es war zu erwarten, dass meine Mühe mit Gabi für diese Nacht umsonst war …
Ich lauschte, alles blieb ruhig. Wenn sie nach der Medikation wieder aufwachte, würde sie die ganze Nacht nicht mehr einschlafen. Das bedeutete einen total übermüdeten Arbeitstag für mich.
Die letzte der abgelegten Botschaften gönnte ich mir bei aller Sorge noch, danach sollte endlich Schluss sein für diese Nacht.
Unter der Überschrift: Katutura und nochmal Braai, schildert Lynn einen Tag, der sehr emotional für sie war.
»Ich glaube, das zu beschreiben fällt mir am schwersten, Mama. Katutura ist ein Township, in den die schwarze Bevölkerung in den fünfziger Jahren zwangsumgesiedelt wurde. Katutura bedeutet »Ort, an dem wir nicht leben wollen«. Ich glaube, das war die eindrucksvollste Lektion, die ich je in diesem Land bekomme habe. Es gibt Gegenden in Windhoek, da hat man einfach nicht das Gefühl, in Afrika zu sein. Alle fahren wie bei uns mit ihren Autos von daheim bis zum Parkplatz, erledigen, was zu erledigen ist, und weg sind sie wieder hinter ihren teuren Hecken, in ihren klimatisierten Häusern, von Palmen umgeben und von gelben Akazien. Das Leben auf den Straßen ist einfach nicht afrikanisch, nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. In Katutura ist es dagegen so, wie ich es mir nie vorstellen wollte. Eine riesige Wellblechhütten-Stadt dehnt sich bis zur Bergkette aus. Straßenverkäufer bieten Obst und Gemüse an, Fisch und Fleisch liegen blank auf den Ladentischen. Kinder spielen auf staubigen Straßen, elektrische Leitungen ziehen sich wie ein Spinnennetzt über die schäbigen Behausungen. Obendrein die Schule im Township! Es gibt nur ein winziges Klassenzimmer mit sehr kleinen Fenstern. Es ist dunkel und überfüllt von viel zu vielen Kindern. Sie sitzen auf Bänken oder Steinen und schreiben mit ihren Stiften in die Hefte, die auf ihren blanken Knien liegen. Jedoch sie lächeln, sie singen und tanzen für uns. In der Pause spielen sie mit einem Ball aus zusammengeknülltem Müll mit Schnüren umbunden. Da wo sie wohnen, gibt es keinen Strauch, keinen Baum, keinen Schatten und keinen See. Ihr Fußballplatzt ist ein staubiges Areal. Zu beiden Seiten begrenzen große Steine das imaginäre Tor … Das waren viele Momente, die mein Herz berührten und die mich zum Nachdenken brachten. Ich ärgere mich, wenn mein Handy nicht das allerneueste ist, oder wenn meine Kleider noch aus der letzten Saison stammen, die Schuhe eine Farbnuance abweichen oder meine Taschen nicht vom Designer stammen. Die Kinder hier lachen, sind zufrieden, haben Spaß, obwohl sie wenig besitzen und vielleicht nicht einmal satt zu essen haben. Sie können sich so herzlich freuen, sogar über die ganz kleinen Dinge. Ich glaube, ich werde in Zukunft über mein Leben anders urteilen. Ich wusste gar nicht, wie viel ich habe und nicht wirklich brauche.«
Ich atmete tief. Gabi hatte Recht. Lynn war nicht mehr Lynn. Nicht wegen ihrer Betrachtungsweise, auf die konnte man sogar stolz sein. Lynn benutzte Worte, die sie früher belächelt, mit Sicherheit aber niemals benutzt hätte. Areal. Imaginär. Farbnuancen. Eindrucksvollste Lektion.
Ob Sten und seine Arbeit bei der Zeitung schon abgefärbt hatten? Ich konnte und wollte nicht daran denken, in Gabis Wahnvorstellung einzustimmen. Lieber quälte ich mein müdes Haupt noch mit dem Rest:
»Zur Belohnung hatte Anns Mutter Ellen am Abend zum Braai eingeladen. Das ist wie bei uns ein Grillfest. Es ist Tradition, dass der jüngste Gast zu beweisen hat, ob er in der Lage ist, ein Feuer zu entfachen. Ich dachte, es kann von Vorteil sein, weil wir bald zu einer Safari aufbrechen wollen. Das Feuer gelang mir freilich nicht. Das Braai war gut. Es gab gegrilltes Ziegenfleisch, super zart, gebratenen Reis und weißes Brot, alles mit würzigem Dipp und knackigem Salat. Es war sooo lecker und wir haben viel gelacht.«
Ich habe dich lieb Mama, oder ihr gewohntes Ciao, schien sie vor lauter Euphorie vergessen zu haben.
Zuerst dachte ich, Lynn habe in der Tat eine Veränderung durchgemacht. Hier zu Hause würde sie eher kilometerweit rennen, als Reis zu essen. Der Mensch wird immer erst durch Erfahrung klug. An diesem Tag war mir gar nicht aufgefallen, dass Lynn 'ums Verrecken', wie sie es nannte, niemals irgendetwas von einer Ziege zu sich zu nehmen würde. Niemals.
Wie hat es Sten nur angestellt, sein Kind so schnell umzukrempeln. So dachte ich. Diese Mail und die passenden Bilder dazu datierten aus der Zeit vor sechs Wochen. Da war Lynn schon mehr als neun Monate im fremden Land. Das sollte genügen, um Vorurteile und Marotten einzudämmen.