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REINE ROUTINE

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Auf dem Militärflugplatz beim Jagdgeschwader 1, «Fritz Schmenkel», herrschte wie an jedem Flugtag die übliche Routine. So schien es jedenfalls. Seine Matka stand wieder, wie schon vor zwei Stunden, auf der Startbahn Richtung West. Der Start musste immer wieder verschoben werden. Wäre es Montag, gäbe es für Pierre Wachowiak einen verständlichen Grund für diese Verschiebungen. Nach einem freien Wochenende konnte es gut sein, dass es noch am leicht bezechten Kopf vom Techniker liegen könnte, wenn nicht alles rund lief. Wohl deshalb war montags nie Flugtag angesagt. Zugegeben, es war nicht leicht für die Jungs, die Maschine für jeden Start erneut vorzubereiten. Aber wer fragte den Piloten, ob es ihm leicht fiel, im Höhenschutzanzug und mit Druckhelm oder Atemmaske im Cockpit eingezwängt zu sein, kaum Luft zu bekommen und nicht zu wissen, wie lange das Drama dauern sollte. Schon wusste er nicht mehr, wie oft er abgebrochen hatte, wie oft die Maschine verrückt werden musste und wieder in Position gebracht worden war, ehe er das letzte Zeichen bekam.

Seine Blicke flogen über die Bugsektion seiner MiG-21 SPN und er konnte bei seinem Gedanken an Steffi ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Die für den Flug wichtigen Geräte befanden sich auf dem Instrumentenbrett genau vor ihm. Das Gewirr von Armaturen, Uhren und Schaltern musste einem Laien das Grauen einflößen. Für ihn war das Labyrinth überschaubar. Das war es, was er Steffi demnächst noch einmal vor Ort, und diesmal mit körperlichem Einsatz demonstrieren wollte. Sie musste seinen Stolz nicht teilen, aber er auch nicht ihre Angst.

Er erinnerte sich an einen Tag, der nach dem Manöver mit den Freunden mit einem Umtrunk endete. Er hatte seine russischen Genossen erheitert und seine deutschen erstaunt, weil letztere ihn für einen allzu ernsten, ja geradezu militärisch servilen Menschen hielten, der nie einen Befehl bezweifelte, der nie ein Wort darüber verlor, was er von den Dingen wie auch von der Sachkenntnis seiner Befehlshaber hielt.

An jenem Tag war er ausgezeichnet worden, wohl deshalb lag ihm das Herz viel leichter auf der Zunge. Im vollen Ernst hatte er den russischen Erbauer seiner Matka, seinem Weibchen — so nannte er jede der Maschinen, mit der er abhob — diesen Mikojan Gurewitsch, als seinen heimlichen Schwiegervater bezeichnet, weil der ihm eine so tolle Braut gezeugt habe.

Pierre Wachowiak war mit Leib und Seele Jagdflieger. Er liebte diese Delta-Mitteldecker, ihn freute die ständige Verbesserung der Technik, die den Einsatzbedingungen immer mehr gerecht wurde. Zu jener Zeit, als er noch unerfahren zum Geschwader 1 gekommen war, hatte das Militär die Notwendigkeit einer Kanonenbewaffnung für Luftkämpfe für erforderlich erachtet. Damals erhielt die MiG eine doppelläufige Grjasew-Schipunow. Diese Kanone arbeitete nach dem Gast-Prinzip, wobei sich die abwechselnd feuernden Läufe gegenseitig luden. Damit wurde eine hohe Feuergeschwindigkeit bei einfachem mechanischem Aufbau erreicht. Das zweite Serienmuster war dann schon eleganter: Eine kleine, kompakte 23-mm-Kanone, die zuerst in der GP9-Gondel als Außenlast mitgeführt und später fest eingebaut wurde.

Heute interessierten den dreiunddreißigjährigen Major weder die Kanone noch sein Schleudersitz oder alle anderen Feinheiten. Heute stand das neue Triebwerk auf dem Prüfstand. Dieses war eine der verschiedenen Versionen des legendären MiG-21-Antriebs mit höheren Schubkraft und Stabilität, besonders aber zusätzlichen Signalelemente zur Triebwerksüberwachung.

Vermutlich hatte sein Techniker an diesem Morgen seine Mühe genau damit. Man konnte — man musste — sich auf jeden Handgriff der Genossen verlassen können, und wenn nicht, dann wusste jeder um die Konsequenzen.

Er atmete tief durch, so tief es in der Enge seiner Druckkabine noch ging. Dann lenkte er seinen inneren Blick auf die besseren Dinge. Dazu gehörte auch das Radarsystem, das ihm seine Arbeit nicht abnahm, aber erleichterte. Ein reiner Schönwetterjäger hatte ist sie längst nicht mehr. Der Einbau des Radars versprach, die Gefechtseigenschaft zu verbessern. Die MiG-21 benötigte trotzdem noch Bodenleitung bis auf Reichweite des Radars und war nicht blindlandefähig, was er Steffi verschweigen musste.

Wozu hat man den Flugleiter im Tower sitzen?

Aber nicht, dass sie den neuen Schleudersitz KM-1 besaß. Was konnte ihm damit noch passieren?

Das Startsignal kam erneut, und diesmal riss das Dröhnen nicht wieder ab, das von den Leuten der Stadt als so lästig empfunden wurde. Er dagegen war jetzt in seinem Element. Er spürte, wie der Feuerstrahl der Laval-Düse die erforderliche Kraft zum Vortrieb gab, und er hatte im Blut, wie das Heck förmlich in Flammen stand. Die Startbahn flog unter ihm hindurch und die treue Matka hob ab wie ein Pfeil. Gleich hinter dem Flugplatz das Dorf Kolkwitz. Dort gab es im Wald versteckt, wovon kaum ein Zivilist etwas ahnte, seit acht Jahren die Bunker, die als Gefechtsstand der Ersten Luftverteidigungsdivision agierten. Dort wurde nicht nur sein Flug geführt, der gesamte südliche Luftraum der DDR wurde hier überwacht. Zu seinem kamen die Jagdfliegergeschwader von Holzdorf, Drewitz und Marxwalde. Aber auch Raketenregimenter und Funktechnische Bataillone wurden von dort geführt.

Während Pierre Wachowiak seinen Genossen im Gefechtsstand einen imaginären Gruß sendete, zogen unter ihm die braunen Rauchwolken der Kraftwerke von Vetschau und Lübbenau hinweg. Die Abgase konnten sich aus demselben Grund nicht ausbreiten oder auflösen, aus dem auch sein Start so lange verzögert worden und sein Techniker ins Schwitzen gekommen war. Dann stach er durch die dichte Wolkendecke der Sonne und der Freiheit entgegen, die wahrlich grenzenlos war — eine ebenso schöne wie gefährliche Illusion. Es wird nie eine grenzenlose Freiheit geben, solange die Menschheit mit ihrem angeborenen Egoismus, mit Fanatismus und Revanchismus besteht.

Während er Minuten später auf Südwest drehte, fielen ihm noch andere Worte aus der Politschulung ein, die eine grenzenlose Freiheit der Menschen verhinderten: Antagonismus. Kapitalismus. Anachronismus. Imperialismus. Extremismus. Radikalismus. Das alles gab es auf der Welt. Zum Glück lebte er in einem friedliebenden Land, in einem System, das nur im Frieden gedeihen konnte. Dafür lohnte sich jeder Kampf.

Mehr Zeit zum Denken nahm er sich nicht. Routiniert bediente er die Armaturen, aber zufrieden war er nicht.

Inzwischen war er über den Fliegerhorst Holzdorf hinweg, für den man neue Pläne hatte. Pläne, die weder ihm noch Steffi gefielen, die sich gottlob hinzogen, weil dem Argument der minutiösen Verteidigungsbreitschaft großer Städte keine vernünftige Alternative gegenüber stand. Warum hatte er Steffi nicht vor diese Alternative gestellt: naher Fluglärm oder endlose Weite in der Walachei? Bei ihren nächsten Sorgen musste er unbedingt daran denken. Und es wäre beileibe nicht erfunden.

Schon 1968 wurde das Gelände bei Holzdorf von der NVA als Standort für einen neuen Feldflugplatz ausgewählt. Es sollte der modernste Militärflugplatz in der DDR werden, denn er verfügte über drei ausgebaute Dezentralisierungsräume: Eine Asphaltpiste, parallel dazu die Graslandebahn und zusätzlich eine Notstartbahn. Aber kaum einen der Genossen zog es deshalb dorthin. Noch weniger die Ehefrauen und Kinder. Man würde dort leben wie die Verdammten der Taiga. Es gab keine Infrastruktur, die das Leben ausmachte. Auch Steffi hatte die Augen verdreht.

Es war mittlerweile gleich neun Uhr fünfundvierzig. Pierre Wachowiak steuerte seit ein paar Minuten wieder auf Nordost. Im Luftraum Drewitz würde er die Landung angehen und dann…?

Er wusste nicht, was der Dienst ihm noch abverlangte an diesem Tag, der noch jung war; gerade erst zehn Uhr. Deshalb steuerte er seine Maschine mit höchster Aufmerksamkeit auf alle Abnormitäten, bis der Befehl kam, den Anflug einzuleiten, weil er Probleme mit dem Fahrwerk gemeldet hatte.

Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte nicht sagen, was es war. Vermutlich war die Strömung zum Triebwerk erheblich gestört. Als später das Ausfahren vom Fahrwerk endlich geglückt war, verlor die Maschine rasant an Höhe. Er spürte, dass es zum Flammabriss und damit zum Triebwerksausfall gekommen war.

Wachowiak musste jetzt die Nerven behalten! Rechts unter ihm die Teiche bei Neuendorf mit dem schmalen Band vom Hammergraben, gleich dahinter das Wasserwerk.

Komm schon Matka. Komm schon! Nur noch ein kleines Stück! Da hinten, siehst du, da ist dein Zuhause…!

»Verdammt, ich kann nicht neu starten!«, schrie er laut. Kurz darauf gab sein Flugleitoffizier den kurzen Befehl: »Katapultieren!«

Im Kopf des jungen Piloten tobte ein Kampf. Nicht mit sich selbst, aber mit seinem militärischen Gehorsam. Die Maschine sank rasant. Sein Mund formte die Worte, die nicht für den Offizier in der Flugleitstelle gedacht waren: »Steffi, ich liebe dich.«

»Wie bitte? Wiederholen!« Und gleich darauf: »Katapultieren! Genosse Major, sind Sie taub? Katapultieren verdammt!«

Vor ihm der Kindergarten, auf dessen Spielplatz schon die vielen Sprösslinge als bunte Murmeln zu sehen waren. Keine zweihundert Meter weiter in Flugrichtung das riesige Textilkombinat mit Tausenden Arbeitern und Millionen Werten. Hier konnte sich kein vernünftiger Soldat katapultieren! Befehl hin oder her.

»Katapultieren! habe ich gesagt. Los Mann, das ist ein Befehl!« gellte die Stimme in sein Ohr.

Tut mir leid, Genosse! Diese vier Worte jagten still durch Pierre Wachowiaks Kopf, durch jede Ader, durch jede Nervenzelle. Beinahe trotzig versuchte er, das Unmögliche noch möglich zu machen. Verzweifelt zog er die Maschine mit aller Kraft noch einmal hoch, was antriebslos aussichtslos war.

Der Nordfriedhof! dachte er. Ein Friedhof ist das kleinere Übel. Vor der Friedhofsmauer, fast schon unter ihm, zog eine Straßenbahn ihre Linie. Nur eine Sekunde später: Wenigstens noch die Wohnblöcke! Sie standen quer zu seiner Flugbahn. Dann gab es einen Ruck — keine Chance mehr für irgendetwas…


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